Orientierungssatz
Urteil des EuGH als Urkunde iS von § 580 Nr 7 Buchst b ZPO - Verfahrenssprache des EuGH:
1. Veröffentlichungen eines Urteils des EuGH in der Entscheidungssammlung des EuGH in französischer und dänischer Sprache sind keine Urkunden iS des § 580 Nr 7b ZPO.
2. Das BSG ist an das auf Vorlage nach Art 177 EWGVtr ergangene in deutsch abgefaßte Urteil des EuGH gebunden. Übersetzungen der EuGH-Entscheidung in die übrigen Verfahrenssprachen der Europäischen Gemeinschaft dürfen, weil es sich hierbei nicht um die amtliche Verfahrenssprache des betreffenden Verfahrens handelt, nicht zugrunde gelegt werden, selbst wenn sich aus ihnen ein anderer Wortsinn ergeben könnte.
Normenkette
SGG § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 580 Nr. 7 Buchst. b; EuGHVfO Art. 29 § 2 Abs. 2, Art. 103; EWGVtr Art. 177
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt mit der Restitutionsklage die Wiederaufnahme des mit Urteil des Senats vom 29. Januar 1981 - 12 RK 2/79 - rechtskräftig abgeschlossenen Revisionsverfahrens. In diesem Urteil hatte der Senat in Bindung an die auf seinen Vorlagebeschluß vom 12. Oktober 1979 ergangene Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 8. Oktober 1980 - Rs 810/79 - entschieden, daß die vom Kläger beantragte Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für unbelegte Zeiten der Jahre 1956 und 1964 bis 1967 davon abhängig ist, daß erst für die zwar mit belgischen, nicht aber mit deutschen Beiträgen belegten späteren Zeiten Beiträge nachzuentrichten sind.
Gegen das ihm am 6. April 1981 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 15. Oktober 1981 - beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 19. Oktober 1981 - Restitutionsklage erhoben. Er macht als Wiederaufnahmegrund nach § 580 Nr 7 b der Zivilprozeßordnung (ZPO) geltend, durch Einsichtnahme in Band 7-1980 der Entscheidungssammlung des EuGH am 2. Oktober 1981 habe er davon Kenntnis erlangt, daß nach den französischen und dänischen Textfassungen des EuGH-Urteils vom 8. Oktober 1980 die streitigen Beiträge nicht entrichtet werden müssen, sondern können ("peut-etre oblige de verser des cotisations allemandes"; "kan forpligtes "). Nach Art 29 § 1 der Verfahrensordnung der Europäischen Gemeinschaften seien Verfahrenssprachen die dänische, deutsche, französische, irische, italienische und niederländische Sprache, die nach § 2 der Kläger auswählen könne. Eine zwingend vorgeschriebene Sprachenauswahl habe nicht stattgefunden. Er könne sich in der deutschen und französischen Sprache voll verständigen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Senats vom 29. Januar 1981 aufzuheben
und - sinngemäß - die Revision der Beklagten gegen
das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin
vom 17. Oktober 1978 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Restitutionsklage als unzulässig zu verwerfen.
Sie ist der Auffassung, der Kläger habe einen zulässigen Anfechtungsgrund nicht schlüssig behauptet. Bei den Entscheidungsveröffentlichungen in französischer und dänischer Sprache handele es sich nicht um "andere Urkunden" iS des § 580 Nr 7 b ZPO im Verhältnis zur deutschen Urteilsfassung, die Grundlage der BSG-Entscheidung vom 29. Januar 1981 geworden sei. Es seien lediglich andere Ausdrucksformen derselben Urkunde. Außerdem sei eine Urkunde iS der Vorschrift nicht "aufgefunden" worden. Im übrigen hält die Beklagte die Klage auch nicht für begründet, weil in dem Verfahren vor dem EuGH die deutsche Sprache Verfahrenssprache gewesen und diese verbindlich sei. Auch fehle es an der behaupteten Inhaltsabweichung zwischen den Fassungen. In der vom Kläger nur knapp zitierten französischen und dänischen Urteilsfassung werde offenbar lediglich mit anderen Worten gesagt, daß der deutsche Gesetzgeber für den Fall der Nachentrichtung gemäß Art 2 § 49 a Abs 2 AnVNG die Versicherten "verpflichten könne", für bereits mit Beiträgen des Mitgliedstaates belegte Zeiten deutsche Beiträge zu entrichten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung über die Restitutionsklage fällt in die Zuständigkeit des BSG, weil es mit dem angegriffenen Urteil in der Sache entschieden hat (vgl Meyer-Ladewig SGG § 179 Anm 8).
Die Restitutionsklage ist unstatthaft und deshalb zu verwerfen.
Die vom Kläger als Wiederaufnahmegrund geltend gemachten Veröffentlichungen des Urteils vom 8. Oktober 1980 - Rs 810/79 - in der Entscheidungssammlung des EuGH in französischer und dänischer Sprache sind keine Urkunden iS des § 580 Nr 7 b ZPO, weil sie nicht geeignet sind, zum Beweis von Tatsachen zu dienen, die in der Revisionsinstanz festzustellen gewesen wären und zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätten. Fehlt aber einer Urkunde die in der Vorschrift geforderte Eigenschaft, allein durch ihren urkundlichen Beweiswert eine günstigere Entscheidung herbeizuführen, ist der Rechtsbehelf der Restitutionsklage nicht statthaft (BSGE 29, 10).
Die vom Kläger ins Feld geführten Texte der EuGH-Entscheidung in französischer und dänischer Übersetzung hätten, selbst wenn ihnen ein urkundlicher Beweiswert über Tatsachen innewohnen würde, für das mit dem Urteil vom 29. Januar 1981 abgeschlossene Revisionsverfahren keine Bedeutung haben können. Die Vorabentscheidung des EuGH ist auf die Vorlage des Senats nach Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) ergangen. Gemäß Art 29 § 2 Abs 2 iVm Art 103 der Verfahrensordnung des EuGH vom 4. Dezember 1974 (vgl Sartorius II Internationale Verträge - Europarecht Nr 250) ist in Vorlagesachen die Sprache des innerstaatlichen Gerichts, welches den Gerichtshof anruft, Verfahrenssprache. Diese Regelung ist zwingend und steht der Annahme des Klägers, er habe unter den in Art 29 § 1 der Verfahrensordnung bezeichneten Verfahrenssprachen wählen können, entgegen. Demnach war der Senat in dem angegriffenen Urteil an das in der Verfahrenssprache Deutsch abgefaßte Urteil des EuGH gebunden, hätte also die darin im Wortsinn eindeutig zum Ausdruck gebrachte Auslegung der zur Vorabentscheidung gebrachten EWG-Vorschrift zu beachten. Die Übersetzungen der EuGH-Entscheidung in die übrigen Verfahrenssprachen der Europäischen Gemeinschaft durften, weil es sich hierbei nicht um die amtliche Verfahrenssprache des betreffenden Verfahrens handelt, nicht zugrunde gelegt werden, selbst wenn sich aus ihnen, wie der Kläger meint, ein anderer Wortsinn ergeben könnte. Ob dies überhaupt zutrifft - die Beklagte weist mit einleuchtenden Gründen darauf hin, daß es an der vom Kläger behaupteten Inhaltsabweichung zwischen der deutschen Fassung einerseits und der französischen und dänischen Fassung andererseits fehlen dürfte -, bedarf sonach aus formellen Gründen keiner weiteren Prüfung.
Da die Restitutionsklage aus den dargelegten Gründen unstatthaft ist, kann dahinstehen, zu welchem Zeitpunkt die französische und die dänische Textfassung veröffentlicht wurden und damit für den Kläger benutzbar waren, und ob hiernach die Restitutionsklage in der vorgeschriebenen Frist (§ 179 Abs 1 SGG iVm § 586 Abs 1 und 2 ZPO) erhoben worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen