Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 30.09.1991; Aktenzeichen L 2 J 159/90)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. September 1991 aufgehoben, soweit es sich auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bezieht.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU). Dabei geht es vornehmlich um die Bedeutung der tariflichen Einordnung der Postzusteller für den Berufsschutz der Klägerin.

Die im Jahre 1934 geborene Klägerin hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Seit 1964 war sie bei der Deutschen Bundespost als Kraftfahrerin, Postsortiererin und zuletzt seit Oktober 1979 als Zustellerin tätig. Im Jahre 1973 legte sie die Prüfung für den einfachen Postdienst ab und wurde danach in die Lohngruppe II des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost eingestuft. Mit Wirkung vom 31. März 1989 schied die Klägerin wegen Dienstunfähigkeit bei der Deutschen Bundespost aus und bezieht seit April 1989 Versorgungsrente.

Den im Dezember 1988 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Februar 1989 ab mit der Begründung, die Klägerin könne ihren bisherigen Beruf als Zustellerin weiterhin ausüben. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Speyer ≪SG≫ vom 10. Mai 1990, Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz ≪LSG≫ vom 30. September 1991). Das LSG ging davon aus, daß die Klägerin im Rahmen des zu § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschemas ungeachtet ihrer tariflichen Einstufung nicht als Facharbeiterin, sondern als angelernte Arbeiterin im oberen Bereich anzusehen sei. Die von ihr bei der Deutschen Bundespost ausgeübten Tätigkeiten – Kraftfahrerin, Briefkastenleererin, Briefsortiererin in der Feinverteilung und Zustellerin – erforderten nur eine kurze Einarbeitungszeit. Auch der Prüfung für den einfachen Postdienst sei nur ein Dienstlehrgang von einigen Wochen vorausgegangen. Die Klägerin habe nicht über annähernd gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie eine geprüfte Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb verfügt. Die berufliche Qualifikation habe Vorrang vor der tariflichen Einstufung. Dies gelte auch dann, wenn diese auf der Ausübung einer Beamtentätigkeit beruhe. Andernfalls werde für den Postdienst eine Sonderstellung gegenüber anderen Berufsgruppen dadurch geschaffen, daß nicht mehr zu prüfen sei, ob jemand einen Beruf wettbewerbsfähig ausüben könne. Die Klägerin sei in einer qualifizierten Berufstätigkeit nicht ebenso wettbewerbsfähig wie eine Facharbeiterin, weil sie nur über Spezialkenntnisse im Postbetrieb verfüge. Daran ändere auch nichts die Tatsache, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit als Postzusteller überwiegend geprüfte Postdienstleistungsfachkräfte oder diesen gleichgestellte Postjungboten mit nach zweieinhalbjähriger Ausbildung bestandener Abschlußprüfung beschäftigt seien. Verweisbar sei die Klägerin auf Tätigkeiten eines einfachen Pförtners sowie der Vergütungsgruppe X des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT). Als Facharbeiterin hingegen sei die Klägerin nicht auf zumutbare Tätigkeiten verweisbar, weil sie nicht über die entsprechenden Vorkenntnisse verfüge.

Gegen diese Rechtsausfassung wendet sich die Klägerin mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie trägt vor, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der in die Tarifgruppe II eingestufte Postzusteller als Facharbeiter zu behandeln (Hinweis auf das BSG; Urteil vom 11. September 1991 – 5 RJ 33/90 – mwN). Die Eigenschaft als Facharbeiter ergebe sich auch aus der Dauer und dem Umfang der Ausbildung. Diese sei in dem Amtsblatt des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen, Ausgabe AG 1239 A vom 9. März 1963 Nr 27 geregelt. Hiernach sei für Postfacharbeiter eine Ausbildung vorgesehen; die Prüfung beruhe nicht nur auf einem vorausgegangenen mehrwöchigen Lehrgang. Vielmehr gehe aus der Ausbildungsordnung hervor, daß Postbeamte des einfachen Dienstes aufgrund ihrer erforderlichen Ausbildungsdauer von zweieinhalb Jahren tariflich den Facharbeitern gleichzustellen seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Speyer vom 10. Mai 1990, das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 30. September 1991 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Januar 1989 Rente wegen BU zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 30. September 1991 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, Tarifverträge seien nur ein Hilfsmittel für die Bewertung einer Berufstätigkeit, sie könnten aber eines der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten qualifizierenden Merkmale nicht ersetzen. Entscheidend sei die tatsächliche ausgeübte Tätigkeit der Klägerin, die keine besondere berufliche Qualifikation erfordert habe.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Es fehlen für die Qualifizierung des von der Klägerin ausgeübten Berufs Feststellungen über die Bedeutung der tariflichen Einordnung des Postzustellers.

Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen BU richtet sich noch nach § 1246 RVO, da der Rentenantrag bereits im April 1990 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (§ 300 Abs 2 des Sozialgesetzbuches, Sechstes Buch ≪SGB VI≫; dazu BSG SozR 3-2200 § 1265 Nr 29 S 102).

Nach § 1246 Abs 2 RVO ist eine Versicherte berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen ist, umfaßt dabei alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihr unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Ob diese Voraussetzungen bei der Klägerin vorliegen, läßt sich noch nicht abschließend beurteilen; denn die Tatsachenfeststellungen im Berufungsurteil reichen hierfür nicht aus.

Die Rechtsprechung des BSG hat zur BU iS von § 1246 Abs 2 RVO die Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die jeweilige Einstufung in dieses Raster bestimmt die Berufstätigkeit, auf die die Versicherte verwiesen werden kann. Die von der Rechtsprechung hierfür zugrunde gelegten Berufsgruppen sind, ausgehend von der Bedeutung, die die Ausbildung für die Qualität eines Berufes hat, nach Leitberufen gebildet worden. Sie sind charakterisiert durch den Beruf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters. Hierbei handelt es sich aber lediglich um Leitberufe. Von allen Senaten des BSG, die für die Arbeiterrentenversicherung zuständig sind, ist immer wieder deutlich gemacht worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer dieser Gruppen nicht allein die Ausbildung, sondern die Qualifikationsanforderungen der verrichteten Arbeit insgesamt sind, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren ermittelte Wert der Arbeit für den Betrieb auf der Grundlage der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf das Gesamtbild an.

In diesem Rahmen hat das BSG tariflichen Regelungen unter zwei Gesichtspunkten Bedeutung beigemessen: Zum einen der abstrakten – „tarifvertraglichen” – Klassifizierung der Tätigkeit (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrages (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164), zum anderen der – „tariflichen” – Eingruppierung des Versicherten in eine bestimmte Tarifgruppe des jeweiligen Tarifvertrages durch den Arbeitgeber (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 22). In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden. Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen, in der Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht; denn die Tarifparteien als unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in bezug auf die in § 1246 Abs 2 RVO genannten Merkmale entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, in der auch Facharbeiter eingeordnet sind, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist. Von dem Grundsatz, daß von der tarifvertraglichen Einstufung einer Berufsart auszugehen ist, gelten jedoch Ausnahmen, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 101, 123; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 22).

Der tariflichen Zuordnung der einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt demgegenüber eine andere Bedeutung zu. Sie ist zwar ein Indiz dafür, daß die vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der sie bezahlt wird. Die Richtigkeit dieser Eingruppierung kann insoweit aber durchaus widerlegt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 77; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 22).

Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, aufgrund der im angefochtenen Urteil aufgeführten Gründe von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Soweit die Kritik daran ansetzt, daß die Einordnung des Berufs in einen nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrag und auch die tarifliche Eingruppierung des einzelnen Versicherten in § 1246 RVO nicht genannt seien, sich das BSG durch Anlehnung an die Tarifverträge auch seiner Prüfungspflicht entziehe und sie gesetzwidrig auf die Tarifvertragsparteien verlagere, wird der Grundgedanke dieser Rechtsprechung verkannt. Dieser liegt gerade darin, die Vielzahl der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten Merkmale ernster zu nehmen als dies bisher geschehen ist, indem neben der Dauer der Ausbildung auch deren Umfang und vor allem die Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit beachtet werden. Dies kann allerdings nicht in der Weise geschehen, daß in jedem Fall bisheriger Beruf und mögliche Verweisungstätigkeiten auf alle diese Merkmale untersucht und eine Gesamtbewertung vorgenommen wird. Eine so geartete Verwirklichung der Anforderungen des Gesetzes stößt wegen des erforderlichen Ermittlungsumfangs und der zwangsläufig begrenzten Vertrautheit von Versicherungsträgern und Richtern mit der Realität der einzelnen Berufsbereiche in der Praxis an die Grenzen der Handhabbarkeit. Bei dieser Situation ist es geboten, zunächst einmal von der Gesamtbewertung derjenigen auszugehen, die dem Arbeitsleben näherstehen. Allerdings ist es zutreffend, daß diesen Einschätzungen, weil sie möglicherweise auch von anderen, für § 1246 RVO nicht maßgeblichen Gesichtspunkten getragen sind, nicht uneingeschränkt gefolgt werden kann. Aus diesem Grunde ist auch in ständiger Rechtsprechung entschieden worden, daß die tarifliche Einordnung eines Berufs nicht maßgeblich ist, wenn sie durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist. Dabei wird in Kauf genommen, daß die Gründe der tarifvertraglichen Einordnung von Berufen nicht immer erkennbar oder zu ermitteln sind. Dies muß aber im Interesse der Praktikabilität hingenommen werden. Wegen der Vielfalt und Unüberschaubarkeit der beruflichen Anforderungen ist die Umsetzung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nur durch ein gröberes Raster zu erreichen. Eine Kritik dieser Rechtsprechung wäre dementsprechend nur dort überzeugend, wo sie unter Berücksichtigung der dargestellten Einschränkungen (qualitätsfremde Merkmale) und des Ziels dieser Rechtsprechung (Ausschöpfung des Gesetzeswortlauts/Praktikabilität) Ergebnisse aufzeigt, die mit § 1246 Abs 2 RVO nicht in Einklang stehen. Derartiges läßt sich aber der Begründung des LSG nicht entnehmen.

Die Richtigkeit dieses Konzepts wird gerade durch das Urteil des LSG eindrucksvoll belegt.

Das LSG untersucht im einzelnen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Klägerin in der Zeit ihrer Tätigkeit bei der Deutschen Bundespost erworben hat und leitet daraus die Wertigkeit des Berufs ab. Es setzt sich aber damit sowohl über die Tatsache hinweg, daß die Klägerin die Prüfung für den einfachen Postdienst bestanden hat, die sehr viel umfangreichere Kenntnisse voraussetzt, als sie die Klägerin nach Auffassung des LSG aufzuweisen hat. Es setzt sich auch (wie sich im folgenden erweisen wird, ohne zureichende Begründung) über die Auffassung der Tarifvertragsparteien hinweg, die – soweit man bisherigen Urteilen entnehmen kann – die Tätigkeit der Postzustellerin (Beamtendienstposten) mit Prüfung für den einfachen Postdienst einer Facharbeiterlohngruppe zuordnen.

Damit setzt das LSG seine Auffassung an die Stelle der sachnäheren Prüfer, die die Kenntnisse der Klägerin abgefragt haben, und an die Stelle der Tarifvertragsparteien, die sehr viel besser den Gesamtumfang der Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit überschauen können. Um ein derartiges Vorgehen zu rechtfertigen, bedürfte es sehr ins einzelne gehender Ermittlungen der Gesamtheit aller Anforderungen und Kenntnisse und der detaillierten Darlegung, wieso der Auffassung der Prüfer und der Tarifvertragsparteien hier nicht gefolgt werden kann.

Die erforderliche überzeugende Begründung läßt sich nicht in der Weise vornehmen, wie dies vom LSG im Rahmen der Kritik von Entscheidungen des 5. Senats des BSG geschehen ist. Das LSG zitiert selbst, daß der 5. Senat (SozR 2200 § 1246 Nr 122) die tarifliche Einstufung für plausibel gehalten hat „wegen der mit dieser Tätigkeit verbundenen Anforderungen in bezug auf Gewissenhaftigkeit,

Zuverlässigkeit, Verantwortung, physische Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit”. Es kritisiert diese Auffassung, indem es im Anschluß an eine Auskunft der Oberpostdirektion Stuttgart (zitiert im Urteil des BSG vom 3. April 1986 – 4a RJ 19/84 – S 11 des Abdrucks) die Auffassung vertritt, Zuverlässigkeit und Verantwortung, insbesondere auch bei Geld- und Wertsendungen, seien eher für angelernte Arbeiter typisch.

Hierin kommt eine offensichtliche Fehleinschätzung der im Arbeitsleben für die Wertigkeit einer Tätigkeit maßgebenden Faktoren zum Ausdruck.

Wenn bestimmte Tätigkeiten Ausdauer und Geschicklichkeit erfordern, so sind dies qualitative Arbeitsanforderungen, die uU erst erlernt werden müssen und in jedem Fall die Wertigkeit der Arbeit über andere Berufstätigkeiten hinausheben, in denen derartige Anforderungen nicht gestellt werden.

Das Merkmal „Verantwortung” unterscheidet sich allerdings dadurch von Kenntnissen und Fertigkeiten, daß es nicht als solches erlernbar ist, sondern den betreffenden Arbeitnehmer lediglich zwingt, seine Kräfte und Fähigkeiten mit besonderer Intensität und Sorgfalt einzusetzen und ihm erhöhte Aufmerksamkeit abfordert, damit Fehler ausgeschaltet werden. § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zwingt aber gerade durch die Gegenüberstellung von Ausbildung und Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit, auch den Wert des Berufs zu berücksichtigen, den er durch die Notwendigkeit besonderer Sorgfalt und Umsicht erhält. Dies entspricht einem in allen Bereichen der Lohn- und Gehaltsfindung anzutreffenden Denken, das in zahlreichen Tarifverträgen seinen Niederschlag gefunden hat (vgl zB die Anlagen zu §§ 22, 23 BAT und die dazu ergangene umfangreiche Rechtsprechung, ua BAG AP Nr 129 zu §§ 22, 23 BAT 1975 mwN; BAG AP Nr 3 zu § 1 TVG Tarifverträge-Brauereien; BAG AP Nr 17 zu § 1 TVG Tarifverträge Druckindustrie).

Indem sich das LSG an einer selbstverfertigten Wertskala orientiert, hat es unterlassen, den Weg zu gehen, den das BSG in seiner Rechtsprechung vorgegeben hat, nämlich zu prüfen, ob die Zweifel, die es hinsichtlich der Qualitätsbezogenheit der tarifvertraglichen Einstufung hat, insoweit begründet sind, als diese Einstufung auf qualitätsfremden Merkmalen beruht.

Es hat offenbar nicht erkannt, daß das BSG in allen bisherigen Urteilen die Beamtendiensttuer nur deshalb als Facharbeiter anerkennen konnte, weil entweder in den Tatsacheninstanzen kein Vortrag erfolgt war, der Anhalt für qualitätsfremde Merkmale ergab, oder jedenfalls keine Feststellungen dazu getroffen wurden und auch in der Revisionsinstanz fehlende Feststellungen nicht ordnungsgemäß gerügt worden waren.

Lediglich in einigen wenigen Fällen ist in der Revisionsinstanz behauptet worden, daß die höhere tarifliche Einstufung der Beamtendiensttuer (der Bundesbahn) lediglich deshalb erfolge, damit die Arbeiter auf Beamtendienstposten den gleichen Nettolohn bekämen wie die mit ihnen tätigen Beamten und Unfrieden vermieden werde (anders lediglich in der ebenfalls am 25. August 1993 entschiedenen Sache 13 RJ 25/92).

Wenn – wie das LSG meint – die bisherigen Entscheidungen zu Beamtendiensttuern der materiellen Wertigkeit des Berufs nicht entsprechen, ist dies lediglich ein prozessuales Problem entsprechender Tatsachenfeststellungen, nicht aber ein Problem unzutreffender Wertmaßstäbe oder Bewertungskonzepte.

Das weitere Argument, die Rechtsprechung führe zu widersprüchlichen Ergebnissen, weil im Rahmen eines geregelten Ausbildungsberufs Berufsschutz als Facharbeiter nur gewährt werde, wenn die Facharbeiterprüfung erfolgreich abgeschlossen worden ist oder der einzelne die beruflichen Anforderungen dieses Berufs voll erfüllt, während in anderen Berufen die tarifliche Einstufung genüge, überzeugt ebenfalls nicht. Allerdings ist zutreffend, daß insoweit keine einheitliche Beurteilung stattfindet. Bei geregelten Berufen wird zusätzlich bedacht, die Bedeutung abgeschlossener geregelter Fachausbildungen oder entsprechender Kenntnisse und Fähigkeiten nicht dadurch zu relativieren, daß auch anderen, deren Tätigkeit und Kenntnisse sich nur auf einen Teilbereich eines Ausbildungsberufs erstrecken, rentenrechtlich der gleiche Status zugebilligt wird.

In Bereichen, in denen es keine geregelte Ausbildung gibt, oder in denen die Absolvierung einer Ausbildung für die Ausübung eines verselbständigten Berufs (noch) unüblich ist oder nicht verlangt wird, fehlt indes die Möglichkeit einer derartigen Differenzierung. Wollte man jeweils alle Anforderungen ermitteln und zu den Anforderungen in geregelten Ausbildungsberufen in Beziehung setzen, so würde dies auf die gleichen Umsetzungsschwierigkeiten stoßen, wie sie oben für die Ermittlung und Bewertung eines Berufs unter allen in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO aufgeführten Kriterien (Gesamtbild) dargelegt wurden.

Inwieweit diesen unterschiedlichen Kriterien bei der Bewertung des bisherigen Berufs durch Unterschiede in der Abgrenzung des Verweisungsspektrums Rechnung getragen werden kann oder muß, ist eine andere Frage (ohne Differenzierung allerdings noch BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 17).

Nicht überzeugend ist schließlich die Auffassung des LSG, daß Dauer und Umfang der Ausbildung deshalb vorrangig berücksichtigt werden müßten, weil es andernfalls an einem hinreichenden Verweisungsspektrum fehle. Hier ist darauf hinzuweisen, daß auch unabhängig von der Anbindung an Tarifverträge das Verweisungsspektrum regelmäßig kleiner wird, wenn man neben der Dauer der Ausbildung den Umfang der Ausbildung und die Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit berücksichtigt. Je spezieller die erworbenen Kenntnisse werden, je stärker sie betriebsgebunden sind und je mehr es sich um Anforderungen handelt, die nicht unbedingt durch eine Ausbildung erworben werden müssen, desto geringer ist die Verwertbarkeit außerhalb der bisherigen Berufstätigkeit und die Zugangsmöglichkeit zu Berufen, die einen bestimmten Kenntnisstand voraussetzen. Abgesehen davon zeichnen sich auch einige Ausbildungsberufe durch ein geringes fachliches Verweisungsspektrum aus. Die Berücksichtigung der tariflichen Einstufung spiegelt diesen Zustand lediglich wider. Soweit neben der Dauer der Ausbildung besondere Verantwortung, Anforderungen an Präzision, Bewältigung von Problem-und Konfliktsituationen die Bewertung beeinflussen, bleibt nur ein kleines Verweisungsspektrum, wenn gerade diese zusätzlichen Qualifikationen aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr erbracht werden können oder es wenig Möglichkeiten gibt, mit dem Restleistungsvermögen eine verantwortungsvolle Tätigkeit zu übernehmen. Dies zeigt sich gerade auch beim Beruf des Kraftfahrers, bei dem offenbar die besondere Verantwortung für die Ladung und die übrigen Verkehrsteilnehmer wie auch die Fähigkeit zur Bewältigung von Problemsituationen bei Fernfahrten in die Bewertung einfließen. Es handelt sich dabei um Qualifikationen, die eng mit der Durchführung von Gütertransporten im Straßenverkehr verbunden sind und außerhalb dieses Bereichs nur wenige Zugangsmöglichkeiten für andere Berufe eröffnen.

Im übrigen ist in Frage zu stellen, ob die Einengung des Verweisungsfeldes in vielen Fällen auftritt, da durch die Orientierung auch der Verweisungstätigkeiten an ihrer tariflichen Einordnung (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 17) zugleich Verweisungsmöglichkeiten eröffnet werden, die keine umfangreiche Ausbildung voraussetzen.

Unterschiedliche Einordnungen derselben Berufsbezeichnung in verschiedene Tarifgruppen je nach Branche und regionalem Tarifvertrag (vgl hierzu BSG, Urteil vom 7. April 1992 – 8 RKn 2/90 –) sprechen ebenfalls nicht gegen die vorrangige Berücksichtigung der Einschätzung der Tarifparteien. Soweit es sich um branchenspezifische Unterschiede handelt, kann davon ausgegangen werden, daß sie auf unterschiedlichen Anforderungen an die Berufstätigkeit beruhen. Regionale Unterschiede sind allerdings im allgemeinen nicht aus Qualitätsunterschieden zu erklären. Der erkennende Senat ist indes der Auffassung, daß diese Nachteile im Interesse einer einheitlichen Handhabung hingenommen werden können, und insgesamt diese und andere Probleme, die das „Tarifmodell” mit sich bringt, weit hinter die Probleme zurücktreten, die sich in bezug auf Praktikabilität und Gefahr von Fehleinschätzungen ergeben, wenn versucht wird, die Bewertung des Gesamtbildes einer Tätigkeit allein aus richterlicher Sicht vorzunehmen. Dies zeigt gerade auch die geringe Bedeutung, die das LSG im Anschluß an Hofmann (aaO) der mit der Arbeit verbundenen Verantwortung beimißt.

Der Kritik des LSG ist auch insoweit nicht zu folgen, als es einen Vergleich der Kenntnisse und Fertigkeiten der Klägerin mit den Anforderungen des einschlägigen Lehrberufs „Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb” (Verordnung über die Berufsausbildung zur Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb vom 28. Februar 1979, BGBl I, 242) anstellt. Ein solcher Vergleich scheidet gerade bei verselbständigten Teilberufen (hierzu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 27), wie ihn das LSG hier annimmt, aus. Bei diesen ist davon auszugehen, daß die tarifliche Bewertung Spezialisierungen und spezielle Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit berücksichtigt. Jeweils die Anforderungen eines nahestehenden Ausbildungsberufs (Gesamtbild) und die Anforderungen des nahestehenden verselbständigten Teilberufs (ebenfalls Gesamtbild) zu ermitteln, würde zu dem schon oben dargelegten übermäßigen Ermittlungsaufwand und den beschriebenen Fehlerquellen führen. Selbst wenn der Weg über die tarifvertragliche Einstufung im Einzelfall nicht zu vollständig befriedigenden Ergebnissen führen sollte, muß dies im Interesse der Praktikabilität und auch im Interesse der Einheitlichkeit einer von unterschiedlichen Beurteilungen der Gerichte unabhängigen Bewertung hingenommen werden.

Ob es sich allerdings bei dem Beruf des Postzustellers um einen verselbständigten Teilberuf handelt, kann nicht allein aus der Zahl von Beschäftigten verschiedener Qualifikation geschlossen werden, wie dies das LSG tut. Das mag jedoch hier dahinstehen, weil auch aus einem anderen Grund der Vergleich mit einer Dienstleistungsfachkraft nicht in Betracht kommt. Dieser Beruf wurde erst 1979 geregelt, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Klägerin bereits ihre Prüfung für den einfachen Postdienst abgelegt und langjährig in ihrem Beruf tätig war. Solche älteren, schon längere Zeit im Berufsleben stehenden Arbeitnehmer können nicht bei Regelung einer neuen Ausbildungsform an diesen neuen Anforderungen gemessen werden, weil nicht zu erwarten ist, daß sie im vorgerückten Alter die Ausbildung noch nachholen oder ihre Kenntnisse ergänzen, um den Ausbildungsstand der neuen Berufsordnung zu erreichen. Aus diesem Grund hat der erkennende Senat (SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 S 87) ausgeführt: „Bei dem inzwischen gebildeten Facharbeiterberuf „Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb” (Ausbildungsdauer mehr als zwei Jahre) begründet der erfolgreiche Abschluß und die Beschäftigung in dem betreffenden Berufsfeld allein schon Berufsschutz als Facharbeiter. Ebenso genießen Versicherte, die, ohne eine ordnungsgemäße Ausbildung durchlaufen zu haben, in vollem Umfang über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines entsprechenden Facharbeiters mit ordnungsgemäßem Berufsabschluß verfügen, den Berufsschutz als Facharbeiter, wenn sie (zu Recht) in eine Facharbeitergruppe des Tarifvertrages eingruppiert waren. … Aber auch Arbeitnehmer, die einen anerkannten sonstigen Ausbildungsberuf ausüben, wie zB Arbeitnehmer im Postdienst, die die Prüfung für den einfachen Postdienst nach der Ausbildungsregelung von 1954 bestanden haben – Ausbildungsdauer unter zwei Jahren (und selbst Arbeitnehmer, die eine geregelte Ausbildung nicht durchlaufen haben) –, können als Facharbeiter Berufsschutz genießen. Voraussetzung hierfür ist, daß der von ihnen ausgeübte Beruf als solcher wegen seiner qualitativen Wertigkeit in einer Facharbeitergruppe des Tarifvertrages genannt und der einzelne Arbeitnehmer (zu Recht) nach dieser Gruppe entlohnt wird.”

Ausgehend von diesen Überlegungen müssen für die Entscheidung des vorliegenden Falles folgende Prüfungsstufen durchlaufen werden:

Das LSG wird zunächst feststellen müssen, welche Fassung des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin vor ihrem Ausscheiden anzuwenden war.

Alsdann wird zu prüfen sein, ob die Klägerin nach einer Facharbeiterlohngruppe entlohnt wurde und die Voraussetzungen hierfür erfüllte, wobei der von ihr abgelegten Prüfung für den einfachen Postdienst Bedeutung zukommen könnte. Schließlich wird das LSG seinen Zweifeln nachgehen müssen, ob die Einstufung von Beamtendiensttuern auch bei der Bundespost möglicherweise auf qualitätsfremden Merkmalen beruht, wie dies für die Bundesbahn behauptet wird.

Da das BSG die noch erforderlichen Feststellungen nicht nachholen kann (§ 163 SGG), war das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen.

Sollten diese Feststellungen dazu führen, daß die Klägerin als Facharbeiterin anzusehen ist, wird das LSG unter Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beklagten im einzelnen ermitteln müssen, inwieweit die Klägerin in anderen Bereichen des Postdienstes oder sonstiger öffentlicher Dienststellen aufgrund ihrer bei der Post erworbenen Fähigkeiten noch in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit einsetzbar ist. Diese ist im einzelnen genau zu bezeichnen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173218

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge