Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. fiktive Bemessung unter Berücksichtigung der Bezugsgröße West. Vermittlungsbemühung im Bundesgebiet. Anspruchsentstehung. Revisionsverfahren. Änderungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
Bei fiktiver Bemessung des Arbeitslosengelds aufgrund Fehlens von ausreichenden Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum ist nicht die Bezugsgröße, die für den Ausbildungs- oder Wohnort galt (Bezugsgröße Ost), sondern die Bezugsgröße West zugrunde zu legen (Anschluss an und Fortführung von BSG vom 18.5.2010 - B 7 AL 49/08 R = SozR 4-4300 § 122 Nr 8).
Orientierungssatz
1. Das fiktive Arbeitsentgelt wird ausgehend von den Verhältnissen bestimmt, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vorliegen.
2. Zur abschließenden Erledigung des Rechtsstreits auch bezüglich eines angefochtenen Änderungsbescheides, wenn dem Klagebegehren durch die Entscheidung des Revisionsgerichts zum ersten Verwaltungsakt in vollem Umfange gem § 171 Abs 2 SGG genügt wird.
Normenkette
SGB 3 § 132 Abs. 1 Fassung: 2003-12-23, Abs. 2 S. 1 Fassung: 2003-12-23, S. 2 Nr. 1 Fassung: 2003-12-23; SGB 3 § 327 Abs. 1; SGB 3 § 408 Nr. 1; SGB 3 § 121 Abs. 4; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29. April 2009 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Arbeitslosengeld dem Kläger auch für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 16. März 2008 nach einem Bemessungsentgelt von 98,00 Euro (täglich) zu zahlen ist.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Revisionsverfahren (nur) noch darüber, ob dem Kläger für die Zeit vom 1.10.2007 bis 16.3.2008 höheres Arbeitslosengeld (Alg) unter Zugrundelegung der Bezugsgröße West zusteht.
Der 1980 geborene Kläger (ledig, keine Kinder, Lohnsteuerklasse I) absolvierte in der Zeit von August 2001 bis Juni 2004 eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Vom 1.10.2004 bis 30.9.2007 studierte er an der Berufsakademie G. Das Studium schloss er als "Diplom-Betriebswirt (Berufsakademie) - Dipl.-Betriebswirt (BA)" in der Studienrichtung Bauwirtschaft ab. Während seines Studiums absolvierte er in G. eine betriebliche Berufsausbildung, für die keine Ausbildungsvergütung vereinbart und auch tatsächlich nicht gezahlt wurde. Vielmehr wurden lediglich während der gesamten Dauer des Ausbildungsvertrags für den Kläger Beiträge zur Arbeitslosenversicherung unter Zugrundelegung eines Arbeitsentgelts in Höhe von 1 % der Bezugsgröße (vgl § 342 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ≪SGB III≫) entrichtet.
Auf seinen Antrag vom 27.9.2007 gewährte die Beklagte dem Kläger Alg ab 1.10.2007 bis 16.3.2008 unter Zugrundelegung eines Bemessungsentgelts von 22,59 Euro (täglich) entsprechend der tariflichen Ausbildungsvergütung vergleichbarer Auszubildender (drittes Ausbildungsjahr, West). Der tägliche Leistungssatz belief sich auf 10,71 Euro (Bescheid vom 8.10.2007; Widerspruchsbescheid vom 30.10.2007).
Das Sozialgericht (SG) hat mit Gerichtsbescheid vom 14.10.2008 die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Alg auf der Grundlage einer fiktiven Bemessung nach § 132 SGB III zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29.4.2009 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlussberufung des Klägers und seine weitergehende Klage die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide (einschließlich des Änderungsbescheids vom 28.2.2008) verurteilt, dem Kläger bei Zuordnung zur Qualifikationsgruppe I Alg vom 1.10.2007 bis 16.3.2008 auf der Grundlage einer fiktiven Bemessung nach § 132 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III und unter Heranziehung der Bezugsgröße West zu gewähren. Zur maßgeblichen Bezugsgröße hat das LSG ausgeführt, § 408 SGB III sei für den Kläger nicht einschlägig. Laut dieser Vorschrift sei zwar die Bezugsgröße für das in Art 3 des Einigungsvertrags genannte Gebiet (Beitrittsgebiet) maßgebend, wenn der Beschäftigungsort im Beitrittsgebiet liege, soweit Vorschriften dieses Gesetzbuchs (des SGB III) bei Entgelten an die Bezugsgröße anknüpfen. § 408 Nr 1 SGB III stelle jedoch erkennbar auf das Entgelt aus einer ausgeübten Beschäftigung ab, was durch die Bezugnahme auf den konkreten Beschäftigungsort (§ 9 Sozialgesetzbuch Viertes Buch ≪SGB IV≫) deutlich werde. Die Vorschrift sei folglich bei der vorliegenden Fallgestaltung einer fiktiven Bemessung weder direkt noch analog anwendbar, zumal bei einem Arbeitslosen, der keinerlei Einschränkungen seiner Verfügbarkeit geltend gemacht habe. Dem Wohnsitz eines Arbeitslosen könne keine zwangsläufige Bedeutung zugemessen werden, wenn er sich für Vermittlungsbemühungen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung stelle. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus § 121 Abs 4 SGB III. Diese Vorschrift regele nur, welche Tagespendelstrecke einem Arbeitslosen zumutbar sei. Dies schließe nicht aus, dass er eine Arbeit außerhalb des zumutbaren Tagespendelbereichs aufnehmen dürfe. Dem Kläger stehe daher für die Zeit vom 1.10. bis 31.12.2007 Alg unter Zugrundelegung eines täglichen Arbeitsentgelts in Höhe von (einem Dreihundertstel der Bezugsgröße West ≪29 400,00 Euro≫ =) 98,00 Euro und für die Zeit vom 1.1. bis 16.3.2008 Alg unter Zugrundelegung eines täglichen Arbeitsentgelts in Höhe von (einem Dreihundertstel der Bezugsgröße West ≪29 829,00 Euro≫ =) 99,40 Euro zu.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte - nachdem sie mit Änderungsbescheid vom 29.4.2011 dem Kläger für die Zeit vom 1.10.2007 bis 16.3.2008 Alg auf der Grundlage einer fiktiven Bemessung nach § 132 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III unter Heranziehung der Bezugsgröße Ost gewährt und insoweit ihre Revision zurückgenommen hat - nur noch eine Verletzung von § 408 Nr 1 SGB III. Diese Vorschrift sei hier anzuwenden. Der Kläger habe sich zwar der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt zur Verfügung gestellt. Er habe jedoch im Beitrittsgebiet eine Ausbildung absolviert und vor Beginn der Ausbildung seinen Beschäftigungsort ausschließlich im Beitrittsgebiet gehabt. Trotz der uneingeschränkten Vermittelbarkeit des Klägers seien auch die Vermittlungsbemühungen der zuständigen Agentur gemäß § 121 Abs 4 Satz 1 bis 3 SGB III in erster Linie auf Beschäftigungen im Tagespendelbereich zu erstrecken. Insoweit sei auch auf § 121 Abs 4 Satz 4 SGB III zu verweisen, wonach ein Umzug zur Aufnahme einer Beschäftigung außerhalb des zumutbaren Pendelbereichs (nur dann) zumutbar sei, wenn nicht zu erwarten sei, dass der Arbeitslose innerhalb der ersten drei Monate der Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung innerhalb des zumutbaren Pendelbereichs aufnehmen werde. Um eine Benachteiligung von Arbeitslosen, deren Entgelt nach §§ 130, 131 SGB III ermittelt werde, gegenüber Arbeitslosen, deren Entgelt fiktiv nach § 132 SGB III bemessen werde, zu vermeiden, müsse auf ein objektives Kriterium abgestellt werden. Es könne nicht auf die subjektive Arbeitsbereitschaft und die bloße Erklärung des Arbeitslosen, für Beschäftigungen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung zu stehen, abgestellt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29.4.2009 insoweit abzuändern, als damit auf die Anschlussberufung des Klägers und seine weitergehende Klage die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 8.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2007 und des Bescheids vom 28.10.2008 verurteilt worden ist, dem Kläger Alg vom 1.10.2007 bis 16.3.2008 unter Heranziehung der Bezugsgröße West zu gewähren.
Der im Revisionsverfahren nicht vertretene Kläger hat keinen Antrag gestellt und sich im Revisionsverfahren nicht zur Sache geäußert.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat nur hinsichtlich der aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen Maßgabe Erfolg (hierzu unter 2c). Der Kläger hat Anspruch auf höheres Alg, und zwar unter Zugrundelegung eines Bemessungsentgelts von 98,00 Euro.
1. Von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind der Bescheid vom 8.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2007 und der Änderungsbescheid vom 28.2.2008 (zum Änderungsbescheid vom 29.4.2011 unter 3). Die Beklagte hat ihre Revision ausdrücklich insoweit zurückgenommen, als sie vom LSG zur Gewährung höheren Alg bei Zuordnung zur Qualifikationsgruppe 1 auf der Grundlage einer fiktiven Bemessung nach § 132 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III verurteilt worden ist. Damit bleibt weiterhin Streitgegenstand die Höhe der Leistung, wenn auch zwischen den Beteiligten nur noch die Frage streitig ist, ob der Bemessung des Alg die Bezugsgröße Ost oder West zugrunde zu legen ist (zur Unzulässigkeit einer reinen Elementenfeststellung vgl BSG Urteil vom 18.5.2010 - B 7 AL 49/08 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 8 RdNr 9).
2. Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg (§§ 117, 118 SGB III), ohne deren Vorliegen auch eine Klage auf höhere Leistung keinen Erfolg hätte (stRspr; vgl zuletzt Urteile des Senats vom 6.5.2009 - B 11 AL 7/08 R - SozR 4-4300 § 130 Nr 5 RdNr 13 und vom 3.12.2009 - B 11 AL 42/08 R - BSGE 105, 94 ff = demnächst in SozR 4-4300 § 132 Nr 4 RdNr 10), hat das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt (§ 163 SGG), dass sich der Kläger am 27.9.2007 mit Wirkung zum 1.10.2007 arbeitslos gemeldet hat (§ 118 Abs 1 Nr 2, § 122 Abs 1 SGB III). Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger ab 1.10.2007 beschäftigungslos und hat sich uneingeschränkt der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt, sodass er arbeitslos iS der § 118 Abs 1 Nr 1, § 119 ff SGB III war. Den Feststellungen des LSG ist ferner zu entnehmen, dass der Kläger die Anwartschaftszeit erfüllt hatte (§ 118 Abs 1 Nr 3, §§ 123, 124 SGB III).
Zur Höhe des Anspruchs hat das LSG zu Recht entschieden, dass dem Kläger für die Zeit ab 1.10.2007 ein Anspruch auf Alg unter Zugrundelegung eines täglichen Arbeitsentgelts in Höhe von (einem Dreihundertstel der Bezugsgröße West ≪29 400,00 Euro≫ =) 98,00 Euro zusteht. Diese im Jahr der Anspruchsentstehung 2007 maßgebliche Bezugsgröße bleibt allerdings - entgegen der Rechtsansicht des LSG - nicht nur für die Zeit bis 31.12.2007 maßgebend, sondern auch für die weitere Dauer des Leistungsanspruchs bis 16.3.2008.
a) Gemäß § 132 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III ist bei der Qualifikationsgruppe 1 ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel der Bezugsgröße zugrunde zu legen. Die dabei maßgebliche Bezugsgröße West für das Jahr 2007 beträgt 29 400,00 Euro (vgl § 2 Abs 1 Sozialversicherungs-Rechengrößengesetz 2007 vom 2.12.2006, BGBl I 2724, 2746); hieraus errechnet sich für die streitige Zeit ab 1.10.2007 bis 16.3.2008 der Betrag von 98,00 Euro (= ein Dreihundertstel der Bezugsgröße West). Entgegen der Rechtsansicht des LSG ist dieser Wert der Bezugsgröße West für den gesamten Zeitraum zugrunde zu legen (dazu unter c).
b) Die in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten vorgenommene Bemessung nach der niedrigeren Bezugsgröße Ost ist rechtswidrig. Sie lässt sich nicht auf § 408 Nr 1 SGB III iVm § 132 SGB III stützen.
aa) Nach § 408 Nr 1 SGB III ist, soweit Vorschriften dieses Buches bei Entgelten oder Beitragsbemessungsgrundlagen an die Bezugsgröße anknüpfen, die Bezugsgröße für das in Art 3 des Einigungsvertrags genannte Gebiet (Beitrittsgebiet) maßgebend, wenn der Beschäftigungsort im Beitrittsgebiet liegt.
Wie bereits der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seiner Entscheidung vom 18.5.2010 (B 7 AL 49/08 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 8, RdNr 19, mwN) ausgeführt hat, stellt § 408 Nr 1 SGB III erkennbar auf das Entgelt aus einer ausgeübten Beschäftigung ab, was durch die Bezugnahme auf den konkreten Beschäftigungsort (§ 9 SGB IV) deutlich wird. Wie der 7. Senat in der genannten Entscheidung weiter ausgeführt hat, geht es bei der Anwendung des § 132 SGB III jedoch nicht um das früher erzielte Entgelt, sondern darum, auf welche Tätigkeit die Beklagte ihre Vermittlungsbemühungen zu erstrecken hat. Der 7. Senat hat daraus gefolgert, dass die Ausgangslage beider Vorschriften nicht identisch sei und sich damit auch eine generelle analoge Anwendung verbiete. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung an.
bb) Soweit die Beklagte dieser Rechtsprechung entgegenhält, der Kläger habe nicht nur seine Ausbildung in den neuen Bundesländern (im Beitrittsgebiet) zurückgelegt, sondern im Zeitpunkt der Alg-Antragstellung seinen Wohnsitz im Beitrittsgebiet gehabt, und demzufolge sei die zuständige Agentur (vgl § 327 Abs 1 SGB III) - trotz der uneingeschränkten Vermittlungsbereitschaft des Klägers - gemäß § 121 Abs 4 SGB III zunächst zu einer wohnortnahen Vermittlung, also zur Vermittlung im Tagespendelbereich um seinen bisherigen Wohnsitz, gehalten gewesen, vermag diese Argumentation nicht zu überzeugen.
Nach den von der Beklagten nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen und daher gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG hatte sich der (ledige und kinderlose) Kläger der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt zur Verfügung gestellt. Sein zukünftiger "Beschäftigungsort" war also - ebenso wie bei der vom 7. Senat des BSG entschiedenen Fallgestaltung (aaO) - nicht auf das Beitrittsgebiet beschränkt. Demzufolge sind alle Beschäftigungen zu berücksichtigen, die ein nicht ortsgebundener Arbeitsloser auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im gesamten Bundesgebiet verrichten kann (ebenso Coseriu in Mutschler/Bartz/Schmidt-De Caluwe, SGB III, 3. Aufl 2008, § 132 RdNr 29; Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, § 408 RdNr 30, Stand Einzelkommentierung Dezember 2010; Rolfs in Gagel, SGB II/SGB III, § 132 SGB III RdNr 13, Stand Einzelkommentierung März 2011).
§ 327 Abs 1 SGB III, wonach für Leistungen an Arbeitnehmer die Agentur für Arbeit zuständig ist, in deren Bezirk der Arbeitnehmer bei Eintritt der leistungsbegründenden Tatbestände seinen Wohnsitz hat, regelt (nur) die örtliche Zuständigkeit im Bereich des Leistungsrechts (vgl ua Stratmann in Niesel/Brandt, SGB III, 5. Aufl 2010, § 327 RdNr 2, 5 ff; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, K § 327 RdNr 76 ff, 88 ff, Stand Einzelkommentierung Juli 2007; Striebinger in Gagel, SGB II/SGB III, § 327 SGB III RdNr 9 ff, Stand Einzelkommentierung Juli 2009). Demzufolge hat der Kläger; der im Zeitpunkt der Antragstellung seinen Wohnsitz in G. hatte, bei der Agentur für Arbeit G. seinen Leistungsantrag gestellt. Diese örtliche Zuständigkeitsregelung ist indes nicht geeignet, als objektives Kriterium für eine Begrenzung der Verfügbarkeit eines Leistungsempfängers zu dienen. Auch die von der Beklagten geltend gemachte (angebliche) unauflösbare Diskrepanz zwischen den Regelungsgehalten des § 121 Abs 4 SGB III und den Regelungen zur fiktiven Bemessung des Alg - im Falle einer Nichtanwendbarkeit des § 408 Nr 1 SGB III - ist nicht ersichtlich.
§ 121 Abs 4 SGB III regelt nur - worauf bereits das LSG zu Recht hingewiesen hat -, welche Tagespendelstrecke einem Arbeitslosen zumutbar ist. Nach § 121 Abs 1 SGB III sind einem Arbeitslosen alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen. In den Absätzen 2 bis 4 des § 121 SGB III sind die allgemeinen Gründe (Abs 2), die personenbezogenen Gründe hinsichtlich des Arbeitsentgelts (Abs 3) und die personenbezogenen Gründe hinsichtlich Pendelzeiten (Abs 4) näher erläutert. Die in § 121 SGB III enthaltenen Durchbrechungen des Grundsatzes der Zumutbarkeit sind also Schutzvorschriften zugunsten des Arbeitslosen. Sie schließen keineswegs aus, dass er auch innerhalb der ersten drei Monate der Arbeitslosigkeit eine Arbeit außerhalb des zumutbaren Tagespendelbereichs aufnehmen darf. Hat sich also, wie hier vom LSG festgestellt, der Kläger zu Beginn seiner Arbeitslosigkeit für Vermittlungsbemühungen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung gestellt, bestehen gerade auch vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensumstände des Klägers (ledig, kinderlos, Arbeitsaufnahme am 17.3.2008 in B.) keine Anhaltspunkte, die Schlussfolgerung des LSG, der Kläger sei uneingeschränkt vermittelbar gewesen, revisionsrechtlich zu beanstanden. Es bedarf deshalb auch keiner weiteren Vertiefung, dass die Beklagte in ihrem Ausgangsbescheid vom 8.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2007 zunächst selbst das tarifliche Entgelt im dritten Ausbildungsjahr "West" zugrunde gelegt hat.
cc) Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten führt die Nichtanwendbarkeit es § 408 Nr 1 SGB III bei Arbeitslosen, deren Anspruch auf Alg nach einem fiktiven Arbeitsentgelt gemäß § 132 SGB III bestimmt wird, nicht zu einer sachwidrigen Benachteiligung von Arbeitslosen, deren Entgelt nach §§ 130, 131 SGB III ermittelt wird. Denn es handelt sich insoweit um unterschiedliche Sachverhaltsgestaltungen und Personengruppen. Während bei Arbeitslosen, deren Entgelt nach den §§ 130, 131 SGB III ermittelt wird, an eine zuletzt ausgeübte Beschäftigung angeknüpft werden kann, ist dies bei der fiktiven Bemessung nach § 132 SGB III gerade nicht der Fall; deshalb kann auch an keinen (zukünftigen) Beschäftigungsort angeknüpft werden (vgl 7. Senat, Urteil vom 18.5.2010, aaO). Aus Sicht des erkennenden Senats bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots nach Art 3 Abs 1 Grundgesetz. Im Gegenteil würden, wollte man der Rechtsansicht der Beklagten folgen, die Schutzvorschriften des § 121 Abs 3 und 4 SGB III in ihr Gegenteil verkehrt.
c) Die Revision der Beklagten hat jedoch insoweit Erfolg, als das Alg des Klägers für die Zeit vom 1.1. bis 16.3.2008 - anders als vom LSG in den Entscheidungsgründen (die insoweit als Ergänzung seines Entscheidungssatzes zu verstehen sind) ausgeführt - nach dem für das Jahr 2007 maßgebenden Wert der Bezugsgröße West zu berechnen ist.
Das fiktive Arbeitsentgelt wird ausgehend von den Verhältnissen bestimmt, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Alg vorliegen. Dies hat das BSG in einer Entscheidung vom 23.11.1988 (BSGE 64, 174, 175 = SozR 4100 § 112 Nr 42 S 198) zur früheren Regelung des § 112 Abs 7 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bereits klargestellt. Daran hat sich nach Inkrafttreten des SGB III und mit der ab 1.1.2005 eingeführten Vorschrift des § 132 SGB III durch das Gesetz vom 23.12.2003 (BGBl I 2848) insoweit nichts geändert (vgl ua Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 132 RdNr 30, Stand Einzelkommentierung Januar 2006). In gleicher Weise wie das reguläre Bemessungsentgelt nach § 131 SGB III bleibt das fiktive Arbeitsentgelt nach § 132 SGB III bis zur Erschöpfung des Anspruchs für die Bemessung des Alg maßgebend (ebenso Behrend in Eicher/Schlegel, aaO; Marschner in Gemeinschafts-Komm, SGB III, § 132 RdNr 11, Stand Einzelkommentierung November 2010). Entgegen der Rechtsansicht des LSG ist also der Wert der Bezugsgröße West 2007 für den gesamten streitigen Zeitraum und nicht nur für die Zeit bis zum 31.12.2007 zugrunde zu legen. Der Entscheidungssatz des Berufungsurteils war daher entsprechend klarzustellen.
3. Auf dieser Grundlage ist der Rechtsstreit abschließend erledigt, ohne dass der Änderungsbescheid vom 29.4.2011 nach § 171 Abs 2 SGG "als mit der Klage beim Sozialgericht angefochten" gälte. Denn insoweit ist der in der genannten Vorschrift geregelte Ausnahmetatbestand verwirklicht, dass "dem Klagebegehren durch die Entscheidung des Revisionsgerichts zum ersten Verwaltungsakt in vollem Umfange genügt wird". Die Rechtshängigkeit beim SG, die mit Bekanntgabe des Bescheids vom 29.4.2011 eingesetzt hat, wird durch die vorliegende Entscheidung wieder beseitigt (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 171 RdNr 4; Lüdtke in Nomos-Komm, SGG, 3. Aufl 2009, § 171 RdNr 5; Böttiger in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 171 RdNr 14).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2862436 |
FA 2012, 127 |
Breith. 2012, 589 |
info-also 2012, 26 |