Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung – häusliche Krankenpflege – Vergütung – Auslaufen einer Vergütungsvereinbarung – kein Neuabschluß – Mentalvorbehalt – ungerechtfertigte Bereicherung – protestatio facto contraria
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Vergütung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege, wenn es nach Auslaufen einer Vergütungsvereinbarung zwischen Leistungserbringer und Krankenkasse nicht zu einem Neuabschluß gekommen ist.
Stand: 11. März 2002
Normenkette
SGB V § 132a Abs. 2 Sätze 1-2, § 70 Abs. 1; BGB §§ 315-316, 812 Abs. 1, § 818 Abs. 2, § 818
Beteiligte
NOVITAS Vereinigte Betriebskrankenkasse |
den Bundesverband der Betriebskrankenkassen |
Verfahrensgang
SG Magdeburg (Entscheidung vom 14.09.2000; Aktenzeichen S 16 KR 105/99) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. September 2000 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beklagten die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin ist die Inhaberin eines Kranken- und Pflegedienstes in B. bei H. Sie gehört dem Landesverband Hauskrankenpflege Sachsen-Anhalt eV an. Dieser hatte mit dem Betriebskrankenkassen (BKK) – Landesverband Ost, dem wiederum die beklagte BKK angehört, mit Wirkung vom 1. Januar 1996 einen Rahmenvertrag über die Erbringung von häuslicher Krankenpflege geschlossen, dem die Klägerin beigetreten war. Der Vertrag sollte – bei sechsmonatiger Kündigungsfrist zum Jahresende – auf unbestimmte Zeit, die als Anlage vereinbarte Gebührenvereinbarung bis 30. Juni 1997 gelten; bei Kündigung sollte der Vertrag bis zum Inkrafttreten einer neuen Vereinbarung weitergelten, längstens jedoch für sechs Monate (§ 13 Nr 1, 2, 5 des Vertrages). Auf eine Gebührenvereinbarung für die Zeit nach dem 30. Juni 1997 konnten sich die Vertragsparteien nicht mehr einigen. Die Beklagte kündigte daher den Vertrag am 5. Juni 1998 zum 31. Dezember 1998, bezahlte aber die von der Klägerin laufend erbrachten und nach den bisherigen Sätzen in Rechnung gestellten Leistungen noch bis 28. Februar 1999.
Für die Zeit ab 1. März 1999 genehmigte die Beklagte zwar weiterhin die für fünf ihrer Versicherten erbrachte häusliche Krankenpflege durch Vermerk auf der Rückseite der ärztlichen Verordnung, kürzte jedoch die auf der bisherigen Basis erstellten Rechnungen der Klägerin auf diejenigen Beträge, die die AOK Sachsen-Anhalt den Inhabern von Kranken- und Pflegediensten gemäß einem mit Verbänden von Leistungserbringern, ua dem Verband der Klägerin, geschlossenen Rahmenvertrag zahlte. Eine entsprechende Ankündigung war der Klägerin zugegangen.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Differenzbetrag nebst Zinsen geltend gemacht. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Sprungrevision zugelassen (Urteil vom 14. September 2000). Das SG hat ausgeführt, die Klägerin könne ihre Forderung weder aus dem Vertrag, noch aus einer Fortwirkung der Preisvereinbarung, einem Anspruch auf Neuabschluß einer Gebührenvereinbarung in der alten Höhe oder einem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht ableiten. Jedenfalls ab 1. März 1999 seien zwischen den Beteiligten nur noch über jede einzelne Leistung (zivilrechtliche) Verträge abgeschlossen worden, bei denen sich die Klägerin ihr Verhalten, das Erbringen der Leistung, als konkludente Annahme des ihr bekannten veränderten Vergütungsangebots der Beklagten anrechnen lassen müsse.
Mit der (Sprung-)Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Art 12 Grundgesetz (GG) sowie von § 70 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), der einen „sozialrechtlichen Fortgeltungsgrundsatz” enthalte. Ein vertragsloser Zustand sei vom Gesetzgeber jedenfalls nicht gewollt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. September 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 2.474,90 DM nebst 4 % Zinsen auf 788,55 DM seit 13. Mai 1999, auf 1.813,22 DM vom 1. bis 17. Juni 1999, auf 585,97 DM seit 18. Juni 1999 und auf 1.100,18 DM seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
1. Die Revision ist zulässig, insbesondere liegen die Voraussetzungen der Sprungrevision nach § 161 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vor. Das SG hat nach den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 14. September 2000 die Revision zugelassen (vgl auch Niederschrift vom gleichen Tage); daß die schriftliche Urteilsfassung – entgegen der Niederschrift – die Zulassung im Tenor nicht erwähnt, ist unschädlich (BSG SozR 1500 § 161 Nr 16; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, IX, RdNr 27). Unerheblich ist auch, daß bei Verkündung des Urteils die Zustimmung der Beklagten noch nicht, nach der genannten Niederschrift jedenfalls nicht vorbehaltsfrei, vorgelegen hat; insoweit genügt es, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit seiner Revisionsschrift und noch vor Ablauf der Revisionsfrist am 4. November 2000 eine Erklärung der Beklagten über deren Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision eingereicht hat (§ 161 Abs 1 Satz 3 SGG).
2. Die Revision ist aber unbegründet. Wie das SG zutreffend entschieden hat, hat die Klägerin keinen Anspruch auf eine höhere Vergütung für die von ihr nach dem 28. Februar 1999 zugunsten von fünf Versicherten der Beklagten erbrachte häusliche Krankenpflege.
Über die Vergütung für das Erbringen von häuslicher Krankenpflege trifft das SGB V nur knappe Regelungen. § 132a Abs 2 Satz 1, 2 SGB V sieht den Abschluß von Verträgen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern „über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege sowie über die Preise und deren Abrechnung” vor und verlangt lediglich, daß die Krankenkassen auf das wirtschaftliche und preisgünstige Erbringen von Leistungen zu achten haben. Sowohl für Verbands- wie für Einzelverträge galt, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, bis zum 31. Dezember 1999 ausschließlich Privatrecht (sog zweite bzw dritte Ebene – vgl Urteile des Senats vom 10. Juli 1996, 3 RK 11/95, BSGE 79, 28, 29 = SozR 3-2500 § 125 Nr 5 und 3 RK 29/95 = SozR 3 – 2500 § 125 Nr 6). § 69 SGB V idF vom 22. Dezember 1999 (BGBl I, 2626) hat den abschließenden öffentlich-rechtlichen Charakter der Beziehungen in den §§ 63, 64 und 69 ff SGB V erst ab 1. Januar 2000 normiert.
Ein entsprechender Vertrag war zwar auch zwischen dem Verband von BKKen, dem die Beklagte angehört, und dem Verband von Leistungserbringern, dem die Klägerin angehört, geschlossen worden; die Klägerin war diesem Vertrag auch ausdrücklich beigetreten. Der Vertrag war von der Beklagten jedoch wirksam zum 31. Dezember 1998 gekündigt worden. Zwar galt der Vertrag nach seinem § 13 Nr 2 bei Nichtzustandekommen einer neuen Vereinbarung längstens bis zu sechs Monaten weiter, hier also bis zum 30. Juni 1999. Dies bezieht sich jedoch nicht auf die Preisvereinbarung. Diese war von vornherein bis zum 30. Juni 1997 befristet, nicht verlängert worden und galt nach § 13 Nr 5 („Anlagen mit befristeter Laufzeit”) auch nicht fort. Eine Auslegung des Vertragswerks, nach der auch die Preisvereinbarung, wie der Vertrag selbst, bis zum 30. Juni 1999 weitergelten sollte, kommt nicht in Betracht.
Eine Fortgeltung der bisherigen Gebührenvereinbarung trotz Fristablaufs ist auch nicht aus anderen Gesichtspunkten eingetreten. Sie kann nicht aus einem „Fortgeltungsgrundsatz” abgeleitet werden. Der Revision ist zwar einzuräumen, daß der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 24. Januar 1990 (3 RK 11/88 = BSGE 66, 159, 161 = SozR 3-2200 § 376d Nr 1) den höheren Vergütungsanspruch einer Masseurin und medizinischen Bademeisterin mit der „Fortwirkung” eines gekündigten Vertrages begründet hat. Die seinerzeit beklagte Kasse hatte trotz Kündigung einer Preisvereinbarung und bis zum endgültigen Scheitern von Neuverhandlungen die nach den alten Sätzen erhobenen Forderungen auch weiterhin beglichen, einen Teil der Leistungen aber nachträglich nach geringeren Sätzen abrechnen wollen. Dieser Sachverhalt entspricht dem Verhalten der Beklagten im vorliegenden Fall lediglich in dem – hier nicht streitigen – Zeitraum bis zum 28. Februar 1999. Für die anschließende Zeit hatte die Beklagte jedoch unmißverständlich klargestellt, daß sie nicht mehr zur Abrechnung nach den alten Sätzen bereit war und sich entsprechend verhalten, womit die Parallelität zu der früheren Sache entfallen war. Einen „Fortgeltungsgrundsatz” kann die Revision auch nicht aus der Pflicht zur Versorgung der Versicherten gemäß § 70 SGB V ableiten, weil diese Vorschrift nichts über die maßgeblichen Preise sagt. Durch die Erklärung der Beklagten, mit der diese ihren gegenteiligen Parteiwillen hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, kann sich die Klägerin nicht mehr auf ein fortbestehendes Vertrauen berufen. Eine derartige Sicht der Dinge liefe auf den Ausschluß der Beendigung einmal geschlossener Verträge hinaus.
Falls keine sonstige, insbesondere einzelvertragliche Abmachung besteht, ist der Revision einzuräumen, daß die Beklagte kein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat. Mit der Regelung in § 132a Abs 2 SGB V geht der Gesetzgeber – der allgemeinen Intention des SGB V zur Kostenreduzierung im Gesundheitswesen entsprechend – davon aus, daß derartige vertragliche (Verbands- oder Einzel-)Abmachungen im freien Spiel der Kräfte geschlossen werden und durch die Verpflichtung der Beklagten zur Versorgung der Versicherten einerseits und die Konkurrenz der Leistungserbringer andererseits im Ergebnis marktgerechte und möglichst günstige Bedingungen, insbesondere Preise, für die Versicherten erreicht werden. Wenn solche Vereinbarungen nicht zustande kommen, ist der Krankenkasse nicht ersatzweise ein Preisbestimmungsrecht eingeräumt worden; dies würde jedes Interesse am Abschluß einer vertraglichen Vereinbarung auf ihrer Seite unterlaufen. Andererseits besteht aber auch kein einseitiges Preisbestimmungsrecht auf Seiten des Leistungserbringers, etwa gemäß § 316 BGB, weil auch dies vertragliche Vereinbarungen vereiteln und damit dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers zuwider laufen würde. Für den Fall, daß trotz des von einem vertragslosen Zustand ausgehenden Einigungsdrucks vertragliche Vereinbarungen nicht zustande kommen, hat der Gesetzgeber allerdings kein Schlichtungsverfahren oder Schiedsverfahren vorgesehen, wie es in anderen Bereichen des Leistungserbringungsrechts der Fall ist (vgl § 89 SGB V für den vertragsärztlichen Bereich, § 18a Abs 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz für den Krankenhausbereich und § 76 Sozialgesetzbuch Elftes Buch für die Pflegeversicherung). Der Gesetzgeber hat damit entgegen der Meinung der Revision vielmehr in diesem Bereich einen vertragslosen Zustand in Kauf genommen. Ob er dabei zu Recht von einem wirtschaftlichen Gleichgewicht der Vertragsparteien ausgegangen ist oder die Erwartung gehegt hat, gegenüber der Verbandsmacht der Krankenkassen werden sich die Leistungserbringer ebenfalls zu Verbänden zusammenschließen, um einer einseitigen Durchsetzung der Kasseninteressen entgegentreten zu können, mag hier dahinstehen. Das Diskriminierungsverbot für marktbeherrschende oder marktstarke Unternehmen nach § 20 Abs 1 und Abs 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) hätte, wenn es auch auf die Beklagte als einzelne Kasse angewandt würde (vgl dazu Emmerich, Kartellrecht, 8. Aufl 1999, S 223 ff, 245), jedenfalls nicht zur Folge, daß die Klägerin als Schadensersatz (vgl § 33 GWB) einen höheren Preis verlangen könnte, als die Beklagte ihren Mitbewerbern einzuräumen bereit war.
Eine Vergütungsvereinbarung ist hier auch nicht deshalb entbehrlich, weil im Bereich der Ortskrankenkassen solche Vereinbarungen abgeschlossen worden sind. Die dort vereinbarten Preise können nicht als übliche Vergütung iS von § 612 Abs 2 BGB angesehen werden, weil ungeachtet des großen Anteils der davon erfassten Versicherten auch dies der gesetzlichen Regelung zuwiderliefe, die kein gemeinsames und einheitliches Handeln der verschiedenen Kassen, sondern gesonderte Vertragsabschlüsse vorsieht. Wäre der Vertragsabschluß bei einer großen Krankenkasse ausschlaggebend, entfiele auch hier jegliches Motiv der anderen Krankenkassen, sich um eigenständige Vertragsabschlüsse zu bemühen. Für die Leistungserbringer würde Entsprechendes gelten, sofern die Vertragsabschlüsse mit den anderen Kassenarten aus ihrer Sicht günstiger erschienen. Weil es schließlich auch an einer taxmäßigen, dh amtlichen Vergütungsordnung iS von § 612 Abs 2 BGB fehlt, führte das Fehlen einer Vereinbarung über eine Hauptbedingung des Vertrages, die Vergütungshöhe dazu, daß der Vertrag als beendet galt (§§ 154, 155 BGB). Damit entfiel unabhängig von der Zulassung auch die Verpflichtung der Klägerin zur Behandlung der Versicherten der Beklagten.
3. Das SG hat angenommen, daß die Klägerin nach Kenntnis der neuen Preisangebote der Beklagten durch das stillschweigende Weiterbehandeln der Versicherten der Beklagten konkludent jeweils einem neuen Einzelvertrag mit diesen Preisen zugestimmt habe (§ 151 BGB), und die Klage abgewiesen. Die Klägerin müßte sich in der Tat den objektiven Erklärungswert ihres Handelns anrechnen lassen; ein Mentalvorbehalt wäre ebenso unbeachtlich wie ausdrückliche Äußerungen, die mit ihrem tatsächlichen Verhalten nicht vereinbar wären (sog protestato facto contraria; vgl BGHZ 95, 393, 399; BGH NJW 1965, 387, 388). Unter Berücksichtigung ihrer Interessenlage und ihres bisherigen Verhaltens, nämlich der stetigen Ablehnung der Angebote der Beklagten bei gleichzeitiger Weiterbehandlung der Versicherten, ist es allerdings zweifelhaft, ob die Beklagte nunmehr nach Treu und Glauben davon ausgehen durfte, die Klägerin sei auf ihr Angebot eingegangen, weil sie nicht noch einmal ihre Ablehnung bekräftigte.
Letztlich können diese Fragen aber dahinstehen. Denn auch wenn man vom Fehlen einer vertraglichen Einigung im gesamten Zeitraum ausgeht, hat die Klägerin keine weitergehenden Ansprüche. In diesem Fall ist nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen vorzugehen. Sämtliche Leistungen sind dann ohne rechtlichen Grund erbracht worden. Da sie aus der Natur der Sache nicht herausgegeben werden konnten, war die Beklagte der Klägerin zum Wertersatz verpflichtet gewesen (§§ 812 Abs 1, 818 Abs 2 BGB). Diese Verpflichtung hat sie aber mit dem Bezahlen der Rechnungen in Höhe der von der AOK gezahlten Vergütungen erfüllt. Nach § 818 Abs 2 BGB ist der objektive Verkehrswert, nicht dagegen das Interesse des Entreicherten an seiner Leistung, zu ersetzen (vgl Palandt, BGB 61. Aufl 2002, § 818 RdNr 19 mwN). Angesichts der von der AOK geschlossenen Vergütungsvereinbarungen spricht nichts dafür, daß die Beklagte eine häusliche Krankenpflege ihrer Versicherten bei anderen Leistungserbringern nur zu höheren oder gar zu den von der Klägerin verlangten Preisen hätte sicherstellen können.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 4 Satz 2 SGG iVm § 116 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung und § 51 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGG (Verträge der Krankenkassen oder ihrer Verbände). Im Gegensatz zur Auffassung des SG ist eine Mitverantwortlichkeit der Beklagten für den Rechtsstreit nicht zu erkennen.
Fundstellen
Haufe-Index 705748 |
SozR 3-2500 § 132a, Nr. 1 |
SozSi 2002, 325 |