Leitsatz (amtlich)
Bei Prüfung der Frage, ob im Kindergeldrecht Selbständige für ihre Person gemäß KGG § 11 Abs 1 S 3 von der Beitragspflicht gegenüber der Familienausgleichskasse befreit sind, kommt es nur auf das Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit an; Einkünfte aus einer nicht selbständigen Beschäftigung bleiben außer Betracht.
Normenkette
KGG § 11 Abs. 1 S. 3
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin ist eine Kommanditgesellschaft. Ihr persönlich haftender Gesellschafter H... H... ist gleichzeitig als Reisender bei einem anderen Arbeitgeber tätig. Seine Ehefrau ist Geschäftsführerin der Klägerin. Nach der rechtskräftigen Einkommensteuerveranlagung für das Kalenderjahr 1954 betrugen die Einkünfte der Eheleute H... insgesamt 12 453,-- DM, nämlich aus Gewerbebetrieb 2 425,-- DM und aus unselbständiger Arbeit 10 028,-- DM. Zu versteuern waren von diesem Betrag nur 4 186,-- DM, da Sonderausgaben in Höhe von 6 929,-- DM und ein Überbelastungs- und Freibetrag von 1 338,-- DM in Abzug gebracht worden waren. Die Beklagte forderte mit Nachtrags-Beitragsabrechnung vom 25. Juni 1957 von der Klägerin für das Rechnungsjahr 1956 den Unternehmerkopfbeitrag nach dem Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Einrichtung von Familienausgleichskassen - Kindergeldgesetz (KGG) - in Höhe von 45,-- DM. Die Klägerin machte, nachdem sie schon vorher eine Bescheinigung des Finanzamts vorgelegt hatte, geltend, das Einkommen der Eheleute habe unter Berücksichtigung der abzusetzenden Beträge 4 800,-- DM nicht erreicht. Außerdem könne für die Beurteilung der Beitragspflicht eines Selbständigen nur das Einkommen aus dem Gewerbebetrieb allein maßgebend sein.
Die Klage wurde mit Urteil des Sozialgerichts (SG) Reutlingen vom 24. April 1958 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 290 Juni 1960 das Urteil des SG und den Beitragsbescheid auf. Es führte aus, der Begriff des Einkommens sei im Steuerrecht zwar eindeutig geregelt und umfasse dort den Gesamtbetrag der Einkünfte aus den einzelnen Einkunftsarten, also auch die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und nichtselbständiger Tätigkeit. Dieser steuerrechtliche Begriff des Einkommens stimme aber nicht mit dem "Einkommen" des § 11 Abs. 1 Satz 3 KGG überein. Hier handele es sich nur um die Einkünfte aus der selbständigen Tätigkeit. Satz 3 des § 11 Abs. 1 KGG beziehe sich nur auf Selbständige. Denn das KGG kenne keine Beitragspflicht der Nichtselbständigen. Selbst wenn aber die Auffassung vertreten würde, daß bei der Berechnung der Einkommensgrenze von 4 800,-- DM auch die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit zu berücksichtigen seien, wäre eine Beitragspflicht im vorliegenden Fall nicht gegeben, da nur das zu versteuernde Einkommen zugrunde zu legen wäre. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil wurde der Beklagten am 21. September 1960 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, nachdem ihre Sektion Stuttgart sich vorher dem LSG gegenüber als nicht zuständig für die Empfangnahme des Urteils erklärt hatte.
Die Beklagte legte am 13. Oktober 1960 gegen das Urteil Revision ein und begründete sie am 15. November 1960. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 11 Abs. 1 Satz 3 KGG und ist der Auffassung, daß der Begriff des Einkommens in dieser Vorschrift aus der Steuergesetzgebung übernommen sei, wie aus Satz 6 des § 11 Abs. 1 hervorgehe. Werde aber der Begriff des Einkommens aus dem Steuerrecht, angewandt, dann müsse auch die Begriffsbestimmung aus dem gleichen Recht entnommen werden. Da im Steuerrecht unter Einkommen die Zusammenfassung der Einkünfte aus selbständiger und unselbständiger Arbeit zu verstehen sei, müsse das auch für das KGG gelten. Aus den Sätzen 5, 6 und 7 des § 11 Abs. 1 KGG könne nicht der Schluß gezogen Werden, daß im Satz 3 nur auf das Einkommen des Unternehmers aus seinem Unternehmen abzustellen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 29. Juni 1960 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Reutlingen vom 24. April 1958 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen.
Sie bezweifelt, daß die Revision fristgerecht eingelegt ist, da nach ihrer Auffassung das Urteil bereits vor dem 21. September 1960 zugestellt wurde. Im übrigen verweist sie auf die Entscheidungsgründe des Urteils.
II.
Die Revision ist zulässig.
Es kann dahinstehen, ob das Urteil der Beklagten schon vor dem 21. September 1960 zugestellt worden ist. Zwar ist gegenüber der Empfangsbestätigung der Nachweis zulässig, daß die Urteilszustellung schon zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt ist (vgl. RG in JW 1936, 2407; BAG in AP § 212 a ZPO Nr. 1). Selbst wenn jedoch dieser Nachweis hier geführt werden könnte und deshalb die Revision der Beklagten verspätet wäre, müßte ihr wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (§ 67 Abs. 1 und 2 SGG). Denn die Beklagte konnte, ohne daß ihr dies als Verschulden anzurechnen wäre, annehmen, die Revisionsfrist beginne erst mit dem 21. September 1960 zu laufen, weil das LSG auf ihre Vorstellung hin diese Zustellung vorgenommen hatte, und deshalb die Beklagte davon ausgehen konnte, dies sei die maßgebende Zustellung und auf einen etwaigen früheren Zugang des Urteils komme es nicht an. Ist aber die rechtswirksame Zustellung eines Urteils zweifelhaft, so kann die Frage, ob die Rechtsmittelfrist tatsächlich versäumt ist, dahinstehen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben sind (vgl. BSG Urt. v. 22. Juli 1960 - SozR SGG § 67 Nr. 29).
Die somit zulässige Revision ist jedoch nicht begründet. Auf den vorliegenden Fall, in dem es um die Beitragspflicht für das Jahr 1956 geht, finden die Vorschriften des KGG vom 13. November 1954 (BGBl I 333) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung des Kindergeldgesetzes vom 23. Dezember 1955 (BGBl I 841) Anwendung. Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 sind Selbständige, deren Einkommen jährlich 4 800,-- DM nicht übersteigt, für ihre Person von der Beitragspflicht befreit. Eine abweichende Bestimmung über die Beitragspflicht ist in der Satzung der Beklagten nicht getroffen worden. Unter diesen Umständen entfällt eine Beitragspflicht der Klägerin, weil ihr Einkommen, soweit es für die Beitragspflicht von Bedeutung ist, unter der Grenze von 4 800,-- DM lag. Bei der Berechnung des Einkommens sind nämlich die Einkünfte, die ein Selbständiger aus einer nichtselbständigen Tätigkeit erzielt, mit den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit nicht zusammenzurechnen. Zwar wird in der Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, daß für den Begriff des Einkommens im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 3 KGG die steuerrechtliche Legaldefinition des § 2 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) maßgebend sei (vgl. Schieckel, KGG, § 11 Anm. 2; Sixtus/Haep, Das KGG, § 11 Anm. 5; Goldschmidt/Andres, Die Kindergeldgesetze, § 11 Anm. 1; Lauterbach/Wickenhagen, Die Kindergeldgesetzgebung, § 11 Anm. 8; Witting/Meier, Kindergeldhandbuch, § 11 Anm. 7), und Tiede/Bürger/Wingen (Das KGG, § 11 Anm. 6 durch Bezugnahme auf ein Rundschreiben des Gesamtverbandes der Familienausgleichskassen) sowie Lauterbach/Wickenhagen (aaO) sagen, daß zwar bei der Frage der Beitragspflicht Einkünfte aus selbständiger und solche aus nichtselbständiger Tätigkeit zusammenzuzählen seien, bei der Berechnung der Höhe des Beitrages müßten aber die Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit ausscheiden. Diesen Auffassungen kann sich der Senat jedoch nicht anschließen.
Nach § 2 Abs. 2 EStG in der Fassung vom 21. Dezember 1954 (BGBl I 441) ist Einkommen der Gesamtbetrag der Einkünfte aus den in Abs. 3 bezeichneten Einkunftsarten (also Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit, nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung und sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG) nach Ausgleich mit Verlusten, die sich aus einzelnen Einkunftsarten ergeben und nach Abzug der Sonderausgaben. Im Steuerrecht werden also Einkünfte aus selbständiger und nichtselbständiger Tätigkeit zusammengerechnet und stellen zusammen das Einkommen des Betreffenden dar. Grundsätzlich ist zwar die in anderen Gesetzen enthaltene eingebürgerte Definition bestimmter Begriffe auch für neue Gesetze zu übernehmen, weil allgemein angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber an diese Begriffe anknüpfen will. Dies gilt aber nicht, wenn das neue Gesetz eine andere Begriffsbestimmung enthält - was beim KGG allerdings nicht der Fall ist - oder wenn sich aus dem Grundgedanken des Gesetzes ergibt, daß die in einem anderen Gesetz enthaltene Begriffsbestimmung hier nicht angewandt werden kann. Dies ist bei dem Begriff des Einkommens im KGG der Fall. Beitragspflichtig nach dem KGG ist, wer Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung aufzubringen hat (§ 10 Abs. 1 KGG). Das sind nur Selbständige, nicht aber die Arbeitnehmer (für diese zahlt der Unternehmer Beiträge). Mit diesem Gedankengang wäre es nicht zu vereinbaren, wenn bei Prüfung der Frage, ob und inwieweit Beitragspflicht als Selbständiger besteht oder nicht, das Einkommen aus einer unselbständigen Beschäftigung in irgendeiner Form mitveranschlagt würde. Denn das würde dazu führen, daß unter gewissen Voraussetzungen auch Arbeitnehmer zu Beiträgen herangezogen würden. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß es der Zielsetzung des Gesetzes entspricht, wenn unter Einkommen des Selbständigen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 3 KGG nur das Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit verstanden, das Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit dagegen nicht berücksichtigt wird.
Da das Einkommen der Klägerin als Selbständige den Freibetrag von 4 800,-- DM im Jahr nicht übersteigt, hat das LSG die Beitragspflicht zu Recht verneint. Die Revision ist daher zurückzuweisen, ohne daß noch zu prüfen gewesen wäre, ob von dem Einkommen Freibeträge abzusetzen wären.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.
Fundstellen