Leitsatz (amtlich)

Eine Versicherte, die nach einjähriger Anlernzeit lange Jahre hindurch als Plätterin tätig war, diesen Beruf jedoch seit dem Jahre 1945 nicht mehr ausgeübt hat, kann auf andere angelernte Arbeiten verwiesen werden.

 

Orientierungssatz

Das Lebensalter oder Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung führen nicht zur Berufsunfähigkeit.

 

Normenkette

RVO § 1246 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. November 1958 aufgehoben.

Unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Lübeck vom 12. November 1957 wird die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die im Jahre 1901 geborene Klägerin beantragte am 27. September 1956 die Gewährung von Invalidenrente. Dieser Antrag wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 2. Januar 1957 zurückgewiesen, weil die Klägerin nach dem ärztlichen Befund noch leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechungen verrichten könne.

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lübeck hatte die Klägerin Erfolg. Das SG sah die Klägerin in seinem Urteil vom 12. November 1957 als berufsunfähig an.

Es führte aus, bei der Klägerin müsse von dem Beruf einer Plätterin ausgegangen werden, den sie nach einjähriger Anlernzeit von 1926 bis 1945, also 19 bis 20 Jahre lang, ausgeübt habe. Die von der Klägerin vorher bis 1925 in verschiedenen Wirtschaftszweigen ausgeübten Tätigkeiten (Arbeiterin, Anlegerin in einer Druckerei, Näherin, Stepperin) und die im Jahre 1935 zwischenzeitlich vorübergehend halbjährig ausgeübte Tätigkeit einer Arbeiterin in einer Eierzentrale hätten demgegenüber keine Bedeutung. Daß die Klägerin seit 1945 eine Tätigkeit außerhalb des Haushaltes nicht mehr ausgeübt habe, sei ebenfalls unerheblich. Ein Berufswechsel sei darin nicht zu sehen. Da die Klägerin ihren Beruf als Plätterin nicht mehr ausüben könne, sei sie berufsunfähig im Sinne des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung gegen dieses Urteil am 13. November 1958 zurück.

Es ging gleichfalls davon aus, daß die Klägerin zwar noch leichte bis mittelschwere Frauenarbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechungen verrichten könne, zur Verrichtung der Tätigkeit einer Plätterin aber wegen ihres Krampfaderleidens und ihrer gynäkologischen Beschwerden nicht mehr in der Lage sei.

Auf ungelernte andere Frauenarbeiten könne die Klägerin im Hinblick auf ihre 20-jährige Tätigkeit als Plätterin jedoch nicht mehr verwiesen werden. Sie habe durch ihre langjährige Beschäftigung als Plätterin eine nicht unerhebliche Erfahrung gesammelt und sich bei der Bedienung der Geräte und Maschinen der chemischen Reinigungsanstalten besondere Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet. Die Umstellung auf eine andere Arbeit, bei der sie diese Erfahrung nicht verwerten könne, etwa auf einfache Flickarbeiten oder das Sortieren von Wäschestücken, sei ihr nicht mehr zuzumuten. Dies müsse um so mehr gelten, als die Klägerin bei Stellung des Rentenantrags bereits das 55. Lebensjahr vollendet gehabt habe. Unerheblich sei, daß die Klägerin keine mit einer Prüfung abgeschlossene Ausbildung als Plätterin durchgemacht habe, da sie sich in ihrer langjährigen Tätigkeit in diesem Beruf die Fachkenntnisse angeeignet habe, die sonst nur auf Grund einer besonderen Ausbildung erworben würden.

Die Beklagte legte gegen das ihr am 6. April 1959 zugestellte Urteil am 2. Mai 1959 unter Stellung eines bestimmten Antrags die vom LSG zugelassene Revision ein und begründete diese am 5. Juni 1959.

Sie rügt, das LSG habe der Klägerin zu Unrecht Berufsschutz als Plätterin zuerkannt. Die Klägerin habe diesen Beruf nicht erlernt und auch keine besondere Fachprüfung abgelegt. Bei der Tätigkeit der Klägerin habe es sich überhaupt weder um einen qualifizierten Beruf noch um einen Anlernberuf gehandelt, sondern um eine einfache unqualifizierte Tätigkeit, zu deren Ausübung lediglich eine kurze Einarbeitungszeit erforderlich sei. Die Klägerin könne daher auf andere Berufe z. B. in der Süßwarenindustrie, in der Metallindustrie (Kontrollarbeiten) und im Textilhandwerk (einfache Näh- und Flickarbeiten) verwiesen werden. Der Übergang zu diesen Tätigkeiten würde für die Klägerin auch keinen sozialen Abstieg bedeuten. Ebenso wie eine Weberin auf einfache Anlernarbeiten verwiesen werden könne (BSG Urteil vom 5. März 1959 - 4 RJ 206/57 -), müsse dies auch bei der Klägerin möglich sein.

Im übrigen sei die Klägerin entgegen der Ansicht des LSG auch noch fähig, als Plätterin zu arbeiten. Die in Frage kommenden Betriebe seien fast ausschließlich mit halb- oder vollautomatischen Plättmaschinen ausgestattet, so daß die Tätigkeit einer Plätterin sich auf wenige leichte und rein mechanische Handgriffe beschränke.

Das LSG habe dadurch, daß es der Klägerin ohne nähere Begründung den Berufsschutz als Plätterin zuerkannt habe, den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzt. Es habe auch hinsichtlich der Frage der Verweisbarkeit den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Lübeck vom 12. November 1957 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Als Plätterin könne sie auch in vollautomatischen Betrieben nicht tätig sein, da sie die dafür erforderliche mittelschwere Arbeit, die nur im Stehen verrichtet werden könne, nicht ausüben könne. Die durch die Maschinen geschaffenen Erleichterungen würden durch größere Stückzahlen wieder ausgeglichen.

Bei der Tätigkeit einer Plätterin gebe es sowohl einen Anlern- als auch einen Lehrberuf mit 1 1/2 jähriger Anlern- bzw. 3jähriger Lehrzeit und Abschluß mit einer Gehilfenprüfung (Steller, Wörterbuch der Berufe, 1953, S. 174). In den Blättern zur Berufskunde, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, werde bestätigt, daß gesunde Füße erforderlich seien, da beide Berufe überwiegend im Stehen ausgeübt würden. Die Ausbildung erfolge in dreijähriger Meisterlehre, die mit der Gesellenprüfung abschließe. Der bisherige Vollberuf "Wäscher und Plätter" sei in die beiden Vollberufe Wäscher einerseits und Plätter andererseits aufgeteilt worden. Für jeden dieser Vollberufe sei eine dreijährige Lehre erforderlich. Für den Vollberuf Plätter sei eine Kenntnis der Einwirkung des Trocknens und der Plättemperatur auf Faser, Farbe und Gewebeart erforderlich. Weiterhin kämen als Fähigkeiten hinzu: Hand- und Maschinenplätten, mangeln, glätten, stärken, Spannen von Gardinen, imprägnieren, appretieren und Flecke entfernen. Unter diesen Umständen komme eine Verweisung auf die von der Beklagten erwähnten Tätigkeiten in der Süßwaren- und Metallindustrie und im Textilhandwerk nicht in Frage.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, da das LSG sie zugelassen hat. Sie ist auch frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet und daher zulässig.

Die Revision ist auch begründet.

Es handelt sich um einen Versicherungsfall aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Gemäß Art. 2 § 5 ArVNG finden daher grundsätzlich die Vorschriften des alten Rechts Anwendung. Nach Art. 2 § 6 ArVNG gilt jedoch § 1246 Abs. 2 RVO nF auch in den Fällen, in denen bei Inkrafttreten dieses Gesetzes ein bindender oder rechtskräftiger Bescheid nicht vorgelegen hat. Der Klägerin steht somit ein Rentenanspruch zu, wenn bei ihr Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO nF anzunehmen ist.

Da die Klägerin im Lauf ihres Berufslebens verschiedene Tätigkeiten ausgeübt hat, ist zunächst festzustellen, welche der von der Klägerin verrichteten Tätigkeiten ihren bisherigen Beruf darstellt. Bei der Beurteilung dieser Frage kommt es nicht auf die zuletzt ausgeübte, sondern auf die eigentliche Berufstätigkeit an. Im vorliegenden Fall kann es nicht zweifelhaft sein, daß mit dem LSG als die eigentliche Berufstätigkeit der Klägerin die Tätigkeit als Plätterin anzusehen ist, da sie diese Arbeit während des weitaus überwiegenden Teils ihres Arbeitslebens verrichtet hat.

Die Klägerin hat zur Erlernung des Berufs der Plätterin keine besondere handwerkliche Lehre durchgemacht. Bei diesem Beruf handelte es sich ursprünglich auch nicht um einen Lehrberuf, sondern um einen Anlernberuf mit einer 1 1/2jährigen Anlernzeit (Molle, Wörterbuch der Berufsbezeichnungen, 1951, S. 153). Lehrberuf war früher nur die Tätigkeit als Wäscher und Plätter (Molle aaO; Decken, Berufslexikon, 1957 S. 125; Streller, Wörterbuch der Berufe, 1953, S. 174). Erst in einer Zeit, in der die Klägerin bereits seit längerem nicht mehr erwerbstätig war, ist der bisherige Beruf Wäscher und Plätter in die beiden Vollberufe Wäscher einerseits und Plätter andererseits aufgeteilt worden (Blätter zur Berufskunde, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung). Vorher bestand das Bedürfnis, den Beruf des Plätters zu einem Lehrberuf mit dreijähriger Lehrzeit zu machen, offensichtlich noch nicht.

Die Klägerin hat ihren Beruf als Plätterin nur bis 1945 ausgeübt, bis zu einer Zeit also, in der dieser Beruf noch als Anlerntätigkeit angesehen wurde. Sie kann daher trotz ihrer 20jährigen Tätigkeit nicht mit den Personen verglichen werden, die diesen Beruf neuerdings in dreijähriger Lehrzeit erlernen. Das könnte allenfalls dann in Frage kommen, wenn sie auch noch nach dem Kriege in diesem Beruf tätig gewesen wäre und sich die neuen Kenntnisse und Fähigkeiten in bezug auf die modernen Gewebe und Maschinen durch ihre Tätigkeit angeeignet hätte. Das ist aber nicht der Fall. Die Klägerin kann daher entsprechend den bis 1945 geltenden Anschauungen nur als angelernte Plätterin angesehen werden. Als angelernte Arbeiterin können ihr auch andere angelernte Arbeiten zugemutet werden. Ein Übergang von der angelernten Tätigkeit einer Plätterin zu anderen angelernten Arbeiten bedeutet auch keinen sozialen Abstieg (vgl. dazu auch Urteil des erkennenden Senats vom 5. März 1959, BSG 9, 189). Die Verweisungsmöglichkeiten sind auch nicht auf Arbeiten in Wäschereien und chemischen Reinigungsanstalten beschränkt. Die Klägerin kann vielmehr auch auf angelernte Arbeiten in anderen Wirtschaftszweigen verwiesen werden. Derartige Tätigkeiten gibt es auch in genügender Anzahl. Daß für die Klägerin, die bei der Antragstellung schon 55 Jahre alt war, möglicherweise wegen ihres Alters Schwierigkeiten bestehen, in einem anderen Beruf unterzukommen, ist unerheblich, denn das Lebensalter oder Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung führen nicht zur Berufsunfähigkeit (BSG Urteil vom 25. Mai 1959 - 1 RA 34/58 -).

Wie das LSG unangefochten und damit bindend festgestellt hat, kann die Klägerin trotz ihrer verschiedenen Krankheiten und Gebrechen noch leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechungen verrichten. Unter den zumutbaren angelernten Frauenarbeiten, auf die die Klägerin verwiesen werden kann, gibt es genügend leichte und mittelschwere Arbeiten, die im Sitzen oder im Stehen mit Unterbrechungen zu verrichten sind und durch die die Klägerin gesundheitlich nicht überfordert würde. Der festgestellte Krankheitsbefund schränkt die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in den zumutbaren Berufen auch keinesfalls um mehr als die Hälfte - im Vergleich zu einem gesunden Versicherten - ein. Berufsunfähigkeit liegt somit nicht vor.

Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Fall die Frage, auf welche Arbeiten eine Versicherte verwiesen werden kann, die den Lehrberuf einer Plätterin ausgeübt hat oder einer solchen gleichzustellen ist.

Der Revision war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324200

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