Leitsatz (amtlich)
1. Für die Zeit vor 1957 können eine pauschale und eine nachgewiesene Ausfallzeit selbst dann nicht nebeneinander angerechnet werden, wenn die nachgewiesene Ausfallzeit vor dem Versicherungsbeginn liegt.
2. Dem Berechtigten ist diejenige Ausfallzeit anzurechnen, die sich nach Abschluß beider Berechnungsarten (nach Kürzung der Pauschale gemäß AnVNG Art 2 § 14 S 2) als die längere erweist.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 14 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 14 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Fassung: 1957-02-23
Tenor
1) Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. September 1961 wird aufgehoben.
2) Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
3) Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Rentenberechnung für die Zeit vor 1957 eine pauschale Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) und eine nachgewiesene Ausfallzeit dann nebeneinander anzurechnen sind, wenn die nachgewiesene Ausfallzeit vor dem Versicherungsbeginn liegt.
Bei der Berechnung der Rente, die der Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit von der Beklagten erhält, berücksichtigte diese als Ausfallzeit vor 1957 allein eine nachgewiesene Schulzeit von 32 Monaten vor dem Versicherungsbeginn (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -). Der Kläger begehrt dagegen die weitere Anrechnung von 30 Monaten pauschaler Ausfallzeit; insoweit ist der Zeitraum zwischen seinem ersten und letzten Versicherungsbeitrag vor 1957 nicht mit Versicherungszeiten belegt. Vor dem Sozialgericht (SG) hatte er keinen Erfolg. Auf seine Berufung gab das Landessozialgericht (LSG) dagegen der Klage statt. Es folgerte aus Satz 2 von Art. 2 § 14 AnVNG, daß die pauschale Ausfallzeit nur Ausfallzeiten nach dem ersten Versicherungsbeitrag abgelten wolle, weshalb der Nachweis vorheriger Ausfallzeiten die Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit nicht ausschließe. Diese betrage nach Satz 1 der Vorschrift hier an sich 35 Monate, sei aber nach Satz 2 auf 30 Monate zu kürzen.
Mit der - zugelassenen-Revision beantragten die Beklagte und die Beigeladene,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügten eine Verletzung des Art. 2 § 14 AnVNG.
Der Kläger beantragte die Zurückweisung beider Revisionen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen sind zulässig und auch begründet.
Der Ansicht des LSG ließe sich nur folgen, wenn die pauschale Ausfallzeit die möglichen Ausfallzeiten vor dem Versicherungsbeginn nicht mit abgelten sollte. Dafür könnte zwar Satz 2 der Vorschrift sprechen, der die in Satz 1 vorgesehene pauschale Anrechnung eines Zehntel der bis 1957 mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit nur zuläßt, soweit der Zeitraum zwischen dem ersten und letzten Pflichtbeitrag vor 1957 (vgl. die Urteile des BSG vom 18. September 1963 - 1 RA 36/60 - und vom 27. Juni 1963 - SozR KnVNG Art. 2 § 9, Aa 1 Nr. 3 -) nicht schon mit Versicherungszeiten belegt ist. Obgleich die pauschale Ausfallzeit praktisch damit die Versicherungslücken zwischen beiden Beiträgen ganz oder teilweise füllt, läßt sich die vom LSG vertretene Auffassung jedoch nicht auf diese Wirkung von Satz 2 stützen.
Durch Satz 2 schränkt der Gesetzgeber die im vorangehenden Satz 1 angeordnete Rechtsfolge ein. Deren Voraussetzungen und Tragweite sind daher in erster Linie aus Satz 1 zu ermitteln. Dieser bestimmt, daß bei der Berechnung der Rente für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes (1. Januar 1957) ein Zehntel der bis dahin mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit als Ausfallzeit anzurechnen ist, wenn der Berechtigte nicht längere Ausfallzeiten nachweist. Für die Zeit vor 1957 wird demnach entweder eine pauschale Ausfallzeit oder es werden nachgewiesene Ausfallzeiten angerechnet. Satz 1 bietet dagegen keinen Anhalt dafür, daß beide Berechnungsarten nebeneinander stattfinden könnten; die dort vorgesehene Alternative ist vielmehr für die gesamte Zeit vor 1957 eine ausschließliche, sie läßt keine Ausnahmen zu. Dies kommt in beiden Satzteilen zum Ausdruck. Nach dem ersten Satzteil gilt das Zehntel als eine einheitliche (pauschale) Ausfallzeit für die gesamte Zeit vor 1957 und gibt die "bis dahin mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" lediglich die Grundlage für seine Berechnung. Der zweite Satzteil (Bedingungssatz) bezieht sich ebenso umfassend auf alle Zeiten, die vor 1957 als Ausfallzeiten i. S. des § 36 AVG nachweisbar sind.
Diese Auslegung von Satz 1 wird durch die Entstehungsgeschichte sowie den Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigt. Der sozialpolitische Ausschuß des Deutschen Bundestages wollte von der Pauschale erkennbar alle Ausfallzeiten erfaßt wissen, wie sich aus seinem Bericht (2. WP, zu Drucks. 3080, S. 23 zu § 13) ergibt; die Ausbildungszeiten werden dort ausdrücklich miterwähnt, obwohl sie regelmäßig vor dem ersten Pflichtbeitrag liegen. Ein die gesamte Zeit vor 1957 erfassendes Verständnis der Vorschrift entspricht auch der mit der pauschalen Handhabung erstrebten Vereinfachung der Rentenberechnung; sie wäre vereitelt, wenn der Versicherungsträger trotz Pauschale in jedem Falle für die Zeit vor 1957 noch besonders die Ausfallzeiten vor und nach dem letzten Pflichtbeitrag ermitteln müßte.
Hiernach hätte sich der Gesetzgeber schon einer ungewöhnlichen Gesetzestechnik bedient, wenn er die Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit mittels eines aus Satz 2 erst zu ziehenden Rückschlusses gleichwohl nur für einen Teil der Zeit vor 1957 - nämlich nur für den Zeitraum zwischen dem ersten und letzten Pflichtbeitrag vor 1957 - vorgesehen hätte. Das ließe sich nur annehmen, wenn dieser Rückschluß wirklich zwingend wäre, was jedoch nicht zutrifft. Satz 2 ist zwar ein Gegenstück zu § 35 Abs. 1 AVG, der besagt, daß Versicherungszeiten und Ausfallzeiten, die auf dieselbe Zeit entfallen, nicht nebeneinander angerechnet werden dürfen. Aus Satz 2 ist deshalb zu schließen, daß der Gesetzgeber die pauschale Ausfallzeit in die Lücken zwischen dem ersten und letzten Pflichtbeitrag vor 1957 einordnet. Der Gesetzgeber mag dabei an den Regelfall gedacht haben, in dem die Ausfallzeiten zwischen den Versicherungsbeiträgen liegen. Daraus folgt aber nicht, daß die pauschale Ausfallzeit gleichfalls nur die möglichen Ausfallzeiten zwischen den Versicherungsbeiträgen abgelten solle. Weil die Lücken keine wirklichen Ausfallzeiten i. S. des § 36 AVG zu sein brauchen, können nämlich durch dieses Verfahren auch Ausfallzeiten abgegolten werden, die vor 1957 möglicherweise noch außerhalb dieses Zeitraumes vorhanden sind. Ein wesentlicher Nachteil entsteht den Berechtigten dadurch nicht, weil ihnen der Nachweis der wirklichen Ausfallzeiten vor 1957 in jedem Falle offensteht.
Danach hat die Beklagte für die Zeit vor 1957, entgegen der Ansicht des LSG, eine nachgewiesene und eine pauschale Ausfallzeit zu Recht nicht nebeneinander angerechnet. Zutreffend hat sich die Beklagte hier für die alleinige Anrechnung der nachgewiesenen Ausfallzeit von 32 Monaten entschieden. Nach dem Wortlaut von Satz 1 der Übergangsvorschrift ist zwar von der Anrechnung des pauschalen Zehntel der mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit nur abzusehen, wenn der Berechtigte "längere" Ausfallzeiten nachweist. Aufgrund der Darlegungen des LSG würde das Zehntel hier 35 Monate betragen, so daß die nachgewiesene Ausfallzeit von 32 Monaten an sich nicht "länger" ist. Das Zehntel ist jedoch nach Satz 2 auf 30 Monate zu kürzen, und in diesem Falle entspricht es dem Sinn der Alternative zwischen der Pauschale und dem Einzelnachweis, daß dem Berechtigten die Zeit zugute kommt, die sich nach Abschluß beider Berechnungsarten als die "längere" erweist, Dies ist hier die nachgewiesene Ausfallzeit von 32 Monaten.
Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen war mithin das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen