Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhinderung der Rückkehr
Leitsatz (amtlich)
1. Trotz eines allgemeinen Ausreiseverbotes kann die Verhinderung der Rückkehr im Einzelfall eine feindliche Maßnahme sein (Anschluß an BSG vom 1977-03-08 11 RA 72/76 = BSGE 43, 218, 220).
2. Zwischen der feindlichen Maßnahme und der Verhinderung der Rückkehr muß ein ursächlicher Zusammenhang iS der wesentlichen Bedingung bestehen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Grundsätze der adäquaten Verursachung - hier: die feindliche Maßnahme kann nicht hinweggedacht werden, ohne daß zugleich auch der Erfolg (= Verhinderung der Rückkehr) entfiele - sind dem Sozialversicherungsrecht fremd.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.10.1977; Aktenzeichen L 4 An 81/75) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 12.08.1975; Aktenzeichen S 7 An 119/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung einer weiteren Ersatzzeit.
Die 1900 geborene Klägerin war von 1916 bis zum 30. Juni 1925 zuletzt als Angestellte versicherungspflichtig beschäftigt. Im Januar 1945 verließen sie, ihr Ehemann und ihre Tochter vor den heranrückenden sowjetischen Truppen ihren damaligen Wohnort O (Oberschlesien). Nachdem sie von den sowjetischen Truppen überrollt worden waren, fanden sie bei dem Versuch einer Rückkehr nach O Unterkunft in P (Kreis O). Am 7. August 1945 wurden der Klägerin und ihrer Tochter von dem Amtsvorsteher des Bezirks O ein auf Zeit bis 21. August 1945 beschränkter "Passierschein" in russischer Sprache zur Ausreise nach W und auf der Rückseite dieses "Passierscheins" von dem Kreislandratsamt O eine Einzelerlaubnis in polnischer Sprache zur Ausreise nach Deutschland erteilt. Die Klägerin und ihre Tochter begaben sich daraufhin zu Fuß auf den Weg nach N. In der Nähe dieses Ortes wurden sie von Polen festgehalten und zwangsweise zu Erntearbeiten herangezogen. Der Klägerin wurde der Passierschein abgenommen. Später gelang ihr und ihrer Tochter die Flucht und Rückkehr nach P. Seit 1948 wohnte sie wieder in Oppeln. Wiederholte Bemühungen um eine Genehmigung zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland blieben zunächst ohne Erfolg. Erst am 22. Juli 1973 traf die Klägerin im Bundesgebiet ein.
Mit Bescheid vom 26. Februar 1975 bewilligte die Beklagte ihr für die Zeit ab 1. September 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU-Rente). Bei deren Berechnung berücksichtigte sie gemäß § 28 Abs 1 Nr 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lediglich die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 als pauschale Ersatzzeit.
Der Klage auf Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1947 bis 31. Juli 1973 als weitere Ersatzzeit hat das Sozialgericht (SG) Lübeck (Urteil vom 12. August 1975) in vollem Umfange stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung das Urteil des SG geändert und die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 26. Februar 1975 verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem bei der Berechnung der EU-Rente die Zeit vom 1. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1965 als weitere Ersatzzeit berücksichtigt wird (Urteil vom 19. Oktober 1977). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt:
Die Klägerin sei nach Ende des Krieges iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG im polnisch verwalteten Schlesien festgehalten worden. Dies habe auf einer feindlichen Maßnahme beruht. Zwar habe nach dem zweiten Weltkrieg im ehemaligen Feindstaat Polen als Verwaltungspraxis ein allgemeines Ausreiseverbot bestanden. Dieses habe unterschiedslos die gesamte Bevölkerung des polnischen und polnisch verwalteten Landes betroffen und auch solche Staaten einbezogen, mit welchen Polen sich während des zweiten Weltkrieges nicht im Kriegszustand befunden habe. Im Falle der Klägerin bestehe jedoch die Besonderheit, daß sie trotz der ihr erteilten amtlichen Ausreisegenehmigung vom 7. August 1945 an der Ausreise nach Deutschland gehindert worden sei. Dies sei nach den Umständen des Falles durch die polnische Bürgermiliz und im Hinblick auf die deutsche Volkszugehörigkeit der Klägerin geschehen. Damit sei die getroffene Anordnung eine von dem allgemeinen Ausreiseverbot zu trennende besondere Maßnahme gewesen, welche sich gegen Personen deutscher Volkszugehörigkeit gerichtet habe und diese daran habe hindern sollen, trotz vorher erteilter amtlicher Ausreisegenehmigung Deutschland zu erreichen. Das Verhalten der Bürgermiliz sei auch deswegen eine feindliche Maßnahme gewesen, weil bei korrekter Behandlung entsprechend den in der Ausreisegenehmigung erteilten Weisungen die Klägerin nicht an der Weiterreise nach Deutschland hätte gehindert werden dürfen. Die besondere feindliche Maßnahme habe bis zum Juli 1973 fortgewirkt. Ohne sie wäre die Klägerin nicht von August 1945 bis Juli 1973 in Schlesien festgehalten worden. Sie habe während des gesamten Zeitraumes die feste Absicht zur Ausreise nach Deutschland gehabt. Allerdings könne die von der Klägerin geltend gemachte Ersatzzeit nur bis einschließlich Mai 1965 angerechnet werden. Nur wenn der Aussiedler bei Vollendung des 65. Lebensjahres die Wartezeit noch nicht erfüllt habe, könne die Ersatzzeit bis zur Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden. Die Klägerin hingegen habe im Mai 1965 das 65. Lebensjahr vollendet und mit den nach dem 31. Dezember 1946 anrechenbaren Ersatzzeiten bereits im März 1954 die große Wartezeit erfüllt. Daß die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 gemäß § 28 Abs 1 Nr 6 AVG als Ersatzzeit berücksichtigt worden sei, stehe der Anrechnung der Folgezeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG nicht entgegen. Hierfür sei auch unerheblich, ob die Klägerin von Januar 1947 bis Mai 1965 die Möglichkeit gehabt habe, in Polen pflichtversichert zu arbeiten. Im übrigen habe sie dort eine Vollbeschäftigung nicht finden können.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG. Das LSG habe bei der Auslegung des Begriffes der "feindlichen Maßnahme" die Rechtsprechung insbesondere des Bundessozialgerichts (BSG) nur unvollständig berücksichtigt. Ein Ausreiseverbot, welches sich unterschiedslos gegen sämtliche Bürger des Staates richte, sei keine feindliche Maßnahme. Diese werde dadurch charakterisiert, daß sich die Anordnung des ehemaligen Feindstaates hauptsächlich gegen dessen Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit oder allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richte und beispielsweise die Ausreise nach Deutschland verhindern solle. Hier für reiche nicht aus, daß die Verweigerung der Ausreise mit dem Hinweis auf die Abstammung begründet worden sei. Vielmehr müsse aus der Maßnahme die Gegnerschaft zu Deutschland und damit erkennbar sein, daß mit der Verhinderung der Ausreise in der Person des Versicherten der ehemalige Kriegsgegner habe getroffen werden sollen. Die Klägerin habe aus einem Gebiet gestammt, welches nach Ende des zweiten Weltkrieges unter polnische Verwaltung gestellt worden sei, und sei dort nach Beendigung der Erntearbeiten ebenso wie die gesamte polnische und deutschstämmige Bevölkerung von einem allgemeinen Ausreiseverbot betroffen worden. Deswegen könne allein daraus, daß ihr die Erwirkung einer Ausreiseerlaubnis gelungen sei, nicht geschlossen werden, daß alle weiteren Anordnungen der polnischen Behörden gegen sie feindliche Maßnahmen gewesen seien. Dies führe zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung gegenüber allen anderen Ausreisewilligen, die keine Ausreiseerlaubnis erhalten hätten. Werde mit der Verhinderung der bereits angetretenen Ausreise lediglich die seinerzeit für alle Bevölkerungsgruppen Polens bestehende faktische Ausreisesperre wiederhergestellt, so könne nicht von einer feindlichen Maßnahme gesprochen werden. Selbst wenn aber eine solche in der zwangsweisen Unterbrechung der Ausreise der Klägerin gelegen habe, so habe sie sich nach ihrer Flucht von den Erntearbeiten in derselben Situation wie die anderen Bewohner der Volksrepublik Polen befunden. Insofern habe das LSG verkannt, daß als Voraussetzung für die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG nicht nur die Verhinderung der Ausreise, sondern bei fortbestehendem Abwanderungswillen auch deren Fortdauer auf feindlichen Maßnahmen beruhen müsse. Während des streitigen Zeitraums vom 1. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1965 sei für die faktische Unmöglichkeit der Ausreise der Klägerin nicht mehr ihre Festnahme im August 1945 ursächlich gewesen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1977 und des Sozialgerichts Lübeck vom 12. August 1975 aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem bei der Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente die Zeit vom 1. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1965 als weitere Ersatzzeit berücksichtigt wird, und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Unter Berücksichtigung der in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den deutschen Gebieten östlich der Oder und Neiße bestehenden Verhältnisse, die durch Gewaltmaßnahmen und Willkürakte speziell gegen die deutsche Bevölkerungsgruppe in Form von "wilden Ausweisungen" einerseits und willkürlichen Ausreiseverboten zwecks Rekrutierung zu Zwangsarbeiten trotz bereits erteilter Ausreisegenehmigungen andererseits gekennzeichnet gewesen seien, könne es keinem Zweifel unterliegen, daß sie - die Klägerin - ausschließlich durch feindliche Maßnahmen an der Ausreise aus den polnisch verwalteten Gebieten gehindert worden sei. Diese durch feindliche Maßnahmen einmal gesetzte Verhinderung der Ausreise könne nicht im Sinne einer überholenden Kausalität mit der Erwägung beseitigt werden, daß wegen der nachfolgenden Ereignisse eine andere rechtliche Beurteilung angezeigt sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.
Da allein die Beklagte Revision eingelegt, die Klägerin hingegen die vom LSG ausgesprochene Abweisung ihrer weitergehenden Klage nicht angefochten hat, ist Gegenstand des Rechtsstreits im Revisionsverfahren nur noch der Anspruch der Klägerin auf Berücksichtigung des Zeitraumes vom 1. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1965 als weitere Ersatzzeit bei der Berechnung der ihr bewilligten EU-Rente. Über diesen Anspruch kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 28 Abs 1 Nr 3 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S. 476). Danach werden für die Erfüllung der Wartezeit - und damit zugleich bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS der §§ 30 und 31 AVG (vgl § 35 Abs 1, § 27 Abs 1 Buchst b AVG) - unter den hier nicht streitigen Voraussetzungen des § 28 Abs 2 AVG als Ersatzzeiten Zeiten angerechnet, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Unter den Beteiligten ist nicht streitig, daß die Klägerin iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG an der Rückkehr (zum Begriff vgl BSG SozR RVO § 1251 Nr 13) aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen ist. Insbesondere der hierfür erforderliche Rückkehrwille und eine Verhinderung seiner Realisierung durch außerhalb des Einflußbereiches des Versicherten liegende Umstände (BSGE 32, 260, 261; 43, 218, 220; BSG SozR RVO § 1251 Nr 57) haben bei der Klägerin vorgelegen. Nach den nicht angefochtenen und damit für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG (S. 13/14 des angefochtenen Urteils) hat sie bis zu ihrer Ausreise im Juli 1973 die feste Absicht einer Rückkehr nach Deutschland gehabt und dieser Absicht durch wiederholte Bemühungen bei den polnischen Behörden um die Erteilung einer Ausreisegenehmigung Ausdruck verliehen.
Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei durch eine feindliche Maßnahme an der Rückkehr aus Oberschlesien verhindert gewesen. Soweit es dabei die Festnahme der Klägerin und ihren zwangsweisen Einsatz bei Erntearbeiten durch Angehörige der polnischen Bürgermiliz als feindliche Maßnahme iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG angesehen hat, läßt das angefochtene Urteil einen Rechtsfehler nicht erkennen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind unter feindlichen Maßnahmen solche Maßnahmen eines Feindstaates oder ehemaligen Feindstaates zu verstehen, die sich allgemein gegen Deutschland als (früheren) Kriegsgegner oder als (frühere) Okkupationsmacht gerichtet haben, indem sie entweder hauptsächlich gegen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit oder zur Verhinderung einer Ausreise speziell nach Deutschland ergriffen worden sind. Hingegen sind feindliche Maßnahmen nicht solche, die - wie etwa ein allgemeines Ausreiseverbot - sich unterschiedslos gegen die gesamte der Verwaltungshoheit des (ehemaligen) Feindstaates unterstehende Bevölkerung richten (BSGE 38, 266, 267; 43, 218, 220; BSG SozR RVO § 1251 Nr 57; 2200 § 1251 Nr 29). Das LSG hat festgestellt (S. 11 und 12 des angefochtenen Urteils), daß die Klägerin ungeachtet eines zur damaligen Zeit bestehenden allgemeinen Ausreiseverbotes von Angehörigen der polnischen Bürgermiliz unter Mißachtung der ihr erteilten Ausreisegenehmigung speziell im Hinblick auf ihre deutsche Volkszugehörigkeit an der Weiterreise nach Deutschland gehindert worden und gerade diese deutsche Volkszugehörigkeit das maßgebende Motiv für das in Ausübung hoheitlicher Gewalt durchgeführte Verhalten der Milizangehörigen gewesen ist. Auf der Grundlage dieser Feststellungen müssen die Maßnahmen der Milizangehörigen als feindliche Maßnahmen angesehen werden. Daran ändert entgegen der Ansicht der Beklagten nichts, daß durch die Maßnahmen der Bürgermiliz im faktischen Ergebnis lediglich der seinerzeit infolge eines allgemeinen Ausreiseverbotes für alle Bevölkerungsgruppen bestehende Zustand wiederhergestellt worden ist. Bereits der 11. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 8. März 1977 (BSGE 43, 218, 220 = SozR 2200 § 1251 Nr 33) dargelegt, daß trotz Bestehens eines allgemeinen Ausreiseverbotes die Ausreiseverweigerung im Einzelfall durch ihre besondere Zielrichtung auf die individuelle Person des Versicherten als feindliche Maßnahme gekennzeichnet sein kann. Das muß auch für den vorliegenden Fall gelten. Allerdings hat der Kläger des damaligen Verfahrens nicht zu den Bevölkerungsgruppen gehört, deren Heimat nach Beendigung des zweiten Weltkrieges unter polnische Verwaltung gestellt worden ist; er ist vielmehr als aus dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik stammender Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und erst nach seiner Entlassung im polnisch verwalteten deutschen Gebiet festgehalten worden. Die Klägerin hingegen stammt aus diesem Gebiet. Dieser tatsächliche Unterschied rechtfertigt es jedoch nicht, die ihr gegenüber ergriffenen Maßnahmen der Bürgermiliz lediglich als auf die Durchsetzung oder Wiederherstellung eines allgemeinen Ausreiseverbotes gerichtet und damit nicht als feindliche Maßnahme anzusehen. Ob dies dann zu gelten hätte, wenn der Betroffene an dem Versuch einer unerlaubten Ausreise gehindert worden ist, kann auf sich beruhen. Der vorliegende Sachverhalt ist dadurch charakterisiert, daß der Klägerin tatsächlich eine Ausreisegenehmigung erteilt und sie damit ausdrücklich von dem allgemeinen Ausreiseverbot ausgenommen worden ist. Durch die Maßnahmen der Bürgermiliz ist ihr ein Gebrauchmachen von der ihr persönlich erteilten Ausnahmegenehmigung verwehrt worden; die Maßnahmen haben damit speziell und individuell auf die Klägerin abgezielt. Dies ist wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit geschehen. Damit erfüllt das Vorgehen der polnischen Bürgermiliz gegen die Klägerin alle Merkmale einer feindlichen Maßnahme iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG.
Dem LSG kann jedoch nicht darin gefolgt werden, daß die Klägerin durch diese feindliche Maßnahme in der allein noch streitigen Zeit ab 1. Januar 1947 an der Rückkehr aus Oberschlesien gehindert worden ist. Insoweit beruht das angefochtene Urteil auf einer Verkennung des hier maßgeblichen Kausalitätsbegriffs und in deren Gefolge auf einer unzureichenden Tatsachenfeststellung. Nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG muß der Versicherte durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr verhindert gewesen sein. Mit der Verwendung des Wortes "durch" hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß zwischen der feindlichen Maßnahme und der Verhinderung der Rückkehr ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muß (vgl BSG SozR RVO § 1251 Nr 46). Stellt in der gesetzlichen Rentenversicherung das Gesetz auf den ursächlichen Zusammenhang eines eingetretenen Erfolges mit einem bestimmten Ereignis ab, so gilt derselbe rechtliche Kausalitätsbegriff wie in der Unfallversicherung und in der Kriegsopferversorgung. Danach ist Ursache im Rechtssinne diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl BSGE 30, 167, 178; 32, 203, 205 mwN). Diesen Ursachenbegriff der wesentlichen Bedingung hat der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 26. Oktober 1965 (BSGE 24, 49, 53 f = SozR RVO § 1251 Nr 15) bereits bei der Auslegung des in § 28 Abs 2 Satz 2 Buchst a) AVG verwendeten Begriffs "durch" herangezogen. Für den gleichlautenden Begriff in § 28 Abs 1 Nr 3 AVG kann nichts anderes gelten. Die feindliche Maßnahme muß somit im Verhältnis zu anderen in Betracht kommenden Bedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zur Verhinderung der Rückkehr an dieser wesentlich mitgewirkt haben. Ist sie dagegen für die Verhinderung der Rückkehr von nur untergeordneter Bedeutung, so scheidet sie als Ursache im Rechtssinne aus.
Dies hat das LSG verkannt. Es hat ausgeführt (S. 13 des angefochtenen Urteils), die besondere feindliche Maßnahme (Verhalten der Milizangehörigen) habe in die Folgezeit bis Juli 1973 hineingewirkt, weil die Klägerin von August 1945 bis Juli 1973 in Schlesien festgehalten worden sei, was ohne die besondere feindliche Maßnahme nicht der Fall gewesen wäre. Hiermit hat das LSG zum Ausdruck gebracht, die feindliche Maßnahme könne nicht hinweggedacht werden, ohne daß nicht zugleich auch der Erfolg (= Verhinderung der Rückkehr) entfiele. Dieser Kausalitätsbegriff der adäquaten Verursachung ist jedoch dem Sozialversicherungsrecht fremd. Das LSG wird bei einer erneuten Würdigung des Sachverhaltes nunmehr von dem Kausalitätsbegriff der wesentlichen Bedingung auszugehen und deswegen in seine Betrachtung einzubeziehen haben, daß die Klägerin sich seit ihrem mißglückten Ausreiseversuch mehrfach bei den polnischen Behörden um die Erlaubnis zur Ausreise nach Deutschland bemüht hat. Es wird weiter aufgrund des Ergebnisses der bisherigen und eventuell ergänzender Sachaufklärung festzustellen haben, aus welchen Gründen die Ausreisegesuche der Klägerin in der Zeit bis zum 31. Mai 1965 abschlägig beschieden worden sind. Sollte sich dabei ergeben, daß auch die Ablehnungen dieser Gesuche feindliche Maßnahmen im Sinne der Rechtsprechung des BSG gewesen sind, so wird dem Begehren der Klägerin in seinem noch streitigen Umfange zu entsprechen sein. Sofern hingegen den Ausreisegesuchen aus anderen Gründen, insbesondere etwa wegen eines allgemeinen Ausreiseverbotes, nicht stattgegeben worden ist, wird das LSG abzuwägen haben, ob dies oder aber die Maßnahmen der polnischen Milizangehörigen im August 1945 die wesentliche Bedingung für die Verhinderung der Rückkehr der Klägerin in der Zeit seit dem 1. Januar 1947 gewesen sind. Dieser Abwägung ist das LSG entgegen der Auffassung der Klägerin nicht deswegen enthoben, weil bereits die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 als Ersatzzeit berücksichtigt worden ist und damit die Verhinderung der Ausreise der Klägerin nicht im Sinne einer "überholenden Kausalität" beseitigt werden kann. Der vorgenannte Zeitraum ist gemäß § 28 Abs 1 Nr 6 AVG pauschal als Zeit der Vertreibung anerkannt worden. Das besagt nichts dafür, daß die Klägerin während dieses Zeitraumes und damit auch nach seiner Beendigung an der Rückkehr verhindert gewesen ist und damit eine individuelle Ersatzzeit iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG vorliegt.
Die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen besteht, liegt auf tatsächlichem Gebiet (BSGE 44, 218, 220). Der Senat kann sie daher nicht entscheiden. Deswegen ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1653574 |
BSGE, 113 |