Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren
Orientierungssatz
Telefonisch und schriftlich erteilte Auskünfte werden zu Tatsachen, die für eine Entscheidung der Beklagten erheblich sind und zu denen der Kläger deshalb vor Erlaß des Widerspruchsbescheids gehört werden muß, wenn sie zu einem Entscheidungsergebnis mindestens beigetragen haben.
Normenkette
SGB 10 § 24 Abs 1, § 42 S 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 14.05.1986; Aktenzeichen L 9 Kr 50/85) |
SG Berlin (Entscheidung vom 25.04.1985; Aktenzeichen S 75 Kr 220/83) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger in der Zeit vom 1. Januar 1978 bis zum 31. Oktober 1980 bei der Firma Sch Aufzügefabrik GmbH Berlin (Beigeladene zu 3) in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stand oder ob er als freier Mitarbeiter tätig war.
Er ist 1929 geboren und war seit 1960 als Direktionsassistent bei der Beigeladenen zu 3) angestellt. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Rechtsangelegenheiten der Gesellschaft ggf unter Inanspruchnahme von Rechtsanwälten zu bearbeiten. Auf seine Kündigung im Jahre 1967 wurde das Beschäftigungsverhältnis mit dem 29. Februar 1968 beendet. Danach war er mit Unterbrechungen bis 1983 als Jurastudent an der FU Berlin eingeschrieben. Ein Staatsexamen legte er nicht ab.
Auch nach dem 29. Februar 1968 war der Kläger weiterhin für die Beigeladene zu 3) tätig. Unter dem 11. April 1968 vereinbarte er mit ihr, daß er nach seinem Ausscheiden "nach Bedarf tageweise" und im wesentlichen zu ihrer Unterstützung in einem schwebenden Rechtsstreit zu einem Entgelt von DM 200 je Arbeitstag "abzüglich der ggf zu zahlenden gesetzlichen Anteile des Arbeitgebers zur Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung" tätig sein sollte. Nachdem 1969 die Vergütung des Klägers erhöht worden war, vereinbarte er in einem Vertrag vom 12. Januar 1970 eine "pauschale Vergütung von 12 Arbeitstagen pro Vierteljahr" zuzüglich eines Erfolgshonorars bzw einer Prämie, deren Höhe sich an einem eventuellen Obsiegen der Beigeladenen zu 3) in einem anhängigen Rechtsstreit ausrichtete. Die Zahlung sollte in monatlichen Raten erfolgen. Der Vertrag konnte von beiden Seiten "mit einer Frist von drei Monaten jeweils zum Quartalsende" gekündigt werden. In der Zeit vom 1. Oktober 1971 bis zum 31. Januar 1973 war der Kläger für die Beigeladene zu 3) durchgehend ganztägig beschäftigt. Für diese Zeit wurden Beiträge zur Renten-und Arbeitslosenversicherung für den Kläger entrichtet. Für Zeiten der Beschäftigung im übrigen führte die Beigeladene zu 3) Lohn- und Kirchensteuer ab, jedoch keine Beiträge zur Sozialversicherung und zur Bundesanstalt für Arbeit. Der Kläger erhielt eine Arbeitnehmerzulage nach den Vorschriften des Berlin-Förderungsgesetzes (Berlin-FG) in der jeweils geltenden Fassung. In regelmäßigen Abständen legte er der Beigeladenen zu 3) Immatrikulationsbescheinigungen vor. 1978 erhielt er von ihr ein Bruttoentgelt von DM 83.310,67 (einschließlich eines Erfolgshonorars für einen in diesem Jahr rechtskräftig abgeschlossenen Rechtsstreit), 1979 DM 27.960,-- und 1980 DM 23.300,--. Im September 1980 teilte sie dem Kläger mit, daß die monatlichen Zahlungen mit Ablauf des 31. Oktober 1980 eingestellt würden. Die dagegen erhobene Kündigungsschutzklage blieb vor den Gerichten der Arbeitsgerichtsbarkeit erfolglos. Die Revision des Klägers wies das Bundesarbeitsgericht durch Urteil vom 28. September 1983 - 7 AZR 275/82 - zurück.
Nachdem eine vom Kläger vor dem Sozialgericht (SG) erhobene Klage auf Entrichtung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Januar 1978 bis zum 30. September 1980 durch Vorbescheid als unzulässig abgewiesen worden war, beantragte er im Januar 1983 bei der Beklagten die Überprüfung seiner Versicherungspflicht. Durch Bescheid vom 5. April 1983 lehnte die Beklagte die Feststellung eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ab. Am 20. April 1983 nahm der Kläger bei der Beklagten Akteneinsicht und legte Widerspruch ein. Am 10. Mai 1983 fragte ein Bediensteter der Beklagten telefonisch bei dem Prokuristen der Beigeladenen zu 3), dem Zeugen A P , wegen der Abführung von Lohnsteuer für den Kläger und wegen der Zahlung von Berlin-Zulage nach. Mit Schreiben vom 18. Mai 1983 teilte die Beigeladene zu 3) der Beklagten daraufhin mit, dem Kläger sei in der fraglichen Zeit eine Berlin-Zulage gezahlt worden. Das Finanzamt habe sich seinerzeit auf den Standpunkt gestellt, daß ein Arbeitsverhältnis vorliege und Lohnsteuer abzuführen sei. Die Beigeladene zu 3) habe aus ihrer damaligen Sicht keine Veranlassung gesehen, dagegen vorzugehen. Durch Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1983 wies die Beklagte den Widerspruch ohne Anhörung des Klägers zu dem Telefongespräch vom 10. Mai 1983 und dem Schreiben vom 18. Mai 1983 zurück. Daß er nicht in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe, folge aus dem Parteiwillen, der den Vereinbarungen zu entnehmen sei. Daß die Beigeladene zu 3) für den Kläger Lohnsteuer abgeführt und dieser eine Berlin-Zulage erhalten habe, sei nicht entscheidungserheblich.
Das SG hat die Klage nach Vernehmung einer Angestellten der Beigeladenen zu 3), Frau W K , und des Prokuristen A. P als Zeugen abgewiesen (Urteil vom 25. April 1985). In seiner Berufungsbegründung vom 5. Mai 1986 hat der Kläger als weitere Zeugen die früheren Geschäftsführer der Beigeladenen zu 3) Z Sch und Dr. W zum Beweis seiner Weisungsgebundenheit angeboten. Durchschriften dieses Schriftsatzes wurden dem Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG überreicht und den Beigeladenen zu 1) bis 3) mit der Sitzungsniederschrift übersandt.
Mit Urteil vom 14. Mai 1986 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 24 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - SGB 10) sei nicht verletzt. Der Kläger habe im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit gehabt, seinen Standpunkt darzulegen. Die Äußerungen der Beigeladenen zu 3) seien ihm bekanntgegeben worden, und er habe die gesamten Verwaltungsakten vor Erlaß des Widerspruchsbescheides einsehen können. Der Kläger habe nicht in persönlicher Abhängigkeit zur Beigeladenen zu 3) gestanden. Die vom SG vernommenen Zeugen hätten bestätigt, daß dem Kläger keine Weisungen in bezug auf seine Arbeit erteilt worden seien. Auch gemäß den vertraglichen Vereinbarungen habe er einem Direktionsrecht nicht unterlegen. Seine Behauptung, der frühere Geschäftsführer der Beigeladenen zu 3), Dr. W , habe ihn angewiesen, Schriftsatzentwürfe zu fertigen, bei Gerichtsterminen anwesend zu sein und bestimmte weitere Aufgaben zu erledigen, könne als wahr unterstellt werden und bedürfe keiner weiteren Aufklärung. Diese "Weisungen" seien nicht als Ausübung des Direktionsrechts aufgrund eines Arbeitsverhältnisses anzusehen, sondern als Konkretisierung eines vom Kläger übernommenen Auftrages.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der Senat durch Beschluß vom 19. Februar 1987 die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen.
Mit der Revision rügt der Kläger ua, die Beklagte habe § 24 SGB 10 verletzt, weil sie ihm vor Erlaß des Widerspruchsbescheides keine Kenntnis von dem Telefonat mit dem Zeugen A. P und von dem Schreiben der Beigeladenen zu 3) vom 18. Mai 1983 gegeben habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1983 aufzuheben, hilfsweise, das Urteil des LSG vom 14. Mai 1986 aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, hilfsweise, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheids der Beklagten vom 5. April 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 1983 festzustellen, daß der Kläger in der Zeit vom 1. Januar 1978 bis zum 31. Oktober 1980 in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig war.
Die Beigeladene zu 3) beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die übrigen Beteiligten haben keine Anträge gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Beklagte hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen das Recht des Klägers auf Anhörung im Verwaltungsverfahren vor Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 1983 (§ 24 SGB 10) verletzt. Der Widerspruchsbescheid sowie die Urteile des SG und LSG sind deshalb aufzuheben.
Gemäß § 24 Abs 1 SGB 10 ist den Beteiligten am Verwaltungsverfahren (§ 12 SGB 10) Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in ihre Rechte eingreift. Ist die erforderliche Anhörung unterblieben oder wird sie nicht wirksam nachgeholt, besteht gemäß § 42 Satz 2 SGB 10 ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts.
Die Beklagte war verpflichtet, dem Kläger vor Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 1983 den Inhalt des Telefongespräches mit dem Zeugen A. P und des Schreibens der Beigeladenen zu 3) an die Beklagte vom 18. Mai 1983 mitzuteilen.
Mit dem Widerspruchsbescheid bestätigte die Beklagte ihren Bescheid vom 5. April 1983, in dem sie festgestellt hatte, daß ein vom Kläger behauptetes versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zur Beigeladenen zu 3) während der streitigen Zeit nicht bestanden habe. Diese Feststellung griff in die Rechte des Klägers ein, weil sie damit zugleich eine Pflicht der Firma verneinte, für ihn nachträglich Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten.
Das Telefongespräch mit dem Zeugen A. P und das Schreiben vom 18. Mai 1983 enthielten "für die Entscheidung erhebliche Tatsachen", die nach § 24 SGB 10 eine Anhörung erforderlich gemacht hätten.
In dem Widerspruchsbescheid hat die Beklagte ua ausgeführt, daß "die steuerliche Behandlung bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung eines Vertragsverhältnisses lediglich ein Indiz und kein ausschlaggebendes Kriterium" sei. Aus diesem Grunde könne "auch der Tatsache, daß die Firma Sch Aufzügefabrik GmbH ... Lohnsteuern entrichtete und diese jeweils auf der Lohnsteuerkarte vermerkte sowie der Gewährung der sogenannten Berlin-Zulage für die hier vorzunehmende versicherungsrechtliche Beurteilung kein entscheidungserheblicher Einfluß beigemessen werden". Diese Ausführungen lassen keine Zweifel, daß die Beklagte in der Abführung von Lohnsteuer und der Gewährung einer Berlin-Zulage an sich ein für die Entscheidung über die Versicherungspflicht erhebliches "Indiz" gesehen, ihm hier jedoch bei der Gesamtabwägung, dh gegenüber den anderen, gegen die Versicherungspflicht sprechenden Indizien keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat. Zu diesem Entscheidungsergebnis ("in diesem Zusammenhang") hat, wie aus dem Widerspruchsbescheid ebenfalls zu entnehmen ist, der Inhalt der fraglichen telefonisch und schriftlich erteilten Auskünfte der Firma Sch mindestens beigetragen. Damit sind auch diese Auskünfte zu Tatsachen geworden, die für die Entscheidung der Beklagten erheblich waren und zu denen der Kläger deshalb vor Erlaß des Widerspruchsbescheides hätte gehört werden müssen.
Für den vorliegenden Fall kann hiernach offen bleiben, ob der Begriff der entscheidungserheblichen Tatsachen ganz oder überwiegend objektiv (unabhängig von der Rechtsauffassung der Behörde über die Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache) zu verstehen ist oder ob er auf diejenigen Tatsachen zu beschränken ist, auf die es nach der rechtlichen Beurteilung der Behörde ankommt (vgl dazu Kopp, VwVfG, 4. Aufl, § 28 Rz 17 einerseits, BVerwGE 66, 184, Leitsatz 2 andererseits); denn hier ergibt sich aus dem Widerspruchsbescheid der Beklagten unzweideutig, daß es für sie auch auf die fraglichen Tatsachen ankam, sonst hätte sie sie nicht in den Widerspruchsbescheid aufgenommen.
Da sonach das angefochtene Urteil des LSG schon aus den dargelegten Gründen aufzuheben war, kam es auf den vom Kläger zutreffend gerügten Verfahrensverstoß der unterlassenen Zeugenvernehmung nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen