Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit. Brennholzzubereitung. Gefälligkeitshandlung. Nachbarn. Verwandte
Orientierungssatz
1. Eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit ist nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG gegeben, wenn eine ernstliche, dem anderen Unternehmen dienende Tätigkeit verrichtet wird, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden kann, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen; sie muß ferner unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist (vgl BSG vom 20.1.1987 2 RU 15/86 = SozR 2200 § 539 Nr 119).
2. Bei Tätigkeiten, die denen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich sind, ist der Versicherungsschutz ebensowenig wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses deshalb ausgeschlossen, weil der Tätigwerdende ein Verwandter des Unternehmers ist (vgl BSG vom 30.7.1987 2 RU 17/86 = HV-INFO 1987, 1636).
3. Bei Gefälligkeitshandlungen, die unter Verwandten vorgenommen werden und von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, besteht kein Versicherungsschutz. Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen (vgl BSG vom 1.2.1979 - 2 RU 65/78 = SozR 2200 § 539 Nr 55).
Normenkette
RVO § 539 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 20.04.1988; Aktenzeichen L 3 U 12/87) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 07.01.1987; Aktenzeichen S 10 U 327/85) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse dem klagenden Gemeindeunfallversicherungsverband die Kosten zu erstatten hat, die dieser für die Heilbehandlung des Beigeladenen O. Z. einschließlich Verletztengeld aufgewendet hat (3.277,88 DM).
Am 12. Juli 1985 schnitt Z. für seine entfernt verwandte Nachbarin, A. H. mit der Kreissäge Brennholz. Die Arbeit erfolgte unentgeltlich und sollte etwa 1 1/2 bis 2 Stunden dauern. Ca. 10 Minuten nach Arbeitsbeginn verletzte sich Z. an den ersten drei Fingern der linken Hand und mußte bis zum 30. August 1985 stationär und ambulant behandelt werden. Der Kläger teilte der Beklagten in seinem Schreiben vom 9. September 1985 mit, seiner Meinung nach habe es sich nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt, weil sich der Unfall anläßlich einer reinen Gefälligkeitshandlung unter befreundeten Nachbarn - somit nicht bei einer versicherten Tätigkeit - ereignet habe. Deshalb müsse die Beklagte die Leistungen als zuständiger Krankenversicherungsträger übernehmen. Die Beklagte lehnte es ab, den auf § 105 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) gestützten Erstattungsanspruch des Klägers zu befriedigen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Zahlung verurteilt (Urteil vom 7. Januar 1987). Es hat die Auffassung vertreten, Z. sei nicht wie ein Arbeitnehmer tätig geworden (§ 539 Abs 2 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-); seine geringfügige Tätigkeit sei vielmehr durch die verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen zu H. geprägt gewesen, so daß er nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. April 1988). Seiner Ansicht nach hat es sich bei dem Unfall vom 12. Juli 1985 um einen nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO versicherten Arbeitsunfall gehandelt, für den der Kläger als zuständiger Versicherungsträger einzustehen habe. Streitentscheidend sei die Frage, ob die Gefälligkeitsleistung des Z. ihr Gepräge aus verwandtschaftlichen oder gut nachbarlichen Beziehungen erhalten habe. Dies müsse verneint werden; denn nach den Gesamtumständen habe es sich nicht nur um eine unwesentliche Handreichung gehandelt, die unter Familienmitgliedern oder Nachbarn als üblich angesehen werden könne. Dagegen spreche insbesondere die zeitliche Dauer der Arbeitsleistung. Der Kläger verkenne aber auch, daß Sägearbeiten der vorliegenden Art schon im Hinblick auf die dafür erforderlichen Fachkenntnisse keineswegs aus Gefälligkeit unter Nachbarn oder Verwandten üblich seien. Schließlich sei auch dem Hilfsantrag des Klägers auf Anhörung des Beigeladenen bzw Einvernahme der Zeugin H. nicht zu entsprechen gewesen. Denn selbst wenn bei der recht weitläufigen Verwandtschaft engere familiäre Beziehungen gepflegt würden, sei die Beschäftigung des Z. nicht als eine unter Verwandten oder Nachbarn übliche Gefälligkeitsleistung anzusehen.
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe gegen §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, in dem es bei seiner Beweiswürdigung auf die Allgemeinüblichkeit nach der Lebenserfahrung abgestellt habe. Eine solche Beurteilung sei aber nur dann zulässig, wenn sich nicht feststellen lasse, was unter den an der unfallbringenden Tätigkeit Beteiligten konkret üblich gewesen sei. Dies ergebe sich aus der zu § 539 Abs 2 RVO ergangenen Rechtsprechung des BSG, nach der alle Umstände des Einzelfalles zu prüfen seien, um die Frage beantworten zu können, ob eine Gefälligkeitshandlung ihr Gepräge aus der freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehung erhalte. Aus diesem Grunde habe das LSG auch gegen seine Pflicht zur vollständigen Amtsermittlung verstoßen. Dieser Verpflichtung habe es sich nicht durch die Unterstellung "engerer" familiärer Beziehungen entziehen können; denn erst wenn festgestellt sei, wie eng die Beziehungen tatsächlich gewesen seien, könne rechtlich gewertet werden, ob die konkrete Tätigkeit im Rahmen der verwandtschaftlichen Beziehungen üblich gewesen sei. Zumindest hätte das LSG deshalb dem Hilfsantrag auf Anhörung des Beigeladenen bzw Einvernahme der Zeugin H. entsprechen müssen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 20. April 1988 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Koblenz vom 7. Januar 1987 zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 SGG). Für eine Entscheidung über den Erstattungsanspruch des Klägers sind keine ausreichenden Tatsachen festgestellt.
Nach § 105 Abs 1 SGB X ist der zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne daß die Voraussetzungen des § 102 Abs 1 SGB X vorliegen. Als unzuständiger Leistungsträger hat der Kläger die in Rede stehenden Aufwendungen nur erbracht, wenn es sich bei dem Unfall vom 12. Juli 1985 nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt hat. Da im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses vorgelegen haben, konnte ein Arbeitsunfall nur vorgelegen haben, wenn der Beigeladene wie ein Versicherter tätig geworden ist (§ 539 Abs 2 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch gegeben sind, läßt sich nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG nicht sagen.
Eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit ist nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG gegeben, wenn eine ernstliche, dem anderen Unternehmen dienende Tätigkeit verrichtet wird, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden kann, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen; sie muß ferner unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist (vgl BSGE 5, 168, 174; 31, 275, 277; BSG SozR 2200 § 539 Nr 119; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., S 476b, c, mwN). Insoweit hat das LSG zutreffend ausgeführt, daß der Beigeladene eine dem Haushalt (Unternehmen) der H. zu dienen bestimmte und auch deren Willen entsprechende arbeitnehmerähnliche Tätigkeit verrichtet hat. Der Versicherungsschutz des Beigeladenen war auch nicht - wovon das LSG ebenfalls mit Recht ausgegangen ist - allein deshalb ausgeschlossen, weil Z. seiner entfernt Verwandten geholfen hat. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß bei Tätigkeiten, die denen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich sind, der Versicherungsschutz ebensowenig wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses deshalb ausgeschlossen ist, weil der Tätigwerdende ein Verwandter des Unternehmers ist (BSG SozR 2200 § 539 Nrn 32, 33, 43, 49, 55, 108; BSG-Urteil vom 30. Juli 1987 - 2 RU 17/86 -, HV-INFO 1987, 1636, Brackmann aaO S 475 v). Danach steht dem Versicherungsschutz insbesondere nicht entgegen, daß unter Verwandten die Bereitschaft zu Freundschafts- und Gefälligkeitsleistungen größer ist und deshalb die Tätigkeit, die sonst aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses oder jedenfalls gegen Entgelt verrichtet wird, hier als Freundschafts- oder Gefälligkeitsdienst erbracht wird.
Der Senat hat in den zitierten Urteilen aber auch stets betont, daß bei Gefälligkeitshandlungen, die unter Verwandten vorgenommen werden und von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, ebensowenig Versicherungsschutz besteht, wie beispielsweise bei Verrichtungen aufgrund mitgliedschaftlicher, gesellschaftlicher oder körperschaftlicher Verpflichtung (vgl insbesondere BSG SozR 2200 § 539 Nrn 43, 55, 108; Brackmann aaO S 475 v). Diese Voraussetzung ist bei Verwandten erfüllt, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitsdienste handelt, die ihr gesamtes Gepräge von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Je enger eine Gemeinschaft ist, umso größer wird der Rahmen sein, innerhalb dessen bestimmte Tätigkeiten ihr Gepräge daraus erhalten (BSG aaO Nr 49). Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen (BSG aaO Nr 55). So hat der Senat in seinem Urteil vom 30. Juli 1987 (HV-Info 1987, 1636) die Hilfe beim Holzfällen und Brennholzzubereiten von 3 1/2 bis 4 Tagen im Jahr nach Art und Umfang noch als eine von dem Verwandtschaftsverhältnis unter Brüdern geprägte Tätigkeit angesehen, obwohl der Hilfeleistende nicht im Haushalt seines Bruders lebte.
Ausgehend von dieser auch seiner Entscheidung zugrunde liegenden Rechtsprechung hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, die näheren Umstände der zum Unfall führenden Tätigkeit zu prüfen. Zu Recht rügt die Revision insoweit, das LSG habe sich seiner Ermittlungspflicht nicht mit dem Hinweis auf die unter Verwandten allgemein üblichen - begrenzten - Gefälligkeitsdienste entledigen dürfen, ohne die Enge der verwandtschaftlichen und gut nachbarschaftlichen Beziehungen im konkreten Fall zu überprüfen. Nur aufgrund diesbezüglicher Tatsachenfeststellungen läßt sich die Frage beantworten, ob die - auf nur 1 bis 1 1/2 Stunden geplanten - Sägearbeiten nach Art und Umfang den Rahmen einer unversicherten Gefälligkeitsleistung überschritten haben. Hierzu hätte es sich angeboten, den Beigeladenen anzuhören und H. als Zeugin einzuvernehmen.
Nach Zurückverweisung der Sache wird das LSG die notwendigen Feststellungen nachzuholen haben. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen