Leitsatz (amtlich)

Ist ein Versicherter im Krankenhaus stationär behandelt worden und hat ein Fürsorgeträger (Sozialhilfeträger) zunächst die Kosten übernommen, so beginnt die Ausschlußfrist für die Geltendmachung seines Ersatzanspruchs gegenüber der Krankenkasse (RVO § 1539) jedenfalls nicht vor Übernahme der entstandenen Kosten durch den Fürsorgeträger. Auf den Zeitpunkt der Beendigung der Krankenhauspflege kommt es nicht an.

 

Normenkette

RVO § 1539 Fassung: 1924-12-15, § 184 Abs. 1

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. August 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) pflichtversicherte Rentner Wilhelm P wurde am 3. Oktober 1958 durch seinen behandelnden Arzt wegen des Verdachts auf Lebermetastasen nach operiertem Magenkrebs in das Städtische Krankenhaus Braunschweig eingewiesen. Die beklagte Krankenkasse übernahm die dadurch entstandenen Kosten nur bis zum 17. Oktober 1958, nicht aber für die anschließende Zeit bis zum 12. November 1958. Sie war der Auffassung, daß es sich nunmehr allein um einen Pflegefall handele, weswegen sie nicht leistungspflichtig sei. Am 27. Oktober 1958 beantragte daraufhin die Krankenhausverwaltung beim Sozialamt der Stadt Braunschweig die Übernahme der weiteren Kosten. Dies wurde jedoch abgelehnt, nachdem das Staatliche Gesundheitsamt in einer Stellungnahme vom 4. Dezember 1958 ausgeführt hatte, daß es sich nicht um einen Pflegefall, sondern um eine akute Krankheit gehandelt habe, und auch die Krankenhausverwaltung die Ansicht geäußert hatte, daß die Zeit über den 17. Oktober 1958 hinaus als Behandlungszeitraum gewertet werden müsse.

Da die beklagte AOK sich jedoch gleichwohl weiterhin weigerte, die vom 18. Oktober 1958 an entstandenen Kosten zu bestreiten, übernahm schließlich der klagende Landkreis nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage im Oktober 1959 die angefallenen Kosten und bezahlte sie alsbald.

Schon vorher hatte der Landkreis Ende September 1959 unter Berufung auf die §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben mit dem Antrage,

die Beklagte zu verurteilen, die Krankenhauskosten für das Mitglied Wilhelm P für die Zeit vom 17. Oktober bis 12. November 1958 zu übernehmen.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 3. März 1960 abgewiesen mit der Begründung, der an sich nach § 1531 RVO in Betracht kommende Erstattungsanspruch sei wegen nicht fristgerechter Anmeldung gemäß § 1539 RVO ausgeschlossen, weil er nicht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Unterstützung geltend gemacht worden sei, d. h. nach Beendigung der Zeit, für die Unterstützung gewährt worden sei.

Die vom SG zugelassene und vom Kläger eingelegte Berufung führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 427,30 DM an den Kläger (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 9. August 1960). Das Berufungsgericht war der Auffassung, der Ersatzanspruch sei rechtzeitig erhoben. Der Lauf der Frist von sechs Monaten habe nicht schon mit der Entlassung des Rentners P aus dem Krankenhaus am 12. November 1958 begonnen. Nach dem Wortlaut des § 1539 RVO beginne die Frist erst mit dem Ende der durch den ersatzberechtigten Träger der öffentlichen Fürsorge gewährten Unterstützung. Als der Versicherte aus dem Krankenhaus entlassen worden sei, habe ihm der Kläger noch keine Unterstützung gewährt; sie sei sogar anfänglich abgelehnt worden. Erst, als der Kläger etwa ein Jahr später sich entschlossen hatte, die entstandenen Kosten zu übernehmen, habe er den Versicherten unterstützt und damit einen Anspruch gegen die Beklagte nach der RVO erworben. Die dem Krankenhaus gegenüber mit Schreiben vom 21. Oktober 1959 abgegebene Verpflichtungserklärung, die Kosten der stationären Behandlung zu tragen, sei Anfang und Ende der vom Fürsorgeträger gewährten Unterstützung gewesen. Erst von diesem Zeitpunkt an habe daher die Ausschlußfrist zu laufen begonnen. Da damals schon die Klage erhoben gewesen sei, sei die Frist nicht versäumt worden.

Der Ersatzanspruch sei auch begründet. Nach den eingeholten ärztlichen Stellungnahmen habe über den 17. Oktober 1958 hinaus eine Krankheit im Sinne der RVO bestanden. Lediglich die vertrauensärztliche Dienststelle der Landesversicherungsanstalt (LVA) Braunschweig habe die Auffassung vertreten, daß die diätische und spasmolytische Behandlung des Versicherten auch zu Hause oder in einem Pflegeheim hätte durchgeführt werden können, sie sei offenbar nur deshalb in der Klinik fortgesetzt worden, weil geeignete andere Pflegeeinrichtungen nicht zur Verfügung gestanden hätten. Diese Gründe seien jedoch nicht geeignet, die Ablehnung der Krankenhauspflege durch die Beklagte zu rechtfertigen. Wenn auch die Gewährung der Krankenhauspflege in das pflichtgemäße Ermessen der Krankenkasse gestellt sei, so könne jene doch bei einer Krankheit, die ihrer Art nach eine Pflege verlange, die in der Familie des Erkrankten nicht möglich sei, nur aus besonderen, schwerwiegenden Gründen versagt werden. Gerade in solchen Fällen sollten die Krankenkassen möglichst Krankenhauspflege gewähren. Aus der Stellungnahme des Städtischen Krankenhauses Braunschweig vom 7. Juli 1959 gehe hervor, daß sich der Gesundheitszustand des Versicherten trotz ambulanter Behandlung und diätischer Maßnahmen ständig verschlechtert hatte. Bei einer Entlassung schon am 17. Oktober 1958 wäre daher zu befürchten gewesen, daß die erzielte Besserung wieder in Frage gestellt worden wäre. Eine ausreichende Pflege sei somit nur im Krankenhaus gewährleistet gewesen. Daher hätte die Beklagte nicht ohne Ermessensmißbrauch die weitere stationäre Behandlung bis zum 12. November 1958 verweigern dürfen.

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision zugelassen. Die Beklagte hat Revision eingelegt mit dem Antrage,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 9. August 1960 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 3. März 1960 zurückzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, es sei fehlerhaft, den Beginn der Frist nach § 1539 RVO von der Kostenübernahme durch den Fürsorgeträger abhängig zu machen. Die Frist beginne vielmehr mit der tatsächlichen Beendigung der "Unterstützung", d. h. der dem Versicherten im Krankenhaus als Sachleistung gewährten Krankenhauspflege, im vorliegenden Fall also mit der Entlassung aus dem Krankenhaus am 12. November 1958. Die Frage, wann die Unterstützung abgelaufen ist, sei bereits mehrfach Gegenstand von Entscheidungen gewesen. Auch das Reichsversicherungsamt (RVA) habe in seiner Entscheidung vom 16. November 1937 (DOK 1938, 784) dazu Stellung genommen und dabei den vorgetragenen Standpunkt vertreten.

Außerdem habe das LSG § 184 RVO verkannt. Für die Zeit nach dem 17. Oktober 1958 habe der Versicherte keinen Anspruch auf Gewährung von Krankenhauspflege gehabt. Zwar habe bei ihm eine Krankheit vorgelegen, jedoch sei nach dem 17. Oktober 1958 eine Krankenhausbehandlung nicht mehr notwendig gewesen. Daher habe sie, die Beklagte, nicht ermessenswidrig gehandelt. Habe aber der Versicherte keinen Anspruch auf Krankenhausbehandlung gehabt, so entfalle auch der Ersatzanspruch des Klägers. Im übrigen hätte das LSG zur Klärung des Sachverhalts auch noch einen ärztlichen Gutachter hinzuziehen müssen, da es ihm insoweit an einer eigenen Sachkunde gefehlt habe und widersprechende ärztliche Gutachten vorgelegen hätten.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist nicht begründet. Das LSG hat aus im Ergebnis zutreffenden Erwägungen der auf § 1531 RVO gestützten Klage stattgegeben.

Mit Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß die Ausschlußfrist des § 1539 RVO schon deswegen dem Klagebegehren nicht entgegenstand, weil die Frist erst mit der Übernahme und der anschließenden Bezahlung der Krankenhauskosten durch den klagenden Fürsorgeträger im Oktober 1959 zu laufen begonnen hatte und damals das Streitverfahren bereits anhängig war. Diese Auffassung ist herrschend (vgl. ua Hanow-Lehmann, Kommentar zur RVO, § 1539 RVO Note 5; Grundsätzliche Entscheidung - GE - Nr. 2598 - AN 1920, 407 - am Ende; GE Nr. 2601, AN 1920, 415; RVO-MitglKomm. § 1539 RVO Anm. 1; Brackmann, Handbuch der SozVers, Bd. III S. 972 c, Verbkomm. § 1539 RVO Note 3). Ihr hat sich der Senat bereits in dem Urteil vom 30. Juni 1964 - 3 RK 43/61 - angeschlossen (SozR § 1539 RVO Nr. 2). Von ihr abzugehen, besteht kein Anlaß. Danach richtet sich der Fristbeginn nicht nach dem Ablauf des Zeitraumes, in dem der Versicherungsträger leistungspflichtig war, oder für den der Unterstützte die Leistung verlangen konnte. Wie das RVA in der GE Nr. 2601 dargelegt hat, beginnt die Ausschlußfrist vielmehr nach dem Wortlaut des § 1539 RVO stets mit dem Ende der durch den Ersatzberechtigten gewährten Unterstützung. Angesichts dieser klaren Fassung des Gesetzes könnte eine gegenteilige Auffassung nur gebilligt werden, wenn wichtige Gründe gegen die wortgemäße Auslegung des Gesetzes sprächen. Solche Gründe sind jedoch nicht ersichtlich. Hierzu führt das RVA mit Recht aus, auch in § 1508 RVO frühere Fassung (später § 1509 Abs. 3 RVO aF) werde die dort vorgesehene Frist für die Geltendmachung des Ersatzanspruchs gegen den Träger der Unfallversicherung erst in Lauf gesetzt, wenn der Ersatzberechtigte, nämlich die Krankenkasse, ihre Unterstützungshandlung beendigt hat; allerdings sei nicht zu verkennen, daß die Krankenkassen ein Interesse daran haben können, der Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach Ablauf von Jahren nicht mehr ausgesetzt zu sein; allein diesem an sich begründeten Interesse der Krankenkassen stehe das Interesse der ersatzberechtigten Verbände an einer ausreichenden Sicherung ihrer Ersatzansprüche gegenüber.

Die von der Revision herangezogene Entscheidung des RVA vom 16. November 1937 (DOK 1938, 784) nötigt zu keiner anderen Auffassung. Dort lag die Besonderheit darin, daß der Unterstützte gestorben war. Dazu meint das RVA, nach § 1531 RVO sei Voraussetzung des Ersatzanspruchs die Unterstützung eines Hilfsbedürftigen, und diese ende der Natur der Sache nach auf jeden Fall mit dessen Tode; daraus folge, daß im Falle des Todes des Unterstützten der Tag seines Ablebens zwangsläufig auch spätestens den Ablauf der Unterstützung im Sinne des § 1539 RVO bedeuten müsse. Es ist allerdings zuzugeben, daß diese Argumentation in gewissem Widerspruch zu den früheren Entscheidungen, insbesondere zu der GE Nr. 2598, steht (so auch Bruno in ArbVers 1939, 37). Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob dieser Entscheidung zu folgen ist, da hier nicht festgestellt ist, daß der Versicherte vor Ablauf von sechs Monaten nach der Kostenübernahme durch den Fürsorgeverband gestorben ist.

Zu Recht hat schließlich das LSG entschieden, daß die Beklagte die Übernahme der Krankenhauskosten nicht verweigern durfte. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist die Gewährung von Krankenhauspflege zwar eine Ermessensleistung, die Ablehnung einer solchen ist aber stets dann rechtswidrig, wenn der Versicherungsträger die gesetzlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschreitet oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch macht (§ 54 Abs. 2 SGG). Nach der Rechtsprechung des Senats kann weiter die Krankenkasse stets dann zur Zahlung von Krankenhauspflegekosten in bestimmter Höhe verurteilt werden, wenn die Ablehnung der Krankenhauspflege unter jedem denkbaren Gesichtspunkt einen Ermessensmißbrauch darstellen würde und die Sache in jeder Beziehung spruchreif ist (BSG 9, 232). Ausschlaggebend für die Ermessensentscheidung über die Gewährung von Krankenhauspflege nach § 184 RVO hat stets das Bedürfnis nach sachgemäßer ärztlicher Versorgung und Pflege des Versicherten zu sein (vgl. BSG 9, 232; 13, 240; 16, 84; 18, 254). Hierzu hat das Berufungsgericht festgestellt, daß der Versicherte in seiner Familie nicht betreut werden konnte und daß wegen der Art seiner Erkrankung Krankenhauspflege notwendig war. Unter Zugrundelegung dieser tatsächlichen Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, war die Ablehnung der Übernahme der Krankenhauskosten für die Zeit vom 18. Oktober bis 12. November 1958 rechtswidrig.

Zwar hat die Beklagte hierzu noch vorgebracht, das LSG hätte mangels eigener Sachkunde angesichts der sich widersprechenden ärztlichen Gutachten zur Klärung des Sachverhalts noch einen ärztlichen Gutachter hinzuziehen müssen. Damit ist eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt und geltend gemacht, daß bei einer vollständigen Sachaufklärung ein anderer Sachverhalt sich ergeben hätte. Sowohl die erhobene Verfahrensrüge als auch der damit verbundene Angriff gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind jedoch unbegründet. Die vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen reichten zur Entscheidung aus, zumal die eingehenden Äußerungen des Krankenhauses vom 14. Juni 1959 und 7. Juli 1959 vorlagen. Diese konnten im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 SGG i. V. m. §§ 415 ff der Zivilprozeßordnung - ZPO -, vgl. Baumbach/Lauterbach, § 286 ZPO Anm. 4 B) verwertet werden. Eine Verletzung von sonstigen Vorschriften des Verfahrensrechts aber scheidet aus, da die Beklagte keine entsprechenden Beweisanträge gestellt hatte.

Nach alledem erweist sich das angefochtene Urteil als richtig, so daß die Revision zurückzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380021

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