Leitsatz (amtlich)

Im Rentenanpassungsverfahren ist nicht nachzuprüfen, ob bei der Rentenfestsetzung die Ruhensvorschrift des RVO § 1278 Abs 1 zu Recht angewandt worden ist.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1272 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. April 1970 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Im vorliegenden Rechtsstreit ist darüber zu entscheiden, ob bei der Anpassung der Rente der Klägerin nach dem 10. Rentenanpassungsgesetz (RAG) die bei der vorausgegangenen Rentenfestsetzung getroffene Entscheidung über ein teilweises Ruhen der Rente wegen des gleichzeitigen Bezuges einer Rente aus der Unfallversicherung neu überprüft werden muß (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 1278 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Die Klägerin bezog seit August 1941 Invalidenrente von der Landesversicherungsanstalt Sudetenland. Die Beklagte zahlte die Rente ab 1. Januar 1947 weiter (Bescheid vom 13. Januar 1948).

Die Berufsgenossenschaft der Keramischen und Glasindustrie gewährte der früher als Porzellangießerin beschäftigten Klägerin im Jahre 1956 eine Rente wegen Staublungenerkrankung als Berufskrankheit für die Zeit vom 24. Oktober 1953 an; als Zeitpunkt des Versicherungsfalles wurde der 23. Oktober 1953 angesehen. Darauf zahlte die Beklagte unter Hinweis auf §§ 1274, 1290 RVO aF wegen der Gewährung von Unfallrente nur noch drei Viertel der Invalidenrente (Bescheid vom 25. April 1956).

Mit Mitteilung vom 9. Januar 1958 stellte die Beklagte die Rente unter Anführung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG), des § 1278 RVO nF und des § 1 der "Verordnung über die Anwendung der Ruhensvorschriften der RVO und des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) auf umzustellende Renten der Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten" vom 9. Juli 1957 (BGBl I 704) um.

Im Jahre 1960 erhöhte die Beklagte die Rente auf fünfzehn Dreizehntel (Art. 2 § 38 Abs. 3 ArVNG) und stellte das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der Ruhensvorschriften des § 1278 RVO i. V. m. § 1 der VO vom 9. Juli 1957 neu fest. Dieser Bescheid wurde in ein anhängiges Klageverfahren einbezogen. Im Jahre 1961 nahm die Klägerin ihre Klage zurück und beantragte eine Überprüfung nach § 1300 RVO. Die Beklagte teilte darauf der Klägerin im Januar und November 1962 mit, die Bescheide entsprächen dem Gesetz, denn nach dem Lungenröntgenbefund vom 24. April 1947 müsse angenommen werden, daß die Silikose zur Zeit der Rentengewährung schon bestanden habe; deshalb seien die Kürzungsvorschriften des § 1274 RVO aF, § 1278 RVO nF anzuwenden gewesen. Auch bei der erneuten Umstellung nach dem Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz im Jahre 1962 und bei einer Neuberechnung des Altersruhegeldes im Jahre 1967 wandte sie die Ruhensvorschrift des § 1278 Abs. 1 RVO an. Mit Bescheid vom 20. Juni 1968 paßte die Beklagte die Rente nach dem 10. RAG an und wandte wiederum die Ruhensvorschriften an.

Mit der gegen den Rentenanpassungsbescheid gerichteten Klage beanstandete die Klägerin die Anwendung der Ruhensvorschriften, indem sie geltend machte, die Silikose sei nicht "Mitursache der Rentengewährung" gewesen; bei ihr liege ein Fall des § 1278 Abs. 3 Nr. 1 RVO vor.

Das Sozialgericht (SG) Regensburg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. November 1968). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 9. April 1970). Es hat ausgeführt, die Frage, ob § 1278 RVO wegen Bezuges der Rente aus der Unfallversicherung anzuwenden sei, könne nicht bei jeder Rentenanpassung erneut aufgeworfen werden. Die Entscheidung über den Sachverhalt, der das Ruhen herbeigeführt habe, sei seit Jahren bindend getroffen. Auch die zwei Verfahren nach § 1300 RVO hätten zu keiner für die Klägerin günstigeren Entscheidung geführt. Gemäß BSG 26, 98 sei ein Bescheid, in dem ausgesprochen werde, daß eine mit einer Verletztenrente zusammentreffende Versichertenrente in einer bestimmten Höhe ruhensfrei sei, hinsichtlich dieses Ausspruches der Bindung (§ 77 SGG) fähig. Das Bundessozialgericht (BSG) habe auch dahin Stellung genommen, daß eine positive Entscheidung über die Anwendbarkeit der Ruhensvorschriften des § 1278 RVO dem Grunde nach für spätere Neufeststellungen der Rente rechtsverbindlich sei. Der - positive oder negative - Ausspruch in einem Bescheid über die Anwendung der Ruhensvorschriften bezwecke, das Rechtsverhältnis zwischen dem Versicherungsträger und dem Berechtigten ein für allemal zu regeln. Darin liege ein der Bindungswirkung (§ 77 SGG) fähiger Verwaltungsakt. Demzufolge könne die Beklagte sich hier darauf berufen, daß die Frage des Ruhens eines Teiles der Leistung aus der ArV durch die Entscheidung in dem bindend gewordenen Bescheid vom 25. April 1956 erledigt sei.

Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 20. Juni 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Festsetzung des Altersruhegeldes ab 1. Januar 1968 das Altersruhegeld ungekürzt zu gewähren. Sie rügt eine Verletzung des § 77 SGG und des § 1278 RVO: Die Invalidität im Jahre 1941 sei nicht auf die Staublungenerkrankung, sondern auf andere Gesundheitsstörungen zurückzuführen. Das LSG hätte den Bescheid vom 20. Juni 1968 und die darin festgestellte Rentenkürzung sachlich nachprüfen müssen. Eine frühere bescheidmäßige Feststellung des teilweisen Ruhens der Rente sei bei einer später erforderlichen Neufeststellung der Rente nicht rechtsverbindlich.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die Ausführungen des LSG für richtig.

II

Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Anwendung der Ruhensvorschriften in dem angefochtenen Bescheid nicht nachgeprüft.

Die dem angefochtenen Bescheid vorausgegangenen Bescheide sind bindend geworden, weil sie nicht angefochten wurden oder die Klage zurückgenommen wurde.

Die Bindung nach § 77 SGG erstreckt sich allein auf die Verfügungssätze eines Bescheides, nicht auf die Begründung, also nicht auf Vorfragen und die rechtlichen Erwägungen, die zu den Verfügungssätzen geführt haben (vgl. SozR Nr. 24, 59 und 64 zu § 77 SGG). Der Ausspruch im Bescheid, daß eine Rente bestimmter Art, etwa wegen Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Alters, gewährt wird und wie hoch diese Rente ist, sind Verfügungssätze des Bescheides; zu seiner Begründung gehört, aus welchen Gründen diese Art der Rente gewährt wird und wie sich die Höhe dieser Rente im einzelnen errechnet, wie Versicherungszeiten (§ 1250 RVO), anrechnungsfähige Versicherungsjahre (§ 1258 RVO), Berechnungsvorgänge (§§ 1255, 1255 a RVO). Der Ausspruch, daß die Ruhensvorschriften anzuwenden sind, ist ein selbständiger weiterer Verfügungssatz des Bescheides; denn das Ruhen einer Rente aus der Rentenversicherung beruht auf einem anderen Sachverhalt als die Gewährung dieser Rente. Erst wenn überhaupt eine Rente aus der Rentenversicherung gewährt wird, kann die Anwendung der Ruhensvorschriften in Frage kommen, nämlich wenn gleichzeitig auch eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung gewährt wird. Der Ruhenstatbestand ist kein Tatbestand, der zu dem die Rentengewährung begründenden Tatbestand - Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Alter und Versicherungszeit - gehört und etwa nur ein Teil des der Rentengewährung zugrunde liegenden Tatbestandes wäre. Die Rechtsfolgen des Ruhenstatbestandes (§ 1278 RVO) sind andere als die Auswirkungen des die Rentengewährung begründenden Tatbestandes (§§ 1246, 1247, 1248 RVO). Diese Rechtsfolgen sind daher in einem gesonderten Verfügungssatz des Bescheides auszusprechen. Er ist selbständig der Bindung fähig (SozR Nr. 10 zu § 1278 RVO). Die Eigenschaft dieses Ausspruches als bindungsfähiger Verfügungssatz wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Ausspruch, die Rente aus der Rentenversicherung unterliege den Ruhensvorschriften, lediglich feststellt, was kraft Gesetzes auf Grund der Erfüllung des Ruhenstatbestandes eintritt.

Es kann offen bleiben, ob schon die Mitteilung über das Ruhen der Rente nach dem vom 1. Januar 1957 an geltenden Recht in der Umstellungsmitteilung vom 9. Januar 1958 einen Verwaltungsakt darstellt (vgl. SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 31 ArVNG und Nr. 28 zu § 77 SGG); jedenfalls ist die ausdrückliche Feststellung des Ruhens nach dem vom 1. Januar 1957 an geltenden Recht, das sich von der bisherigen Vorschrift des § 1274 RVO aF wesentlich unterscheidet, ein Verfügungssatz in den späteren bindend gewordenen Bescheiden. Somit war vor Erlaß des angefochtenen Rentenanpassungsbescheides bindend festgestellt, daß auf die Rente der Klägerin aus der ArV die Ruhensvorschriften des § 1278 Abs. 1 RVO nF anzuwenden sind.

Das 10. RAG bietet keine Handhabe, die Frage der grundsätzlichen Anwendung der Ruhensvorschriften des § 1278 Abs. 1 RVO auf die Rente der Klägerin aus der ArV neu nachzuprüfen.

Das BSG hat bereits entschieden, daß bei der Rentenanpassung die Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente nicht nachgeprüft werden dürfen; die Anpassung besteht nur in der Neuberechnung nach einem bestimmten Modus; dabei dürfen nur Fehler, die der Rentenberechnung zugrunde liegen, berücksichtigt werden; die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen bleibt im Anpassungsverfahren unberührt (SozR Nr. 53 zu § 77 SGG, Nr. 1 und 2 zu § 1272 RVO, Nr. 1 zu Art. I § 2 des 6. RAG und Nr. 1 zu § 3 des 7. RAG). Der Unterscheidung zwischen den Grundlagen des Rentenanspruchs als solchem (Stammrecht) und den Berechnungsfaktoren entspricht die Unterscheidung zwischen der Anwendung der Ruhensvorschriften dem Grunde nach wegen Zusammentreffens von Renten aus der ArV und der Unfallversicherung und der jeweiligen Berechnung des Ruhensbetrages. Im Rentenanpassungsverfahren ist daher kein Raum für eine Nachprüfung, ob die Rente zu Recht unter Anwendung der Ruhensvorschrift des § 1278 Abs. 1 RVO festgesetzt worden ist oder ob etwa ein Ausnahmetatbestand nach § 1278 Abs. 3 RVO vorliegt. Es würde dem Wesen der Bindung und ihrem Sinn und Zweck, Rechtssicherheit zwischen den Beteiligten zu schaffen, widersprechen, wenn bei jeder Anpassung, also praktisch jedes Jahr, die grundsätzliche Anwendung der Ruhensvorschriften von neuem in Frage gestellt werden könnte und nachgeprüft werden müßte.

Das 10. RAG bestimmt "nichts anderes" im Sinn des § 77 SGG. § 3 des 10. RAG, der die Anpassung der Faktorenrenten regelt, betrifft nur die Berechnung und setzt voraus, daß feststeht, ob die Ruhensvorschriften grundsätzlich anzuwenden sind oder nicht. Dies ergibt Abs. 1 Satz 1 aaO: "Renten ... sind so anzupassen, daß sich eine Rente ergibt, wie sie sich nach Anwendung der Ruhensvorschriften ergeben würde, wenn die Rente umgestellt ...". § 4 des 10. RAG, der die Anpassung u. a. der Sonderzuschußrenten regelt, setzt in Abs. 2 ebenfalls als feststehend voraus, daß die Ruhensvorschriften des § 1278 Abs. 1 RVO grundsätzlich anzuwenden sind. Das gleiche gilt bei § 6 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 des 10. RAG bei Zusammentreffen von Renten aus der Unfallversicherung und der ArV und bei den Besitzstandsvorschriften des § 12 Abs. 1 des 10. RAG.

Nach diesen Vorschriften können nur die Auswirkungen des Ruhenstatbestandes bei der Rentenanpassung, also die Höhe des Ruhensbetrages, des Höchstbetrages für beide Renten zusammen u. Ä., d. h. nur die Berechnungsansätze, nachgeprüft werden. Die Frage, ob die Voraussetzungen des § 1278 Abs. 3 RVO erfüllt sind, wie die Klägerin meint, so daß die Rente aus der ArV grundsätzlich nicht zu ruhen hätte, betrifft nicht die Berechnung, sondern die Frage, ob der Ruhenstatbestand als solcher überhaupt gegeben ist oder nicht.

Die Revision der Klägerin ist somit als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669231

BSGE, 114

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