Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsbedürftigkeit einer geschiedenen Frau
Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Unterhaltsbedürftigkeit einer geschiedenen Frau:
Die Auffassung, einer geschiedenen Frau sei zur Zeit des Todes des (versicherten) Mannes eine Erwerbstätigkeit immer dann zuzumuten, wenn sie vor der Ehe und nach der Scheidung erwerbstätig war, ist nicht allgemein zutreffend. Vielmehr kommt es darauf an, ob der geschiedene Mann seine geschiedene Frau billigerweise auf die Erträgnisse einer von ihr faktisch ausgeübten Erwerbstätigkeit verweisen durfte, was nach den gesamten Umständen des jeweiligen Falles zu beurteilen ist.
Die geschiedene Frau hat im allgemeinen das Recht, ihre Kinder selbst zu erziehen, während der für schuldig erklärte Mann ihr in der Regel durch Unterhaltsleistungen die Sorge für ihre Kinder durch Beaufsichtigung und Erziehung zu ermöglichen hat.
Normenkette
RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Abs. 1 Fassung: 1946-02-20, § 59 Abs. 1 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob die Klägerin als frühere Ehefrau des am 20. Februar 1967 verstorbenen Versicherten H G Hinterbliebenenrente beanspruchen kann (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Im einzelnen ist umstritten, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu leisten hatte, obwohl sie Einkünfte aus eigener Erwerbstätigkeit hatte.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde im April 1959 aus dem Alleinverschulden des Versicherten geschieden. Aus der Ehe waren zwei Töchter (geboren 1954 und 1957) hervorgegangen, die im Haushalt der Klägerin leben. Der Versicherte zahlte nach der Scheidung der Klägerin keinen, den Kindern nur unregelmäßig Unterhalt. Bei seinem Tode belief sich der Unterhaltsrückstand für jedes der beiden Kinder auf ca. 3.700 DM. Eine Witwe ist nicht vorhanden, jedoch hinterließ der Versicherte noch zwei (1959 und 1961 geborene) uneheliche Kinder.
Bis 1958 hatte der Versicherte ein regelmäßiges Arbeitseinkommen. Ende 1958 verlor er seinen Arbeitsplatz und war bis Januar 1960 nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt. Das Scheidungsurteil stützt den Schuldausspruch u. a. darauf, daß der Versicherte seine Unterhaltspflicht gegenüber der Klägerin und ihren Kindern verletzt habe. Im letzten Jahr vor dem Tode hatte der Versicherte ein Einkommen von ca. 7.200 DM.
Die Klägerin, geboren 1924, war bis zur Geburt ihres ersten Kindes als kaufmännische Angestellte, Stenotypistin und Stenokontoristin berufstätig gewesen. Kurz vor der Scheidung übernahm sie Aushilfstätigkeiten in ihrem erlernten Beruf und verdiente damit den dringendsten Lebensunterhalt für sich und die Kinder. Seit August 1959 ist sie Verwaltungsangestellte. Im letzten Jahr vor dem Todes des Versicherten hatte sie ein Einkommen von ca. 11.000 DM.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Hinterbliebenenrente ab, weil die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten über ausreichende Einkünfte aus eigener Erwerbstätigkeit verfügt habe und nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei (Bescheid vom 21. März 1967).
Die hiergegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin verpflichtete das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente. Es bejahte die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin, weil sie die Erwerbstätigkeit nur aus Not aufgenommen habe. Die wirtschaftliche Notlage sei in den letzten Monaten vor der Scheidung allein durch das Verhalten des Versicherten entstanden. Die Klägerin habe sich daher - auch im Interesse ihrer Kinder - zur Arbeitsaufnahme gezwungen gesehen. Die - im Hinblick auf ihre Mutterpflichten gegenüber den beiden schulpflichtigen Töchtern - unzumutbare Erwerbstätigkeit habe den Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten nicht beseitigen können. Dies entspreche nicht nur dem Grundsatz von Treu und Glauben, sondern auch dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Urteil vom 18. Oktober 1968).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, einer geschiedenen Frau sei zur Zeit des Todes des geschiedenen Mannes eine Beschäftigung immer dann zumutbar, wenn die Beschäftigung von ihr bereits vor der Ehe ausgeübt worden ist und nach der Scheidung wieder aufgenommen wird.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision. Sie hält die Ausführungen des Berufungsgerichts für zutreffend.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Revision ist nicht begründet.
Die Klägerin hat als frühere Ehefrau des Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte (§ 1265 Satz 1 RVO). Voraussetzung für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch ist die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin (§ 58 Abs. 1 EheG) und die Leistungsfähigkeit des Versicherten (§ 59 Abs. 1 EheG). Da der Versicherte keine Witwe hinterlassen hat, ist dabei zu unterstellen, daß er zuletzt in der Lage war, seiner Unterhaltspflicht der Klägerin gegenüber nachzukommen (§ 1265 Satz 2 RVO).
Die somit allein streitige Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin hat das LSG bejaht, weil von ihr eine Erwerbstätigkeit nicht habe erwartet werden können und daher die Arbeitseinkünfte der Klägerin einen Unterhaltsanspruch nach § 58 Abs. 1 EheG nicht ausgeschlossen haben. Diese Auffassung ist nach den vom LSG getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen rechtlich nicht zu beanstanden.
Wenn die Revision meint, einer geschiedenen Frau sei eine Beschäftigung zur Zeit des Todes des geschiedenen Mannes immer dann zuzumuten, wenn sie vor der Ehe und nach der Scheidung gearbeitet hat, so kann dem in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Anschluß an das Urteil des erkennenden Senats vom 31. Mai 1967 (BSG 26, 293) wiederholt entschieden, daß eine geschiedene Frau trotz eigenen Erwerbseinkommens unterhaltsbedürftig ist, wenn der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann sie billigerweise auf diese Erträgnisse nicht verweisen darf. Dies ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Falles zu beurteilen (BSG in SozR Nr. 42, 45 und 52 zu § 1265 RVO sowie die Entscheidungen des Senats vom 27. Februar 1970 - 12 RJ 244/69 -, 7. Juli 1970 - 12 RJ 466/69; vgl. auch Urteil des 4. Senats vom 31. Juli 1968 - 4 RJ 373/67 -). Schon deswegen ist der - ohne nähere Begründung erfolgte - Hinweis der Revision auf die beiden Urteile des 4. Senats vom 27. Juni 1968 (= SozR Nr. 45 zu § 1265 RVO) und 31. Juli 1968 aaO nicht geeignet, der Revision zum Erfolg zu verhelfen. Naturgemäß liegen die zu berücksichtigenden Gesamtumstände nahezu in jedem Falle anders und die vom Berufungsgericht hier getroffenen Feststellungen lassen einen Vergleich mit den in jenen Entscheidungen des 4. Senats zugrunde gelegten Sachverhalten nicht zu.
Der Senat hat im Urteil vom 25. September 1969 (= SozR Nr. 52 zu § 1265 RVO) im Anschluß an seine Ausführungen in BSG 26, 293, 298 bereits ausgesprochen, daß die geschiedene Frau das Recht hat, ihre Kinder selbst zu erziehen und daß der für schuldig erklärte Mann ihr in der Regel durch Unterhaltsleistungen die Sorge für ihre Kinder durch Beaufsichtigung und Erziehung zu ermöglichen hat. Im allgemeinen ist die geschiedene Frau nicht gehalten, die Kinder zur Betreuung einem anderen anzuvertrauen. Sie ist vielmehr berufen und berechtigt, sich selbst der Sorge und Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Hat die Mutter allerdings schon während der Ehe trotz ihrer Sorgepflicht gegenüber den Kindern gearbeitet, so kann ihr in der Regel auch nach der Scheidung weiterhin die Ausübung der bisherigen Beschäftigung zugemutet werden, wenn sie die Möglichkeit hat, die Kinder einer geeigneten Aufsichtsperson anzuvertrauen. Der Senat hat im Urteil vom 25. September 1969 außerdem ausgeführt, daß die Anrechnung eines tatsächlich erzielten Einkommens unter dem Gedanken der Zumutbarkeit ebenfalls unterbleiben kann, wenn der Unterhaltsschuldner sich seiner Unterhaltspflicht entzogen und die geschiedene Frau nur aus Not gearbeitet hat. Davon gehen auch die beiden von der Revision genannten Entscheidungen des 4. Senats vom 27. Juni und 31. Juli 1968 aaO aus.
Gerade solche die Anrechnung eigener Erwerbseinkünfte der Frau ausschließende Umstände liegen hier aber nach den Feststellungen des LSG vor. Die Klägerin war danach in ihrer Ehe lediglich bis zur Geburt des ersten Kindes (Dezember 1954) berufstätig gewesen und hat sodann erst nach der Scheidung eine regelmäßige Beschäftigung aufgenommen. Eine Berufsausübung war somit in der Ehe der Klägerin nach der Geburt der Kinder nicht üblich. Allein wegen des vom Versicherten verweigerten Unterhalts ist die Klägerin gezwungen gewesen, sich nach der Scheidung eine ständige Beschäftigung zu suchen, nachdem sie zunächst kurz vor der Scheidung durch Aushilfstätigkeiten den dringendsten Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder verdienen mußte und deswegen auch bereits im Scheidungsurteil der Schuldausspruch u. a. auf die Unterhaltspflichtverletzung des Versicherten gegenüber der Klägerin und den beiden Kindern gestützt ist. Die Klägerin ist, wie sie vor dem LSG glaubhaft angegeben hat, noch vor der Aufnahme einer ständigen beruflichen Tätigkeit durch Drohungen des Versicherten daran gehindert worden, ihren Unterhaltsanspruch gerichtlich geltend zu machen. Auch aus diesem Grunde und nicht zuletzt im Interesse ihrer Kinder - der Unterhaltsrückstand betrug für beide beim Tode des Versicherten über 7.000 DM - erfolgte die Arbeitsaufnahme nach der Scheidung aus Not und unter wirtschaftlichem Druck. Die Klägerin hat keine Verwandten zur Betreuung der Kinder. Sie mußte daher in Kauf nehmen, daß sich die Kinder zeitweise auch dann noch allein überlassen blieben, als sie zu gewissen Zeiten nachmittags den Kindergarten besuchten. Die zur Zeit des Todes des Versicherten neun und zwölf Jahre alten Mädchen befinden sich seit Juni 1966 jeweils nach Beendigung der Schule bis zur Rückkehr der Mutter von der Arbeit allein in der Wohnung und sind sich in dieser Zeit selbst überlassen.
Alle diese tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sind von der Revision nicht angefochten worden und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen durfte das LSG aber zu dem Ergebnis kommen, daß es unbillig ist, die Klägerin auf das von ihr durch die Beschäftigung zur Zeit des Todes des Versicherten erzielte Erwerbseinkommen zu verweisen. Ein Rechtsfehler des LSG wird insoweit von der Revision weder substantiiert vorgetragen noch ist ein solcher ersichtlich. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung wird nach den festgestellten Gesamtumständen des Falles von den Kriterien gedeckt, die nach der Rechtsprechung des BSG für die Unterhaltsbedürftigkeit einer geschiedenen Frau auch bei ausreichenden Erträgnissen aus eigener Erwerbstätigkeit wesentlich sind.
Der Revision mußte somit der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen