Orientierungssatz
Wurde vom LSG festgestellt, daß der Kläger zur Ausübung leichter Tätigkeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen, zB als Packer oder Sortierer, nur dann in der Lage ist, wenn er am Vor- und Nachmittag jeweils eine zusätzliche Pause von etwa 10 Minuten einhalten kann und hat das LSG darüber keinen Beweis erhoben, hätte es im Urteil angeben müssen, worauf sich seine Kenntnis stützt. Sofern das LSG diese Tatsache nicht für allgemeinkundig sondern für gerichtskundig hielt, hat es gegen den in GG Art 103 Abs 1, SGG §§ 62 und 128 Abs 2 verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Gerichtskundige Tatsachen müssen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden. Die den Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil nicht verwertet werden.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Fassung: 1949-05-23; ArbZO § 12 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.11.1976; Aktenzeichen L 4 J 147/75) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 04.07.1975; Aktenzeichen S 14 J 165/73) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. November 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der Kläger, der keinen Beruf erlernt hat, war als landwirtschaftlicher Arbeiter, Rangierer, Heizer und Hilfsarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte, die den Rentenantrag des Klägers vom Juli 1970 zunächst abgelehnt hatte, erklärte sich im April 1971 bereit, Erwerbsunfähigkeit bis zum Ende eines vorgesehenen Heilverfahrens anzunehmen. Sie gewährte dem Kläger ferner mit Bescheid vom 2. Juli 1973 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 30. Juli 1972 bis zum 30. September 1973.
Der Kläger hat diesen Bescheid mit der Klage angefochten und Verurteilung zur Zahlung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 4. Juli 1975 die Beklagte verurteilt, Rente wegen Berufsunfähigkeit über den September 1973 hinaus zu zahlen; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 4. November 1976 auf die Berufung der Beklagten die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Er sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten im Sitzen, in geschlossenen Räumen, vollschichtig zu verrichten. Bei einer Tätigkeit als Packer oder Sortierer habe er am Arbeitsplatz Gelegenheit, am Vor- und Nachmittag jeweils die von dem medizinischen Sachverständigen für notwendig gehaltenen kleinen zusätzlichen Pausen von zweimal je zehn Minuten einzuhalten, ohne hierdurch seine Arbeitnehmerpflichten zu verletzen. Der Arbeitsmarkt sei ihm trotz der vom Sachverständigen für geboten gehaltenen Einschränkungen nicht verschlossen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten und gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist beantragt. Er ist der Ansicht, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel. Das LSG sei ohne Beweiserhebung und ohne Quellenangabe davon ausgegangen, daß bei der Tätigkeit als Packer oder Sortierer Gelegenheit bestehe, über die üblichen Pausen gemäß § 12 Abs 2 der Arbeitszeitordnung hinaus am Vor- und Nachmittag jeweils eine 10minütige Pause einzulegen. Es habe damit sowohl den § 62 als auch den § 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Darüber hinaus hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, seinem Beweisangebot zu der Frage zu entsprechen, ob er Diät einhalten müsse und ein Kantinenessen nicht vertrage.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides vom 2. Juli 1973 die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 30. September 1973 hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen;
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie ist der Ansicht, das LSG habe die Möglichkeit von zusätzlichen Arbeitspausen als bekannt voraussetzen dürfen. Neben den in § 12 Abs 2 der Arbeitszeitordnung geregelten Mindestruhepausen gebe es in der Arbeitswelt allgemein bekannte Erholungspausen, die auf die Arbeitszeit entfallen.
II
Der Senat hat dem Kläger wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, weil er bis zur Zustellung des Beschlusses vom 30. September 1977, der ihm das Armenrecht bewilligte und ein Rechtsanwalt beiordnete, ohne Verschulden verhindert war, die Revision formgerecht einzulegen. Die zulässige Revision hat auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Gegenstand des Verfahrens ist - wie schon in der Berufungsinstanz - lediglich die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit über den 30. September 1973 hinaus, denn die Klageabweisung durch das SG, die den Anspruch auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit betrifft, ist mangels Anfechtung durch den Kläger rechtskräftig geworden.
Das angefochtene Urteil beruht auf einem vom Kläger gerügten wesentlichen Mangel des Verfahrens. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger zur Ausübung leichter Tätigkeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen, zB als Packer oder Sortierer, nur dann in der Lage, wenn er am Vor- und Nachmittag jeweils eine zusätzliche kleine Pause von etwa zehn Minuten einhalten kann, um Brot oder Zwieback zu essen. Nach § 12 Abs 2 der Arbeitszeitordnung sind männlichen Arbeitnehmern bei einer Arbeitszeit von 6 Stunden mindestens eine halbstündige oder zwei viertelstündige Ruhepausen zu gewähren. Auf zusätzliche Pausen besteht - wie offenbar auch das LSG angenommen hat - kein Rechtsanspruch. Ein solcher Anspruch könnte aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers allenfalls dann hergeleitet werden, wenn bereits ein Beschäftigungsverhältnis besteht. Bewirbt sich der Arbeitnehmer um einen Arbeitsplatz, so kann der Arbeitgeber die Einräumung einer in der Arbeitszeitordnung nicht vorgesehenen zusätzlichen Ruhepause und damit die Einstellung des Bewerbers ablehnen (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 31. Juli 1973 - 5 RJ 203/73 -).
Der Kläger könnte daher auf die Tätigkeit eines Packers oder Sortierers nur dann verwiesen werden, wenn bei solchen Tätigkeiten üblicherweise die Gelegenheit besteht, die erforderlichen zusätzlichen Pausen einzulegen. Das hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt, denn es hat ausdrücklich festgestellt, daß der Kläger bei den genannten Tätigkeiten am Arbeitsplatz "Gelegenheit" hätte, am Vor- und Nachmittag jeweils eine kleine zusätzliche Pause von 10 Minuten einzuhalten.
Das Berufungsurteil läßt jedoch nicht erkennen, worauf diese Feststellung beruht. Da das LSG keinen Beweis darüber erhoben hat, hätte es im Urteil angeben müssen, worauf es seine Kenntnis stützt. Das wäre allenfalls dann überflüssig, wenn die festgestellte Tatsache allgemeinkundig wäre. Das ist jedoch nicht der Fall; der erkennende Senat kann die vom LSG festgestellte Tatsache nicht als allgemeinkundig betrachten; das hat das LSG wohl auch nicht angenommen. Es könnte sich daher allenfalls um eine gerichtskundige Tatsache handeln. Jedoch müssen gerichtskundige Tatsachen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden. Die den Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil nicht verwertet werden. Das LSG hat daher, wenn es die festgestellte Tatsache für gerichtskundig hielt, gegen den in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes, § 62 SGG und § 128 Abs 2 SGG verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen (vgl BSG in SozR 1500 Nr 4 zu § 128 mit weiteren Hinweisen). Sah es die Tatsache dagegen nicht für gerichtskundig an, so liegt ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) vor.
Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Dazu genügt die Möglichkeit, daß das LSG bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften anders entschieden hätte (vgl SozR Nr 29 zu § 62 SGG). Diese Möglichkeit kann im vorliegenden Fall nicht verneint werden.
Das Urteil des LSG läßt sich auch nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten. Die Notwendigkeit zusätzlicher Pausen kann nicht deshalb als unbeachtlich angesehen werden, weil bei Vollzeitarbeitskräften grundsätzlich der Arbeitsmarkt als nicht verschlossen anzusehen ist (vgl SozR 2200 Nr 19 zu § 1246; ebenso Urteil des 4. Senats vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76-). Das gilt nämlich nicht, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeiten nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann. Gerade um einen solchen Fall handelt es sich hier.
Da das Berufungsurteil somit schon wegen des vom Kläger gerügten Verfahrensmangels aufzuheben ist, kommt es nicht darauf an, ob auch die weitere Verfahrensrüge des Klägers begründet ist.
Der Senat hat hiernach auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Das Berufungsgericht wird nun entweder nach Beweisaufnahme oder nach Hinweis auf die Quellen seiner Kenntnis erneut festzustellen haben, ob bei den für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten die für ihn notwendigen zusätzlichen Arbeitspausen betriebsüblich sind.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil Vorbehalten.
Fundstellen