Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des SozSichAbkZVbg BEL 3

 

Orientierungssatz

Mit Art 3 Abs 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 wollten die Vertragspartner erreichen, daß Rentenleistungen für die Zeiträume nachgezahlt werden, in denen der Berechtigte wegen seines Fortzugs in das Staatsgebiet des anderen Vertragspartners keine Leistungen mehr erhalten hatte. Diese Regelung erweist den Willen der Vertragspartner, rückwirkende Leistungen für Zeiten zu erbringen, in denen der Berechtigte wegen seines Aufenthaltes in dem anderen Staatsgebiet ohne Zahlungen blieb. Diese Absicht der beteiligten Staaten wird nur erreicht, wenn Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 nicht im Sinne einer Stichtagsregelung ausgelegt wird.

 

Normenkette

SozSichAbk BEL Art 3; SozSichAbk BEL Art 4; SozSichAbk BEL Art 54 Abs 1; SozSichAbkZVbg BEL 3 Art 1; SozSichAbkZVbg BEL 3 Art 3 Abs 1; RVO § 615 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1925-07-14

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 30.01.1979; Aktenzeichen I UBf 51/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 21.07.1977; Aktenzeichen 25 U 438/73)

 

Tatbestand

Der Kläger erstrebt die Erstattung derjenigen Rentenleistungen, welche er dem belgischen Staatsangehörigen S (S.) gewährt hat, sowie die Zahlung von Leistungen für die Zukunft. S., der am 12. April 1945 als Arbeitnehmer in Norddeutschland einen Unfall erlitt, lebt seit dem 18. Juni 1956 in Kanada.

Im Dezember 1965 beantragte der Kläger die genannten Leistungen bei der Beklagten unter Bezugnahme auf das Allgemeine Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 -SozSichAbk BEL- (BGBl II 1963, 406) sowie die Dritte Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens -SozSichAbkZVbg BEL 3- (BGBl II 1963, 404). Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 26. März 1968 die Gewährung von Leistungen wegen der Folgen des Unfalles am 12. April 1945 ab. Die Unfallfolgen hätten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit  (MdE) um 30 vH bzw 20 vH nur bis zum 11. April 1947 bedingt. Da S. sich seit 1956 in Kanada aufhalte, könne jedoch gemäß Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 keine Leistung gewährt werden. Die Zahlung der Entschädigung sei auch nach § 1546 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF ausgeschlossen. Ebenso komme eine Zahlung nach dem Übereinkommen Nr 19 der Internationalen Arbeitsorganisation -IAO- (RGBl II 1928, 136) nicht in Betracht, weil dieses Übereinkommen erst am 12. Juni 1951 wieder Geltung erlangt habe.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage vom September 1973 durch Urteil vom 21. Juli 1977 abgewiesen. Eine Rentenzahlung komme nur bis Ende April 1947 in Frage. Für diesen Zeitraum sei die Beklagte jedoch nicht zur Leistungsgewährung verpflichtet, weil S. sich bei Inkrafttreten des SozSichAbk BEL sowie der SozSichAbkZVbg BEL 3 in Kanada aufgehalten habe. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 30. Januar 1979). Der Bescheid vom 26. März 1968 sei, da er nicht formgerecht zugestellt worden sei, rechtzeitig angefochten worden. Die Beklagte berufe sich auch nicht mehr auf die Versäumung der in § 1546 RVO aF genannten Frist durch den Kläger. Dennoch sei die Berufung nicht begründet, weil S. schon zur Zeit des Inkrafttretens der SozSichAbkZVbg BEL 3 in Kanada gelebt habe. Im Rahmen des Übereinkommens Nr 19 IAO sei die SozSichAbkZVbg BEL 3 ein zulässiges Sonderabkommen, weil sie lediglich die rückwirkende Leistungsgewährung betreffe.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er meint, daß es bei der Anwendung der SozSichAbkZVbg BEL 3 auf seinen Wohnsitz - Brüssel - ankomme, weil er ein eigenes Recht im eigenen Namen geltend mache. Im übrigen habe das LSG das Übereinkommen Nr 19 IAO unrichtig angewendet.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. Januar 1979

aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,

1. diejenigen Rentenleistungen zu erstatten, die er dem Versicherten

S. aus Anlaß des Unfallgeschehens vom 12. April 1945 gewährt hat,

2. unter gleichzeitiger Aufhebung des Bescheides der Beklagten

vom 26. März 1968 diejenigen Leistungen zu zahlen, die sie aus

Anlaß des Arbeitsunfalls des S. am 12. April 1945 nach Maßgabe der

gesetzlichen Bestimmungen zu erbringen hat, sowie

3. hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung ist das angefochtene Urteil zutreffen ergangen. Der Kläger sei in die Rechtsstellung des S. getreten, so daß dessen Wohnsitz maßgebend sei. Das Übereinkommen Nr 19 IAO sei erst ab Juli 1951 anzuwenden. Zu diesem Zeitpunkt habe ein Rentenanspruch schon nicht mehr bestanden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen reichen nicht aus zu entscheiden, ob die Beklagte verpflichtet ist, wegen der Folgen des Unfalles des S. am 12. April 1945 Leistungen zu erstatten oder zu erbringen.

Das LSG und die Beteiligten gehen zutreffend davon aus, daß die Frist zur Anfechtung des Bescheides vom 26. März 1968 im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht verstrichen war, und daß der Ablauf der in § 1546 RVO aF normierten Frist dem Begehren des Klägers nicht entgegensteht (BSG SozR Nr 1 zu 3. ZV zum Abk Belgien SozSich Allg vom 7. Dezember 1957). Infolgedessen hatte der Senat lediglich zu überprüfen, ob die erstrebten Leistungen materiell begründet sind.

Da der Kläger im Hinblick auf die Folgen des Unfalls des S. am 12. April 1945 Leistungen zu Lasten der Staatskasse erbracht hat, sind etwaige Ansprüche des S. auf ihn "übergegangen" (Art 7 Abs 3 erster Halbsatz SozSichAbkZVbg BEL 3). Der kraft Gesetzes eingetretene Gläubigerwechsel hat die Anspruchsvoraussetzungen unberührt gelassen. Infolgedessen kommt es darauf an, ob S. Ansprüche erworben hatte, welche auf den Kläger übergehen konnten. Das LSG hat aufgrund seiner Rechtsauffassung nicht geprüft, ob S. Entschädigungsansprüche aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung dem Grunde nach zustehen. Eine Zurückverweisung an das LSG setzt voraus, daß auf den Kläger übergegangene Leistungsansprüche des S. entstanden sein könnten. Das ist der Fall.

Auf den Kläger übergegangene Leistungsansprüchen des S. aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung steht nicht entgegen, daß S. seit dem Unfall nicht mehr in Deutschland seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt hat.

Machen die Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates die Entstehung von Ansprüchen oder die Gewährung von Leistungen oder Leistungsteilen vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt abhängig, so finden diese Rechtsvorschriften auf Personen, die im Gebiet des anderen Staates ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, keine Anwendung, soweit nicht in diesem Abkommen etwas anderes bestimmt ist (Art 4 Abs 1 SozSichAbk BEL). S. hat seinen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien im Juni 1956 aufgegeben. Das SozSichAbk BEL begründet nach Art 54 Abs 1 jedoch keinen Anspruch auf Leistungen für die Zeit vor seinem Inkrafttreten am 9. November 1963 mit Wirkung vom 1. Januar 1959 (Art 57 SozSichAbkBEL iVm der Bekanntmachung vom 19. November 1963 - BGBl II 1964, 10 = BABl 1964, 95). Der Kläger kann Leistungen für die Zeit bis zum 31. Dezember 1958 daher, wovon auch die Instanzgerichte richtig ausgegangen sind, nur aufgrund des SozSichAbkZVbg BEL 3 geltend machen.

SG, LSG und die Beklagte sind übereinstimmend der Auffassung, daß S. keine Leistungen aufgrund der SozSichAbkZVbg BEL 3 zustehen, weil er im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens in Kanada wohnte. Diese Rechtsmeinung vermag der Senat nicht zu teilen. Nach Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 gilt ua Art 4 Abs 1 SozSichAbk BEL für Personen, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten, bereits mit Wirkung vom 1. Oktober 1944 an. Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Voraussetzung allerdings nicht schon deshalb erfüllt, weil Kläger das Königreich Belgien ist; denn auch insoweit ist entscheidend, daß der Kläger, wie der Senat vorstehend dargelegt hat, Ansprüche aus von S. übergegangenem Recht geltend macht und es infolgedessen insoweit darauf ankommt, wo sich S. gewöhnlich aufhielt. Die Meinung der Beklagten könnte aber auf Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 sowie auf diese Vorschrift iVm Art 4 Abs 1 SozSichAbk BEL nur gestützt werden, wenn es sich hierbei um Stichtagsregelungen handeln würde. Das ist aber nicht der Fall.

Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 erstreckt die rückwirkende Gültigkeit der dort genannten Vorschriften des SozSichAbk BEL auf Personen, "die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten". Aus dieser Formulierung ergibt sich keine zwingende Auslegung in der vom LSG gehandhabten Weise, zumal der Gesetzgeber eine derartige Klarstellung durch Einfügen der Worte "im Zeitpunkt des Inkrafttretens ..." vor dem Wort "im" erreicht haben würde. Gegen die Auslegung durch das LSG und die Beklagte spricht schon das nicht einleuchtende Ergebnis, welches beispielsweise im Falle eines Berechtigten erzielt würde, der erst kurz vor Inkrafttreten der SozSichAbkZVbg BEL 3 in das Gebiet eines Vertragsstaates gezogen ist. Er erhielte danach die rückwirkende Leistung auch für Zeiträume, in denen er in keinem der Vertragsstaaten einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Demgegenüber ging es den Vertragsstaaten darum, Zahlungsansprüche für die Dauer des Aufenthaltes des Berechtigten in einem der Vertragsstaaten zu begründen. Dies ist in der SozSichAbkZVbg BEL 3 auch zum Ausdruck gekommen. Art 3 Abs 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 begründet die Verpflichtung zur Nachzahlung für solche Renten, die bereits vor Inkrafttreten des SozSichAbkZVbg BEL 3 gezahlt worden waren und deren Zahlung eingestellt worden ist. Diese Vorschrift setzt die materielle Berechtigung trotz der Zahlungseinstellung voraus, da andernfalls eine Nachzahlung nicht in Betracht kommen könnte. Eine Zahlungseinstellung bei Fortbestehen der materiellen Anspruchsvoraussetzungen kam indes zunächst in erster Linie dann in Betracht, wenn die Ruhensvorschriften des Vertragsstaates eingriffen. Das war beim Verlassen des Staatsgebietes der Fall. Demzufolge wollten die Vertragspartner mit Art 3 Abs 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 erreichen, daß Rentenleistungen für die Zeiträume nachgezahlt werden, in denen der Berechtigte wegen seines Fortzuges in das Staatsgebiet des anderen Vertragspartners keine Leistungen mehr erhalten hatte. Diese Regelung erweist den Willen der Vertragspartner, rückwirkende Leistungen für Zeiten zu erbringen, in denen der Berechtigte wegen seines Aufenthaltes in dem anderen Staatsgebiet ohne Zahlungen blieb. Diese Absicht der beteiligten Staaten wird nur erreicht, wenn Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 nicht im Sinne einer Stichtagsregelung ausgelegt wird. Die von den Vorinstanzen vertretene andere Auslegung des Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 und des Art 4 Abs 1 SozSichAbk BEL würde dem Willen der Vertragspartner nicht gerecht, den Aufenthalt im Staatsgebiet des anderen Vertragspartners demjenigen im eigenen Staatsgebiet gleichzusetzen. S. hat folglich bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen, welche das LSG noch festzustellen haben wird, gemäß Art 1 SozSichAbkZVbg BEL 3 iVm Art 4 Abs 1 SozSichAbk BEL einen Anspruch auf Nachzahlung seiner Verletztenrente für die Dauer seines Aufenthalts bis zum 31. Dezember 1958 in einem der Vertragsstaaten erworben; den Anspruch kann der Kläger gem Art 7 Abs 3 SozSichAbkZVbg BEL 3 geltend machen, soweit er für denselben Zeitraum Leistungen zu Lasten der Staatskasse erbracht hat. Auch diese Voraussetzung wird das LSG noch festzustellen haben.

Der Senat läßt offen (s BSG SozR aaO), ob und von welchem Zeitpunkt an ggf ab 1. Januar 1959 die Auszahlung zustehender Rentenansprüche auf Art 3 Abs 2 und Art 4 Abs 1 und 3 SozSichAbk BEL, Art 8 der Verordnung Nr 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer -EWG-V 3- (BGBl II 1959, 473; BABl 1959, 265) oder Art 3 der Verordnung Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr 1408/71) vom 14. Juni 1971, gestützt werden können. Diese Vorschriften stellen übereinstimmend die Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland und des Klägers im Hinblick auf die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gleich. Demgemäß steht dem S. - beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen, welche das LSG noch festzustellen hat - Verletztenrente zu, wenn und solange ein in Kanada lebender deutscher Staatsangehöriger Anspruch auf diese Rente wirksam geltend machen konnte oder kann. Infolgedessen wird das LSG ggf zu entscheiden haben, ob die Ruhensvorschriften - § 615 Abs 1 Nr 2 RVO in der bis 30. Juni 1963 geltenden Fassung - Anwendung finden.

Das LSG wird zunächst die fehlenden Feststellungen treffen. Zu diesem Zweck war die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661644

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