Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 07.02.1992) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Februar 1992 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob dem Kläger Ansprüche auf Versorgungsrente gegen den Beklagten zustehen.
Der 1920 geborene, in Polen lebende Kläger erlitt als Wehrmachtsangehöriger 1942 eine Splitterverletzung an der linken Hand, einen Durchschuß am linken Ellenbogen, Granatsplitterverletzungen am Schädel, an den Lippen, der linken Brust und am linken Oberarm sowie einen Durchschuß am linken Handgelenk. Im Februar 1984 beantragte er beim Beklagten Rentenleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Dabei machte er Folgen der erlittenen Verwundungen sowie einen Herzinfarkt, Diabetes mellitus, Asthma und Rheuma als Schädigungsfolgen geltend.
Der Beklagte veranlaßte eine chirurgisch-orthopädische Untersuchung in Polen und zog ein Rentengutachten der polnischen Sozialversicherungsanstalt sowie Berichte über stationäre Behandlungen in den Jahren 1978 bis 1984 bei. Aufgrund dieser Unterlagen ließ er in Deutschland ein Aktenlagegutachten erstellen und lehnte mit Bescheid vom 29. August 1986 idF des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 1988 die Gewährung von Beschädigtenrente mit der Begründung ab, daß die Schädigungsfolgen insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von weniger als 25 vH verursachten.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) ließ 1989 in Polen Röntgenaufnahmen, Fotografien und ein chirurgisch-orthopädisches Gutachten erstellen. Ferner holte es von einem inländischen Orthopäden ein weiteres Gutachten nach Aktenlage ein. Dem Vorschlag dieses Sachverständigen entsprechend erkannte der Beklagte nunmehr als Schädigungsfolgen an: „Reizlose Narben im Bereich des Schädels, der Nase und der Ober- und Unterlippe mit geringfügigen kosmetischen Beeinträchtigungen; reizlose Narben am linken Oberarm, linken Ellenbogengelenk, eingeheilte Metallstecksplitter im linken Oberarm; Knochenunregelmäßigkeiten am ellenseitigen Oberarmknochen links nach Schußverletzung; Deformierung des rechten Handkahnbeines und des Os capitatum mit arthrotischen Veränderungen im Bereich der Handwurzelknochen nach knöchern verheiltem Schußbruch; mäßige Bewegungseinschränkung im rechten Handgelenk; Narben am rechten Handgelenk und der rechten Hand; Narben im Bereich des Brustkorbes mit reizlos eingeheilten Stecksplittern in der Nähe des Brustbeines.” Die MdE nahm der Beklagte im Einklang mit dem gerichtlichen Sachverständigen weiterhin mit weniger als 25 vH an. Mit Urteil vom 11. Juni 1990 wies das SG die Klage ab. Die schädigungsbedingte MdE betrage nur 20 vH, erreiche also kein rentenberechtigendes Ausmaß. Erhebliche kosmetische Entstellungen lägen nicht vor.
Im Berufungsverfahren übersandte der Kläger das Attest eines polnischen Arztes. Diesem zufolge könnten Gelenkbeschwerden in der Wirbelsäule sowie der oberen und unteren Extremitäten auf Witterungseinflüsse während des Kriegsdienstes zurückzuführen sein. Außerdem beantragte der Kläger Untersuchung durch eine ärztliche Kommission in Deutschland. Die Entstellung durch Narben im Gesicht sei unterbewertet worden. Der Beklagte bezog sich demgegenüber auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. G. … vom 15. März 1991. Eine schädigungsbedingte rheumatische Erkrankung liege nicht vor. Es handele sich um altersbedingte Verschleißschäden.
Mit Urteil vom 7. Februar 1992 wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurück. Der Kläger leide nicht an weiteren als den bereits anerkannten Schädigungsfolgen bei einer Gesamt-MdE von unter 25 vH. Den vorliegenden medizinischen Unterlagen sei eine rheumatische Erkrankung nicht zu entnehmen. Eher handele es sich um altersbedingte Aufbrauchschäden. Einer Untersuchung des Klägers in Deutschland habe es nicht bedurft.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision, mit welcher der Kläger in erster Linie eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) rügt. Gerade das Ausmaß der Gesichtsentstellung durch Narben sei im Rahmen einer Begutachtung durch Aktenlage nicht zweifelsfrei abzuschätzen, auch nicht anhand der beigezogenen Fotografien. Dem LSG hätte es sich daher aufdrängen müssen, weitere Feststellungen zur Beurteilung seiner MdE zu treffen. Das LSG hätte überdies die Bescheinigung des polnischen Arztes zum Anlaß für eine Untersuchung des Klägers in Deutschland nehmen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Februar 1992 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision des Klägers.
Er meint, der Sachverhalt sei in zweiter Instanz ausreichend aufgeklärt worden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS einer Zurückverweisung an das LSG begründet. Zu Recht rügt der Kläger eine Verletzung des § 103 SGG durch das LSG. Eine solche Verletzung ist anzunehmen, wenn das LSG eine Ermittlungsmaßnahme unterlassen hat, zu der es sich nach den Umständen des Falles und unter Zugrundelegung seiner eigenen Rechtsansicht hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr des Bundessozialgerichts ≪BSG≫, vgl beispielsweise SozR 1500 § 160 Nr 5). Ein solcher Fall liegt hier vor. Das LSG hätte sich insbesondere bei der Entscheidung der Frage, ob sich aus der Gesichtsentstellung des Klägers eine beachtliche MdE ergibt, nicht auf die Meinung der ärztlichen Sachverständigen und den Eindruck von Fotografien verlassen dürfen. Es hätte den Kläger selbst in Augenschein nehmen und sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Ausmaß seiner Entstellung verschaffen müssen.
Mit welchen Beweismitteln das Gericht seine Pflicht zur Amtsermittlung erfüllt, liegt zwar weitgehend in seinem Ermessen. In seinem Ermessen liegt auch regelmäßig die Entscheidung, ob es sich von einer rechtserheblichen Tatsache durch unmittelbare Wahrnehmung oder durch Zeugen, Sachverständige, Urkunden, Pläne oder Fotografien zuverlässig informiert. Es gibt aber Fälle, in denen sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von der rechtserheblichen Tatsache verschaffen muß. Diese Verpflichtung des Gerichts besteht regelmäßig dann, wenn das Gesetz nicht eine meßbare und eindeutig beschreibbare Tatsache, sondern den Eindruck für rechtserheblich erklärt, den eine Tatsache auf die Allgemeinheit macht und gerade über diesen Eindruck gestritten wird. Über solche Fälle ist auch in anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit gelegentlich zu entscheiden, etwa wenn im Baurecht über die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes gestritten wird oder wenn im Wettbewerbsrecht Verwechslungsgefahr oder Irreführung im Streit steht. Hier ist Fachkunde nicht nur nicht erforderlich, sie kann sogar hinderlich sein. Denn die entsprechende Bewertung durch die Allgemeinheit wird durch das Empfinden eines Durchschnittsbetrachters, nicht durch das eines Sachverständigen bestimmt. In diesen Fällen kommt der Eindruck des Gerichts, insbesondere wenn es – wie hier – auch mit ehrenamtlichen Richtern besetzt ist, dem Eindruck der Allgemeinheit am nächsten. Dafür sprechen auch die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz unter Nr 26.2, wo es heißt, daß es auf den Eindruck von Personen ankommt, die nur selten Umgang mit Behinderten haben. Sich in deren Lage zu versetzen, ist für den Arzt schwieriger als für das Gericht.
Auch das Maß der Entstellung hängt im wesentlichen davon ab, wie störend diese Abweichung von der Norm in der Allgemeinheit empfunden wird. Diese Empfindung kann Rückwirkungen auf die Psyche des Beschädigten haben. Für das Maß der Entstellung sind diese aber nicht entscheidend. Es sind deshalb regelmäßig auch keine Funktionsstörungen festzustellen, für die nur eine Untersuchung durch Sachverständige die Grundlage bilden könnte. Die Festsetzung der MdE ist das Ergebnis einer Abschätzung der Auswirkungen der Schädigungsfolge im wirtschaftlichen Leben (§ 30 Abs 1 Satz 2 BVG). Dafür ist ebenso wie für die Festsetzung des Grades der Behinderung vorrangig das Gericht zuständig (BSG SozR 3100 § 30 Nr 13; SozR 3870 § 3 Nrn 4 und 26), das allenfalls die Hilfe eines berufskundlichen Sachverständigen in Anspruch nehmen könnte, wenn es auf die Verhältnisse in einem bestimmten Beruf ankommen sollte (wegen Ausnahmefällen, in denen das Gericht auch bei Entstellungen zweckmäßigerweise Mittelspersonen einschalten sollte, vgl Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 49. Aufl, Anm 2 zu § 372).
Die Fachkunde in Angelegenheiten des Versorgungsrechts ist allerdings erforderlich, um den zutreffenden MdE-Grad festsetzen zu können. Der persönliche Eindruck allein reicht nicht aus. Das mit betroffenen und erfahrenen ehrenamtlichen Richtern besetzte Gericht hat die Bewertung der Behinderung in das allgemeine Gefüge einzupassen, das sich in den auf gesetzlicher Grundlage (§ 30 Abs 1 Satz 6 BVG) beruhenden Verwaltungsvorschriften für erhebliche äußere Körperschäden sowie in den „Anhaltspunkten” findet (vgl hierzu BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RVs 1/91 – SGb 1993, 581 – mit Anm von Dirk Neumann). Dabei ist zu beachten, daß nach der Rechtsprechung des Senats der Allgemeinheit ein hohes Maß an Belastung durch behinderungsbedingte Auffälligkeiten zuzumuten ist (Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, MDR 1994, 77).
Außerdem hätten sich dem LSG aber auch wegen der ärztlich bescheinigten Gelenkbeschwerden des Klägers im Wirbelsäulenbereich und an den Extremitäten weitere Ermittlungen aufdrängen müssen. Es hätte noch durch einen Internisten klären lassen müssen, ob beim Kläger rheumatische Krankheitsbilder vorliegen und ob diese ggf mit Wahrscheinlichkeit auf extreme Witterungseinflüsse während des Kriegsdienstes zurückgehen. Eine solche Begutachtung hat bisher weder in Polen noch in Deutschland stattgefunden.
Da der Senat die noch erforderlichen Ermittlungen nicht selbst nachholen kann, ist der Rechtsstreit antragsgemäß an das LSG zurückzuverweisen (§§ 163, 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung ist der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorzubehalten.
Fundstellen