Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.03.1992) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. März 1992 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger hatte seit Jahren Auseinandersetzungen mit seinem Nachbarn. Diese führten nach Drohungen, Strafanzeigen und Zivilklagen am 10. März 1984 zu einer tätlichen Auseinandersetzung vor dem Haus des Klägers. Am 7. September 1984, als schon keine äußeren Verletzungen mehr festzustellen waren, erstattete der Kläger gegen seinen Nachbarn deswegen Anzeige. Die Ermittlungen wurden jedoch nach § 154 Strafprozeßordnung (StPO) eingestellt, da der Nachbar zwischenzeitlich wegen schwererer Delikte angeklagt worden war. Im April 1986 beantragte der Kläger wegen seiner bei der Schlägerei am 10. März 1984 erlittenen Verletzungen Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (OEG). Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6. Juni 1986 ab, weil ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff nicht erwiesen sei. Der Tathergang sei zweifelhaft. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juli 1986 zurück.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund durch Urteil vom 28. Juni 1989 aus den Gründen des angefochtenen Bescheides abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 24. März 1992 den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. April 1986 Versorgung nach dem OEG wegen
- neurotischer Entwicklung mit übersteigertem Schmerzerleben am ganzen Körper, Magengeschwürsleiden, vegetativer Dysregulation und geringgradiger paranoider Erlebnisverarbeitung,
- Tinnitus am linken Ohr
nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH zu gewähren.
Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Dieser Angriff habe bei dem Kläger ein schweres seelisches Trauma hervorgerufen, das dieser angesichts einer bestehenden Veranlagung zu neurotischen Verhaltensweisen nicht ausgleichen könne. Neben dieser Veranlagung des Klägers habe das Ereignis vom 10. März 1984 eine etwa gleichwertige Bedingung für das heute feststellbare Dauerleiden gesetzt. Es sei insoweit dem psychiatrischen Gutachten des Sachverständigen Dr. M. … zu folgen. Schon aus Laiensicht sei es naheliegend, daß gerade der Angriff einer Person, deren schwere kriminelle Aktivität gerichtlich festgestellt und für den Betroffenen auch in dieser Form erkennbar gewesen sei, eine tiefgreifende seelische Störung eher hervorrufen könne, als dies im Gefolge einer körperlichen Auseinandersetzung mit anderen Personen anzunehmen sei. Es gebe keine Hinweise darauf, daß Ereignisse vor 1984 die Krankheit des Klägers hervorgerufen haben können. Daher habe für den Senat auch kein Anlaß bestanden, dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Beklagten zu folgen, noch Familienangehörige des Klägers zu seiner Persönlichkeitsstruktur zu vernehmen.
Es habe auch kein Anlaß bestanden, von dem Sachverständigen Dr. M. … eine ergänzende Stellungnahme zu den Nrn 69 bis 71 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983 (Anhaltspunkte) einzuholen.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung der §§ 1 Abs 1 OEG und 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Zum einen habe das LSG schon nach seinen eigenen Feststellungen keine Schädigungsfolge iS der Entstehung, sondern lediglich eine Verschlimmerung annehmen dürfen. Selbst diese Verschlimmerung lasse sich jedoch nicht nachweisen, weil der Gesundheitszustand des Klägers vor dem März 1984 nicht hinreichend geklärt sei. Zum anderen habe das LSG die durch den Beweisantrag des Beklagten in der mündlichen Verhandlung angeregte Klärungsmöglichkeit durch Vernehmung der Schwester des Klägers zu dessen Persönlichkeitsstruktur nicht genutzt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. März 1992 abzuändern und die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. März 1992 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die Einwendungen des Beklagten für nicht begründet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung begründet. Das LSG hat die Anforderungen, die das Gesetz (§ 1 Abs 9 Satz 2 OEG, § 1 Abs 3 Satz 1 BVG) an die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem schädigenden Vorgang und einem Dauerleiden stellt, nicht in vollem Umfang beachtet.
Das Gutachten des Psychiaters Dr. M. …, auf das sich das LSG allein gestützt hat, ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung, das seelische Dauerleiden des Klägers sei auf die Schlägerei mit seinem Nachbarn zurückzuführen. In diesem Gutachten fehlen Ausführungen dazu, ob und in welchem Umfang es in der medizinischen Wissenschaft Erfahrungen und Erkenntnisse darüber gibt, daß schädigende Vorgänge ohne bleibenden körperlichen Schaden und ohne feststellbare seelische Schädigung geeignet sind, das seelische Dauerleiden als gesundheitliche Folgeschädigung herbeizuführen, an dem der Kläger leidet.
Das Gutachten hat alle Umstände des Einzelfalls, die für und gegen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Schlägerei und der psychischen Krankheit sprechen, dargelegt und abgewogen. Nach eingehender Untersuchung und Befragung des Klägers ist es zu dem Ergebnis gekommen, daß mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spreche. Diese Ausführungen sind entgegen der Meinung des LSG nicht geeignet, die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu begründen. Die Wahrscheinlichkeit, die Anlaß ist, den Schaden der Allgemeinheit zuzurechnen, setzt mehr voraus als die persönliche Meinung eines Gutachters im Einzelfall. Sie setzt voraus, daß der schädigende Vorgang seiner Art nach geeignet ist, Krankheiten der Art hervorzurufen, wie sie im Einzelfall als Schädigungsfolge geltend gemacht werden.
Diese allgemeine Eignung eines schädigenden Vorgangs für einen Dauerschaden muß allerdings in vielen Fällen nicht ausdrücklich begründet werden. Das gilt vor allem für äußere Verletzungen und äußere Körperschäden, die sich schon nach dem äußeren Bild als Verletzungsfolgen darstellen. Das gilt auch für Krankheiten, für die zwar mehrere Ursachen in Betracht kommen, bei denen aber anerkannt ist, daß Verletzungen der im Einzelfall vorliegenden Art diese Krankheit vielfach hervorrufen. In diesen Fällen kann für die Begründung der Wahrscheinlichkeit ein Gutachten genügen, das schlüssig darlegt, daß im Einzelfall tatsächlich die festgestellte Verletzung und nicht ein anderer Umstand die Krankheit herbeigeführt hat.
Die allgemeine Eignung einer Schädigung für eine Krankheit ist aber zu begründen, wenn für die Verwaltung und das Gericht kein Anhalt dafür besteht, daß schon ausreichende Erfahrungen damit gemacht worden sind, daß eine Einmalschädigung dieser Art überhaupt seelische Krankheiten dieses Ausmaßes zur Folge haben können. Daß eine ausdrückliche Begründung erforderlich ist, zeigt die Rechtslage in den Fällen, in denen die Schädigung kein plötzliches Ereignis, sondern eine längerdauernde Einwirkung oder Belastung ist. In diesen Fällen verlangt das Gesetz als Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch ausdrücklich, daß sich Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft gebildet haben, die so überzeugend sind, daß sie zu einer normativen Regelung geführt haben (vgl § 551 RVO). Sachverständige Meinungen im Einzelfall sind irrelevant, wenn solche Erkenntnisse nicht vorliegen.
Wenn als Schädigung ein plötzliches Ereignis in Betracht kommt und die eigentliche seelische Verletzung nicht zu isolieren ist, weil lediglich später eine Krankheit geltend gemacht wird, von der nicht feststeht, daß sie generell auf ein solches Ereignis zurückgeführt werden kann, ist es Aufgabe der Verwaltung und der Gerichte, entsprechende Ermittlungen anzustellen, insbesondere den Sachverständigen gezielt nach Erkenntnissen und Erfahrungen in der medizinischen Wissenschaft zu fragen. Das gilt vor allem bei psychischen Krankheiten, bei denen eine ursächliche Verknüpfung mit einem plötzlichen Ereignis kaum jemals überzeugend zu begründen ist. Diese Schwierigkeit hat im Privatversicherungsrecht dazu geführt, psychische Krankheiten vom Versicherungsschutz grundsätzlich auszunehmen (§ 2 Abs 3 Buchst b der Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen, vgl dazu Grimm, AUB-Komm, 1987 § 2 RdNr 47; § 19 Abs 7 der Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrzeugversicherung, vgl dazu Stiefel/Hofmann, AKB- und AVSR-Komm, 14. Aufl § 19 RdNr 40).
Das LSG hat selbst durch seine pauschalen Hinweise in den Beweisfragen auf Nrn 36 bis 38, 40 bis 43 der „Anhaltspunkte” zum Ausdruck gebracht, daß Angaben zur allgemeinen Eignung einer Schlägerei als Ursache für ein seelisches Dauerleiden erforderlich sind. Denn in Nr 38 der „Anhaltspunkte” wird zum Thema „Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs” zutreffend von den Gutachtern verlangt, daß sie die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung der medizinischen Beurteilung zugrunde legen. Es genügt danach nicht, daß ein einzelner Wissenschaftler eine Arbeitshypothese aufgestellt oder einen Erklärungsversuch unternommen hat. Es kommt nicht auf die subjektive Auffassung des beurteilenden Arztes an, sondern auf die Plausibilität dieser Meinung durch medizinisches Erfahrungswissen.
Für Neurosen und psychogene Reaktionen wird in Nr 71 der „Anhaltspunkte” der damalige wissenschaftliche Meinungsstand wiedergegeben. Abnorme Erlebnisreaktionen werden danach als wahrscheinliche Ursachen für psychische Krankheiten nur anerkannt, wenn auch bei gewöhnlicher seelischer Reaktionsweise eine ausgeprägte affektive Reaktion zu erwarten gewesen wäre. Daß Dr. M. … etwa unausgesprochen von diesen oder inzwischen fortentwickelten medizinischen Erkenntnissen als Grundlage seiner Beurteilung ausgegangen sei, ergibt sich aus seinen Ausführungen nicht. Der Gutachter wäre auch ausdrücklich auf die besonderen Anforderungen hinzuweisen gewesen, die im vorliegenden Fall zu stellen sind. Vor allem hätte, was auch der Beklagte rügt, besonders Nr 71 der Anhaltspunkte herausgestellt werden müssen. Das in dieser Nummer enthaltene Gebot, ein belastendes Erlebnis auch bei vorbelasteten Personen nur dann als wahrscheinliche Ursache für eine längerdauernde psychische Krankheit anzuerkennen, wenn ein solches Erlebnis auch bei Gesunden zu einer außerordentlichen Reaktion geführt hätte, beruht nicht nur auf medizinischen Erkenntnissen; es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung im Versorgungsrecht und im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Geschädigte ist einerseits zwar grundsätzlich mit seiner individuellen Veranlagung geschützt (BSGE 70, 164 f): Wenn eine Schädigung wie im Fall des Klägers nur deshalb zu einer erheblichen Gesundheitsstörung führte, weil der Geschädigte eine entsprechende Veranlagung hatte, ist die Schädigung nicht allein wegen dieser Veranlagung als wahrscheinliche wesentliche Ursache abzulehnen. Andererseits ist in solchen Fällen zu prüfen, ob es sich nicht um eine Gelegenheitsursache handelt, weil die Veranlagung so leicht ansprechbar ist, daß jederzeit auch ein nicht versorgungs- oder versicherungsrechtlich geschütztes Ereignis die Krankheit hätte auslösen können (vgl BSGE 62, 220, 222).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 1175018 |
BSGE, 51 |
NJW 1995, 1640 |
Breith. 1994, 856 |