Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenze richterlicher Ermessensfreiheit

 

Orientierungssatz

Zur Grenze richterlicher Ermessensfreiheit:

Es steht zwar im Ermessen des Tatsachenrichters, wann und auf Grund welcher Ermittlungsergebnisse er sich vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts überzeugt und ob er noch weitere Ermittlungen zur Tatsachenfeststellung vornimmt. Er überschreitet jedoch die Grenzen seiner Ermessensfreiheit, wenn er ein medizinisches Gutachten ohne Berücksichtigung von dessen Unklarheit und Unvollständigkeit mit zur Grundlage seiner Überzeugungsbildung verwendet.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 106, 128

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.05.1956)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1956 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger leistete Wehrdienst im zweiten Weltkrieg und war danach bis 17. März 1948 in amerikanischer und französischer Kriegsgefangenschaft. Er beantragte im Februar 1951 Rente wegen eines Herzleidens, das er auf Einwirkungen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückführt. Das Versorgungsamt hat seinen Antrag nach versorgungsärztlicher Untersuchung (Dr. G.-H. vom 21.1.1952) mit Bescheid vom 8. April 1952 abgelehnt. Der Beschwerdeausschuß hat den Einspruch des Klägers nach ärztlicher Begutachtung (Dr. R. vom 24.10.1952) zurückgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das Oberversicherungsamt ein Gutachten des Knappschaftskrankenhauses G (Dr. med. habil. A. und Dr. V.) vom 2. Juli 1953 und auf weiteres Vorbringen des Klägers eine erneute Stellungnahme dieses Krankenhauses vom 5. März 1954 eingeholt. Das Sozialgericht (SG.), auf das der Rechtsstreit mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen ist, hat mit Urteil vom 11. März 1954 die Klage abgewiesen. Das Herzleiden sei Folge einer akuten Erkrankung vom 5. Dezember 1950, Brückensymptome zum Wehrdienst und zur Gefangenschaft fehlten. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG.) hat der Kläger weitere Bestätigungen des Dr. R. der ihm 1948, und des Dr. B. der ihn anschließend an die Erkrankung vom 5. Dezember 1950 behandelt hat, sowie Erklärungen von Arbeitgebern und Kriegskameraden vorgelegt. Das LSG. hat ein Gutachten der Städtischen Krankenanstalten D vom 21. November 1955 (Prof. Dr. R.) eingeholt. Mit Urteil vom 3. Mai 1956 wurde die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Das LSG. hat ausgeführt, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Herzleiden und Wehrdienst oder Kriegsgefangenschaft bestehe nicht. Nach dem Gutachten des Dr. R. sei der akute Herzinfarkt von 1950 keine Schädigungsfolge. Damit seien die vorangegangenen Gutachten des Dr. A., Dr. R. und Dr. G.-H. bestätigt. Daran ändere nichts, daß Dr. A. und Dr. R. die Annahme des Dr. G.-H. und des Dr. R. das Herzleiden sei durch eine Grippe verursacht worden, nicht mit Bestimmtheit bestätigten. Jedenfalls sei das Herzleiden nicht auf den Wehrdienst und die Gefangenschaft zurückzuführen. Die Gutachter Dr. A. und Dr. R. hätten sich auch mit den verschiedenen, nach und nach beigebrachten Unterlagen des Klägers auseinandergesetzt und diese berücksichtigt. Eine weitere Sachaufklärung sei daher nicht notwendig. Revision ist nicht zugelassen.

Der Kläger hat durch den Sozialreferenten G. des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißten-Angehörigen Deutschlands e. V., der als Rechtsanwalt beim Landgericht Hannover zugelassen ist, Revision eingelegt. Er hat beantragt, die Urteile des LSG. und SG. aufzuheben und ihm wegen des Herzleidens Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v. H. ab 1. Februar 1951 zu gewähren. Gerügt wird eine Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG als wesentliche Verfahrensmängel des LSG. Bereits in der Vorinstanz habe der Kläger vorgebracht, daß Brückensymptome festzustellen seien, und dazu Bescheinigungen vorgelegt, und zwar seines früheren militärischen Vorgesetzten Korte über Herzbeschwerden, Dienstunfähigkeit und Behandlung während des Wehrdienstes und seines Kriegskameraden O. seiner Ehefrau und seiner Schwägerin, ferner eine Bestätigung des Arbeitgebers in französischer Gefangenschaft über seine damaligen Herzbeschwerden, des Dr. R. über die Behandlung nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft und des Dr. B. der ihn im Dezember 1950 an einen Facharzt überwiesen habe. Das LSG. habe diese Nachweise des Klägers über ausreichende Brückensymptome nicht berücksichtigt. Es habe ohne eigene Stellungnahme nur auf die Gutachten des Dr. A. und Dr. R. verwiesen, die die beigebrachten Unterlagen überprüft und berücksichtigt hätten. Dr. A. habe aber zu diesen im Berufungsverfahren vorgelegten Beweisen überhaupt nicht Stellung nehmen können, weil sein Gutachten bereits im ersten Rechtszug erstattet wurde. Dr. R. habe sich mit dem Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz nicht auseinandergesetzt. Das Urteil leide an einem Mangel, weil es erhebliche Teile des Prozeßstoffes nicht würdige und nur die Auffassung der Gutachter ohne eigene Stellungnahme des Gerichts wiedergebe. Dies verstoße gegen § 128 SGG; denn danach habe das Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen seien. Das LSG. hätte in Würdigung der vom Kläger vorgebrachten Brückensymptome den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufklären müssen. Es hätte sich dann ergeben, daß der Herzinfarkt eine Schädigung durch die Gefangenschaft sei, zumal nach dem Gutachten des Dr. R. eine Wasserhaushaltsstörung als Folge einer Mangelernährung auch noch nach Jahren nachweisbar auftreten könne.

Der Beklagte hat Verwerfung, hilfsweise Zurückweisung der Revision beantragt.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Es brauchte nicht entschieden zu werden, ob die Mitglieder und Angestellten des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißten-Angehörigen Deutschlands e. V. als Prozeßbevollmächtigte nach § 166 Abs. 2 Satz 1 SGG zugelassen sind, weil der Prozeßbevollmächtigte des Klägers bereits im Zeitpunkt der Revisionseinlegung als Rechtsanwalt zugelassen war und als solcher nach § 166 Abs. 2 Satz 2 SGG als Prozeßbevollmächtigter beim Bundessozialgericht (BSG.) zugelassen ist.

Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, BSG. 1 S. 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG, BSG. 1 S. 254).

Die Revision rügt als wesentliche Mängel im Verfahren des LSG. Verstöße gegen §§ 103, 106, 128 SGG. Die gerügten wesentlichen Verfahrensmängel liegen vor. Die Revision ist daher zulässig.

Das LSG. hat eine weitere Sachaufklärung über das Vorliegen von Brückensymptomen zwischen der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im März 1948 und der Erkrankung am 5. Dezember 1950 nicht für notwendig gehalten, weil die Gutachter Dr. A. und Dr. R. denen es gefolgt ist, sich mit den vom Kläger nach und nach beigebrachten Unterlagen auseinandergesetzt und sie bei Erstellung ihrer Gutachten berücksichtigt hätten.

Grundsätzlich steht es im Ermessen des Tatsachenrichters, wann und auf Grund welcher Ermittlungsergebnisse er sich vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts überzeugt und ob er noch weitere Ermittlungen zur Tatsachenfeststellung vornimmt.

Das LSG. geht hier jedoch bei der Ausübung seines Ermessens von irrtümlich angenommenen Voraussetzungen aus. Als Dr. A. sein Gutachten vom 2. Juli 1953 erstattete, lagen die vom Kläger erwähnten Bescheinigungen überhaupt noch nicht vor. Als Dr. A. seine ergänzende Stellungnahme vom 5. März 1954 abgab, waren nur die Erklärungen der Ehefrau und der Schwägerin des Klägers über seinen Gesundheitszustand bei Rückkehr aus der Gefangenschaft, die Bescheinigung des Arbeitgebers in Frankreich über Schwächeanfälle, die Bestätigung des Kriegskameraden O. über Herzbeschwerden 1941/44 und das Zeugnis des Dr. R. vom 29. Dezember 1953 über die Behandlung im April und Mai 1948 wegen des Erschöpfungszustandes, der Herz- und Kreislaufschwäche und der Vergrößerung der Leber mit Ödemen vorhanden. Dagegen kannte der Gutachter Dr. A. die erst im Berufungsverfahren vorgelegten Bescheinigungen des Dr. B. über die Behandlung im Dezember 1950 und über den Zustand 1954/55, ferner die weiteren Äußerungen des Dr. R. (Diagnose Herzmuskelschaden und leichte Herzinsuffizienz 1948, gute Gesundheit vor Einberufung), weiter die Bestätigung des Arbeitgebers, bei dem der Kläger im November und Dezember 1950 gearbeitet hat, und auch die des ihm 1941 bis 1944 vorgesetzten Unteroffiziers K. nicht. Er konnte sie somit bei seinem Gutachten über die Frage von Brückensymptomen nicht verwerten. Insbesondere kannte er die neuen Bescheinigungen des Dr. med. R. vom 15. März 1954, 11. Juni 1954 und 27. Juni 1955 nicht. In diesen Attesten bescheinigt Dr. R. nicht nur, daß der Kläger bis zur Einberufung zur Wehrmacht keine ernsten Erkrankungen, also auch nicht des Herzens, gehabt hat, er bezeichnet darüber hinaus gegenüber seinem ersten Attest vom 29. Dezember 1953, in dem er allgemein von Herz- und Kreislaufschwäche sprach, das Leiden als Herzmuskelschaden und Insuffizienz des Herzens und gibt an, daß die Herztöne rein (klappend), die Herzreaktion aber nicht ganz regelmäßig gewesen seien. Damit ist eindeutig eine bestimmte Herzerkrankung einen Monat nach der im März 1948 erfolgten Entlassung ärztlicherseits festgestellt. Es kann dahingestellt bleiben, wie diese neuen Bescheinigungen letztlich medizinisch zu werten sind, jedenfalls haben sie mindestens ihrem Wortlaut nach einen anderen Inhalt als die erste Bescheinigung. Da immer wieder - 1948, 1950, 1953, 1955 - als Diagnose "Herzmuskelschaden" angegeben wurde, wäre es erforderlich gewesen, bei Dr. R. rückzufragen, ob er mit seinen neuen Bescheinigungen die erste davon abweichende Diagnose ändern wollte. Wenn er dies verneint hätte, wäre gegen die Verwendung des Gutachtens des Dr. A. insoweit nichts einzuwenden gewesen. Im anderen Falle hätte Dr. A. befragt werden müssen, ob er auch unter Berücksichtigung der neuen Bescheinigungen des Dr. ... bei seiner Beurteilung verbleibe. Ohne jedoch diese Anfrage gestellt und ohne sich mit dem verschiedenen Inhalt der Bescheinigungen auseinandergesetzt zu haben, hat das LSG. das Gutachten des Dr. A. seiner Überzeugungsbildung zugrunde gelegt und ist bei seiner Beweiswürdigung zu Unrecht davon ausgegangen, Dr. A. habe die vom Kläger nach und nach beigebrachten Unterlagen vollständig und ausreichend berücksichtigt. Das LSG. hat damit die gesetzlichen Grenzen seiner Ermessensfreiheit verletzt.

Dieser Verstoß gegen zwingende Verfahrensgrundsätze wird nicht dadurch geheilt, daß das LSG. sich zur Begründung, weshalb eine weitere Sachaufklärung nicht notwendig sei, insbesondere auf das Gutachten des Dr. R. gestützt hat, dem alle Unterlagen vorlagen; denn dieses Gutachten setzt sich mit dem Prozeßstoff gleichfalls nicht genügend auseinander. Wegen der Vorgeschichte usw. sagt es lediglich: "siehe Akten", ohne daß damit erkennbar würde, daß der Gutachter auf die neuen Bescheinigungen eingegangen ist. Hinsichtlich der beigebrachten Bescheinigungen heißt es nur, daß Zeichen der Rhythmusstörung über Dezember 1950 hinaus nicht vorlägen und auch nicht durch Laienbezeugungen zu erbringen seien, "nach ärztlicher Sachlage wären Brückensymptome dieser Art auch unwahrscheinlich". Daß der Gutachter danach den Prozeßstoff nicht gründlich genug gewürdigt und den Sachverhalt verkannt hat, ergibt sich auch daraus, daß er ausführt, "der erst nach vielen Jahren nach Entlassung" eingetretene akute Herzinfarkt komme nicht mehr als WDB-Folge in Betracht. Tatsächlich lagen zwischen der Entlassung im März 1948 und der Erkrankung im Dezember 1950 nur 2 3/4, also nicht "viele" Jahre. Äußerlich betrachtet, ist der erwähnte Satz zwar mit dem vorhergehenden, der die Kausalität zwischen einer Grippeerkrankung und der Gefangenschaft zu Gunsten einer Grippeerkrankung abwägt, durch die Worte "nach der geschilderten Sachlage" verbunden. Der unlösbare Widerspruch der ärztlichen Schlußbeurteilung jedoch, daß der "erst nach vielen Jahren nach Entlassung" (März 1948) aufgetretene Herzinfarkt (Dezember 1950) nicht mehr als WDB-Folge in Betracht komme, im Zusammenhalt damit, daß der Gutachter sich jedenfalls nicht erkennbar mit den neu beigebrachten Bescheinigungen, insbesondere auch der des damaligen militärischen Vorgesetzten des Klägers K. auseinandergesetzt hat, hätte dem LSG. Veranlassung geben müssen, wegen der schon äußerlich erkennbaren Nicht-Schlüssigkeit des Gutachtens bei dem Gutachter rückzufragen oder ggf. einen anderen Gutachter zu beauftragen. Da dies unterblieb, war das Gutachten des Dr. R. keine geeignete Grundlage für die Überzeugungsbildung des LSG. Die Vorinstanz hat auch insoweit die Grenzen ihrer Ermessensfreiheit nach § 128 SGG überschritten, indem sie dieses Gutachten ohne Berücksichtigung seiner Unklarheit und Unvollständigkeit mit zur Grundlage ihrer Überzeugungsbildung verwendet hat.

Auf der fehlerhaften Beweiswürdigung der Gutachten des Dr. A. und des Dr. R. beruht das angefochtene Urteil (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist möglich, daß das LSG. bei gesetzmäßiger Würdigung unter Zugrundelegung des gesamten Prozeßstoffes zu einer anderen Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Einwirkungen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft und dem jetzigen Herzleiden gelangt wäre.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Der Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da hierzu noch weitere Ermittlungen und eine Beweiswürdigung notwendig sind. Diese kann das BSG. nicht selbst vornehmen (§§ 163, 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324778

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