Leitsatz (amtlich)
Bei einem Gedingeschlepper, der diese Tätigkeit vor dem 1971-06-01 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat, ist für die Beurteilung der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit von diesem Zeitpunkt an (Inkrafttreten der neuen tariflichen Lohnordnungen im Bergbau) von der Lohngruppe 09 unter Tage auszugehen (Weiterführung von BSG 1974-06-27 5 RKn 4/73 = SozR 2600 § 45 Nr 5).
Normenkette
RKG § 45 Abs. 2
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Februar 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. Mai 1973 streitig.
Dem 1919 geborenen, von 1933 bis 1944 vorwiegend und zuletzt als Gedingeschlepper im Bergbau beschäftigt gewesenen Kläger lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 26. November 1971 und dem bestätigenden Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 1972 Versichertenrente mit der Begründung ab, daß er noch verschiedene Tätigkeiten unter Tage ausführen könne.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in zweiter Instanz zum Teil Erfolg. Durch das angefochtene Urteil vom 28. Februar 1974 hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Abänderung der klageabweisenden Entscheidung des Sozialgerichts (SG) verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1973 Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. In der Begründung ist ausgeführt: Der Kläger könne nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme seit April 1973 nur noch die körperlich leichten und geistig anspruchslosen Tätigkeiten der Bergbau-Lohngruppen 01 bis 03 über Tage verrichten. Mit dem knappschaftlichen Hauptberuf eines Gedingeschleppers sei der Kläger in die Lohngruppe 08 unter Tage einzustufen. Werde, wie dies auf Grund der Rechtsentwicklung geboten sei, die Bergmannsprämie nunmehr als Lohnbestandteil berücksichtigt, so seien die dem Kläger möglichen Verweisungstätigkeiten nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig im Sinne des § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG). Berücksichtige man die Bergmannsprämie nicht, so nötige das durch die neuen Tarifverträge bedingte starke Aneinanderrücken der Löhne dazu, eine geringere Lohneinbuße als bisher als nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig anzusehen. Nicht mehr wirtschaftlich gleichwertig sei dann die Differenz in der Entlohnung zwischen Lohngruppe 08 unter Tage und Lohngruppe 03 über Tage von 16,95 % seit 1. Juli 1972. Der Kläger sei daher seit April 1973 vermindert bergmännisch berufsfähig. Die weitergehenden Rentenansprüche des Klägers seien nicht begründet.
Mit der zugelassenen Revision tritt die Beklagte dieser Entscheidung entgegen. Sie trägt vor, das LSG irre, wenn es die Bergmannsprämie bei der Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit nach § 45 Abs. 2 RKG als Einkommen berücksichtige. Dies widerspreche der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Die Lohndifferenz zwischen Lohngruppe 08 unter Tage und Lohngruppe 03 über Tage von weniger als 17 % liege noch innerhalb der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit. Bei einem Gedingeschlepper, der nicht Facharbeiter sei, sei mit dem BSG davon auszugehen, daß mit der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit auch die Gleichwertigkeit der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten verbunden sei.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12. Oktober 1972 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 45 Abs. 2 RKG ist vermindert bergmännisch berufsfähig ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit, noch andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auszuüben. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger seit 1. Mai 1973 nicht mehr imstande, die von ihm bis 1944 ausgeübte, als knappschaftlicher Hauptberuf anzusehende Tätigkeit eines Gedingeschleppers weiterhin auszuführen. Wie das LSG weiter unangegriffen festgestellt hat, kann der Kläger in knappschaftlichen Betrieben nur noch die leichten und geistig anspruchslosen Tätigkeiten der Lohngruppe 01 bis 03 über Tage verrichten. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann der Kläger zur Abwendung von bergmännischer Berufsunfähigkeit nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden, weil sie der von ihm bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind.
Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat, ist bei der Prüfung der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit für jeden vom Versicherten beanspruchten Rentenbezugszeitraum zu untersuchen, wie die tarifliche Lohndifferenz zwischen bisher verrichteter knappschaftlicher Arbeit und der in Frage stehenden Verweisungstätigkeit ist. Dabei sind alle Lohnordnungen heranzuziehen, die den Lohn der zu vergleichenden Tätigkeiten für die streitige Zeit regeln (vgl. dazu z. B. den erkennenden Senat in SozR Nr. 40 zu § 45 RKG; SozR 2600 § 45 Nr. 5).
Im Regelfall besteht keine Schwierigkeit, einen Versicherten für jeden vor der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung liegenden Zeitraum sowohl mit der bisherigen knappschaftlichen Arbeit als auch in bezug auf die in Frage kommende Verweisungstätigkeit in die jeweils geltende tarifliche Lohnordnung einzustufen und so zu ermitteln, ob die Verweisungstätigkeit der bisherigen knappschaftlichen Arbeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist. Mit der grundlegenden Neuordnung des tariflichen Entlohnungswesens ab 1. Juni 1971 begegnen einer solchen Einstufung der vor diesem Zeitpunkt aus einer bestimmten knappschaftlichen Arbeit ausgeschiedenen Versicherten Schwierigkeiten. Sie beruhen darauf, daß eine Reihe von bis dahin unter einer bestimmten Bezeichnung erfaßten knappschaftlichen Tätigkeiten in den von diesem Zeitpunkt an geltenden Lohnordnungen überhaupt nicht mehr enthalten oder - unter neuer Bezeichnung - in verschiedene Tätigkeiten aufgegliedert worden sind. Zu diesen Tätigkeiten zählen u. a. die des Lehrhauers und des Gedingeschleppers. Ist ein solcher Versicherter bereits vor dem 1. Juni 1971 aus seiner knappschaftlichen Arbeit ausgeschieden, so kann er von da an weder in die am 31. Mai 1971 ausgelaufene alte noch in die seither geltende neue Lohnordnung eingestuft werden, in der sich seine bisherige knappschaftliche Tätigkeit nicht mehr findet.
Der Senat hat diese Schwierigkeit in seiner Rechtsprechung (vgl. SozR 2600 § 45 Nr. 5) dadurch gelöst, daß er solche Versicherte für Zeiten ab 1. Juni 1971 in diejenige Gruppe der neuen Lohnordnungen eingegliedert hat, in die die vom Versicherten früher verrichtete knappschaftliche Arbeit unter Berücksichtigung der Gesamtumstände noch am ehesten paßt. Hierbei ist der Senat von einer generalisierenden Betrachtung ausgegangen, da in der Praxis weder die Einzelheiten weit zurückliegender Tatbestände aufgeklärt noch mögliche zukünftige Entwicklungen ausreichend sicher abgeschätzt werden können.
Gestützt auf diese Überlegungen ist der Senat in seiner inzwischen gefestigten Rechtsprechung zu dem Schluß gelangt, daß ein ehemaliger, vor dem 1. Juni 1971 ausgeschiedener Lehrhauer unter Berücksichtigung aller Besonderheiten dieses knappschaftlichen Berufes in die Lohnordnung 09 unter Tage der neuen Lohnordnung einzustufen ist. Beim ehemaligen Gedingeschlepper gehen die Beklagte und das LSG übereinstimmend davon aus, daß er im Zuge der Bestimmung des wirtschaftlichen Wertes in die neue Lohngruppe 08 unter Tage einzustufen sei. Dem kann der Senat nicht beitreten. Vielmehr ist der ehemalige Gedingeschlepper nicht anders als der ehemalige Lehrhauer in die neue Lohngruppe 09 unter Tage einzuordnen. Der Gedingeschlepper zählte vor der am 1. Juni 1971 vollzogenen tariflichen Neuordnung des Entlohnungswesens im Steinkohlenbergbau ebenso wie der Lehrhauer zum Kreis der angelernten, typisch bergmännische Arbeiten verrichtenden Gedingearbeiter ohne Hauerschein (vgl. den erkennenden Senat in SozR Nr. 16 zu § 46 RKG). Die Tätigkeit des Gedingeschleppers bestand ebenso wie die eines Lehrhauers darin, die in der Gewinnung, Aus-, Vor- und Herrichtung vorkommenden wesentlichen bergmännischen Arbeiten zu verrichten, die nicht dem Vollhauer vorbehalten waren. Dabei ist für die Frage der wirtschaftlichen Bewertung von besonderem Gewicht, daß der Gedingeschlepper nach den vor dem 1. Juni 1971 geltenden Lohnordnungen den gleichen Gedingelohn wie der Lehrhauer, nämlich im ersten Jahre 10 v. H., im zweiten Jahre 7 1/2 v. H. und im dritten Jahr 5 v. H. je Schicht weniger als der Vollhauer erhielt. Daran, daß Lehrhauer- und Gedingeschleppertätigkeit den gleichen wirtschaftlichen Wert haben, hat sich durch das Inkrafttreten der neuen Lohnordnungen ab 1. Juni 1971 nichts geändert: Die Lohnordnungen führen diese Tätigkeiten, wie dargelegt, überhaupt nicht mehr auf.
Bei diesem Sachverhalt gelten die vom erkennenden Senat in der Entscheidung SozR 2600 § 45 Nr. 5 zur Einstufung des Lehrhauers in die neue Lohngruppe 09 unter Tage gemachten Ausführungen entsprechend für den Gedingeschlepper.
Ist aber der Kläger in bezug auf seine bisherige knappschaftliche Arbeit ab 1. Mai 1973 - gegen die Abweisung der weitergehenden Rentenansprüche hat der Kläger keine Revision eingelegt - in die neue Lohngruppe 09 unter Tage einzustufen, so sind die Tätigkeiten der Lohngruppen 01 bis 03 über Tage, die der Kläger nach seinem gesundheitlichen Vermögen allein noch verrichten kann, bei einer Lohndifferenz von mehr als 20 v. H. nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig (vgl. dazu die Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. August 1974 - 5 RKn 37/73 -). Der Kläger ist mithin vermindert bergmännisch berufsfähig. Da er auch die Wartezeit erfüllt hat, hat ihm das LSG im Ergebnis zu Recht die Bergmannsrente zugesprochen.
Die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil war daher als unbegründet zurückzuweisen, ohne daß die vom LSG weiter zur Diskussion gestellten Fragen zu erörtern gewesen wären.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen