Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendigkeit eines Vorverfahrens. nachträgliche Anhörung im Vorverfahren nach Erhebung einer unzulässigen Klage. Ermessen bei Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes
Orientierungssatz
1. § 41 Abs 2 SGB 10 steht einer wirksamen Nachholung der Anhörung nicht entgegen, wenn ein Vorverfahren zwar zunächst nicht stattfände, jedoch nach § 78 Abs 1 S 1 SGG hätte stattfinden müsen und während des Prozesses tatsächlich stattfindet (vgl BSG vom 25.10.1984 11 RA 24/84 = SozR 1300 § 45 Nr 12).
2. Die Anfechtungsklage, deren Erfolg den Rechtszustand vor der Rücknahme wiederherstellen würde, war ohne Vorverfahren unzulässig. Zur Vermeidung einer Klageabweisung wird in solchen Fällen tunlichst das Gericht die Verwaltung veranlassen, ihre Entscheidung im Vorverfahren während des Gerichtsverfahrens nachzuholen. Dann bleibt die Sachherrschaft in diesem Verwaltungsverfahren, das von dem noch zulässigen Prozeß gesondert ist, bei der Verwaltung. Sie kann, dem Zweck der Anhörung entsprechend diese nachträglich vornehmen und das Vorbringen des Betroffenen bei ihrer Entschließung berücksichtigen.
3. Zur Frage der Ermessensausübung der Versorgungsverwaltung bei Rücknahme eines Witwenbeihilfebescheides.
Normenkette
BVG § 48; SGB 10 § 24 Abs 1, § 41 Abs 2, § 42 Abs 2; SGG § 78 Abs 1 S 1; SGG § 78 Abs 2 S 1 Halbs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.03.1984; Aktenzeichen L 12 V 1044/83) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 10.03.1983; Aktenzeichen S 3 V 1406/81) |
Tatbestand
Die Verwaltung gewährte der Klägerin durch Vorbehalts-Teil-Bescheid vom 17. Mai 1979 Witwenbeihilfe (§ 48 Bundesversorgungsgesetz -BVG-) in Form der Grundrente; über die vom Einkommen abhängigen Leistungen und über eine Witwenrente (§ 38 BVG) sollte später entschieden werden. Mit einer am 27. Februar 1981 beim Versorgungsamt eingegangenen Einkommenserklärung gab die Klägerin ihre Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit ab Mai 1979 bekannt. Nach einer Rückfrage nahm die Verwaltung mit Bescheid vom 2. Juni 1981 den Verwaltungsakt vom 17. Mai 1979 sowie Anpassungsbescheide vom 20. Dezember 1979 und 18. Dezember 1980 wegen Überschreitens der Einkommensgrenze des § 48 Abs 1 Satz 3 BVG zurück und stellte fest, die von Mai 1979 bis Ende Juni 1981 gewährte Witwenbeihilfe stehe der Klägerin nicht zu und für die Zukunft werde die Rentenzahlung eingestellt; von einer Rückforderung wurde abgesehen, von einer Anhörung gemäß § 24 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X), weil sonst die Frist von zwei Jahren seit Bekanntgabe des zurückgenommenen Bescheides nicht gewahrt werden könnte. Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 10. März 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Bescheid vom 2. Juni 1981 und den während des Berufungsverfahrens - nach Anhörung der Klägerin - ergangenen Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1984 aufgehoben (Urteil vom 8. März 1984). Nach seiner Auffassung hätte die notwendige Anhörung gemäß § 24 Abs 1 SGB X nur bis zur Klageerhebung im Vorverfahren nachgeholt werden können, um die Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheides zu heilen. Ausnahmen von der Anhörpflicht nach § 24 Abs 2 SGB X seien nicht gegeben; insbesondere hätte vom rechtlichen Gehör nicht wegen Fristwahrung abgesehen werden können.
Der Beklagte rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 78 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Da der Erlaß des Rücknahmebescheides ins Ermessen der Verwaltung gestellt sei, wäre ein Vorverfahren notwendig gewesen. Während desselben hätte, ungeachtet der Klageerhebung, die Anhörung mit heilender Wirkung nachgeholt werden können.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist insoweit erfolgreich, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das Berufungsgericht hat den Rücknahmebescheid und den in das Berufungsverfahren einbezogenen Widerspruchsbescheid (§ 95 SGG) zu Unrecht mangels wirksamer Anhörung der Klägerin auf Grund des § 42 Satz 2 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) aufgehoben. Die nach § 24 Abs 1 SGB X notwendige Anhörung der Klägerin, die vor der Rücknahme der eine Witwenbeihilfe gewährenden Bescheide hätte vorgenommen werden müssen, konnte bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides nachgeholt werden. Dadurch wurde die Verletzung der genannten Verfahrensvorschrift nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X unbeachtlich. Entgegen der Ansicht des LSG konnte die Klägerin mit heilender Wirkung nach § 41 Abs 2 SGB X bis zum Abschluß des Vorverfahrens, dh bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides (§ 85 Abs 2 SGG), nachträglich gehört werden, obwohl schon inzwischen ein Gerichtsverfahren anhängig war (§ 94 Abs 1 SGG). Zwar ist nach § 41 Abs 2 SGB X die Nachholung nur bis zur Klageerhebung wirksam, falls ein Vorverfahren "nicht stattfindet". Diese Regelung steht aber einer wirksamen Nachholung nicht entgegen, wenn ein Vorverfahren zwar zunächst nicht stattfände jedoch nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG hätte stattfinden müssen und während des Prozesses tatsächlich stattfindet (BSG Breithaupt 1985, 876; SozR 1300 § 45 Nr 12). Die Anfechtungsklage, deren Erfolg den Rechtszustand vor der Rücknahme wiederherstellen würde (BSGE 48, 33, 34 = SozR 4100 § 44 Nr 19; BSG 14. November 1985 - 7 RAr 123/84 - demnächst in SozR 1300 § 45 Nr 19), war ohne Vorverfahren unzulässig (§ 78 Abs 1 Satz 1 SGG; BSGE 3, 293, 297). Zur Vermeidung einer Klageabweisung wird in solchen Fällen tunlichst das Gericht die Verwaltung veranlassen, ihre Entscheidung im Vorverfahren während des Gerichtsverfahrens nachzuholen (BSGE 55, 250, 252 = SozR 1300 § 50 Nr 3; SozR 1300 § 45 Nr 12; 1500 § 78 Nr 15). Dann bleibt die Sachherrschaft in diesem Verwaltungsverfahren, das von dem noch zulässigen Prozeß gesondert ist, bei der Verwaltung. Sie kann, dem Zweck der Anhörung entsprechend (vgl BSG Breithaupt 1985, 876, 878 f mwN), diese nachträglich vornehmen und das Vorbringen des Betroffenen bei ihrer Entschließung berücksichtigen. So ist es im gegenwärtigen Fall geschehen.
In dieser Angelegenheit der Kriegsopferversorgung war die Anfechtungsklage nicht ausnahmsweise auch ohne Vorverfahren nach § 78 Abs 2 Satz 1 Halbs 1 SGG deshalb zulässig, weil die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes begehrt worden wäre, der eine Leistung betroffen hätte, auf die ein Rechtsanspruch bestände. Beim Erlaß von Rücknahmeakten der angefochtenen Art ist nicht ausschließlich darüber zu befinden, ob dem Empfänger auf Grund bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen die vorher gewährte Sozialleistung zustand und zusteht, ohne daß die Verwaltung dabei ihr Ermessen auszuüben oder mindestens einen Beurteilungsspielraum gehabt hätte. In solchen Fällen ist der Ausnahmetatbestand des § 78 Abs 2 Satz 1 Halbs 1 SGG nicht gegeben; es bleibt also bei der Regel des § 78 Abs 1 Satz 1 SGG, daß ein Vorverfahren geboten ist (BSGE 55, 250, 251, 252; SozR 1300 § 45 Nr 12; vgl auch SozR 1500 § 78 Nrn 15 und 16; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I/2, S 234a V/VI; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 78, Anm 5, c).
Die vor dem 1. Januar 1981 rechtsverbindlich gewordenen Witwenbeihilfe-Bescheide, mithin begünstigende Verwaltungsakte, könnten allenfalls nach § 45 SGB X zurückgenommen werden, falls sie von Anfang an rechtswidrig gewesen wären (Art II § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X; st Rspr des Bundessozialgerichts -BSG-). Der Vorbehalt im Bescheid vom 17. Mai 1979 steht dem nicht entgegen. Die Klägerin hat das Einkommen, das eine Witwenbeihilfe nach § 48 Abs 1 Satz 3 BVG (idF der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 -BGBl I 1633-) ausschließen soll, seit Beginn dieser Leistung bezogen. Eine andere Rechtsgrundlage, zB § 48 SGB X wegen nachträglich eingetretener Rechtswidrigkeit, kommt in diesem Fall nicht in Betracht (vgl zum Unterschied von §§ 45 und 48 SGB X: Urteil des erkennenden Senats in BSGE 57, 274, 275 ff = SozR 1300 § 48 Nr 11). Ob ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X zurückzunehmen ist, ist aber - im Unterschied zum früheren Recht der Kriegsopferversorgung (BSGE 9, 199, 203ff; 13, 232, 235; 23, 7, 10) - nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre nicht stets in vollem Umfang von Rechtsvoraussetzungen abhängig, die die Gerichte uneingeschränkt nachzuprüfen haben (vgl BSGE 55, 250; 57, 138, 144 = SozR 1300 § 50 Nr 6; BSGE 57, 278; SozR 1300 § 45 Nr 12; BSG 12. April 1984 - 7 RAr 34/83 -; BSG 14. November 1985; Kopp, SGb 1985, 248; aA Brackmann aaO, S 232f IV/V; Lamb, Versorgungsbeamter 1984, 81).
Nach der vom LSG festgestellten Sachlage kommt ein Ausschlußtatbestand des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X nicht in Betracht.
Ob die angefochtenen Bescheide für die Witwenbeihilfe aus einem anderen Grund rechtswidrig sind, vermag der Senat nicht zu entscheiden. Dafür hat das Berufungsgericht keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen (vgl dazu BSGE 57, 278 f). Jedenfalls ist nach den verbindlichen Feststellungen und nach dem in Bezug genommenen Akteninhalt die Rücknahme nicht gemäß § 45 Abs 3 SGB X ausgeschlossen, insbesondere nicht nach Satz 1 wegen Ablaufs von zwei Jahren nach der Bekanntgabe des ersten Verwaltungsaktes über die Witwenbeihilfe. Der Bescheid vom 17. Mai 1979 ging dem Bevollmächtigten der Klägerin am 11. Juni 1979 zu. Der Rücknahmebescheid vom 2. Juni 1981, der der Klägerin wirksam bekanntgegeben werden durfte (§ 37 Abs 1 SGB X), gilt als am 5. Juni 1981 zugestellt ((§ 37 Abs 2 SGB X; § 8 Verwaltungszustellungsgesetz ist hierauf nicht anzuwenden).
Das LSG hat nunmehr zu prüfen, ob und inwieweit der Beklagte ein Ermessen auszuüben hatte, ob er irrtümlich keinen Ermessensspielraum angenommen und eine Ermessensentscheidung nicht ausreichend begründet hat (§ 35 Abs 1, § 42 Satz 1 SGB X; dazu BSG 14. November 1985; vgl auch zu § 48 SGB X: Urteil des erkennenden Senats vom 23. Oktober 1985 - 9a RV 1/84 -) oder ob mangels entsprechenden Vorbringens der Klägerin sein Ermessen "auf Null" geschrumpft war und die Verwaltung den unrichtigen Bescheid zurücknehmen mußte.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen