Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflegezulage Stufe I. Ursachenbegriff. Abgrenzung von Schädigung und Nachschaden. fremde Hilfe von erheblichem Umfang. Versorgung eitriger Wunden

 

Orientierungssatz

1. Der Ursachenbegriff in § 35 BVG entspricht der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm (vgl BSG vom 21.5.1974 10 RV 441/73 = KOV 1975, 108, mwN). Es kommt demnach darauf an, ob die Schädigungsfolgen entweder allein die wesentliche Bedingung oder eine wesentliche Mitbedingung neben anderen für den Eintritt des Gesamtzustandes gewesen sind, der die Hilflosigkeit iS des Gesetzes ausmacht. Abzustellen ist danach auf den Gesamtleidenszustand im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bescheiderteilung oder der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz (vgl BSG vom 5.7.1979 9 RV 21/78 = BSGE 48, 248, 249). Indes reicht es nicht aus, daß der Beschädigte nur für einzelne Verrichtungen infolge der Schädigung fremder Hilfe bedarf, während der Zustand der Hilflosigkeit unabhängig von der Schädigung eingetreten ist.

2. Die notwendigen täglichen Hilfeleistungen bei der Versorgung eitriger Wunden (hier: Unterschenkelgeschwüren) begründen keine Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 S 1 BVG (vgl BSG vom 3.12.1964 8 RV 845/62 = Breithaupt 1965, 681).

 

Normenkette

BVG § 35 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 16.08.1983; Aktenzeichen L 4 V 1499/81)

SG Kassel (Entscheidung vom 13.11.1981; Aktenzeichen S 6 V 262/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Pflegezulage.

Der 70jährige Kläger erhält wegen der Kriegsschädigungsfolgen "1. Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes rechts mit Spitzfußstellung, ausgedehnte, tiefgreifende Unterschenkelgeschwüre rechts mit starken Eiterabsonderungen und Stauungserscheinungen, 2. Verlust des ersten und zweiten oberen Schneidezahnes rechts und des oberen Schneidezahnes links" Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH. Seinen Antrag vom Juli 1976, ihm erstmals Pflegezulage zu gewähren, lehnte der Beklagte ab (angefochtener Bescheid vom 22. Juli 1977, Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 1978). Zugleich entschied er, daß in den anerkannten Schädigungsfolgen auch keine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) eingetreten sei, die eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs rechtfertigen könne (Bescheid vom 21. Juli 1977, Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 1978).

Mit beiden Ansprüchen ist der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) und dem Landessozialgericht (LSG) erfolglos geblieben (Urteile des SG vom 13. November 1981 und des LSG vom 16. August 1983). Das LSG hat zu dem Anspruch auf Pflegezulage ausgeführt: Der Kläger sei nicht wegen der Schädigungsfolgen hilflos. Zwar bedürfe er bei dem An- und Auskleiden, der Körperpflege, der Versorgung seiner Unterschenkelgeschwüre und der Verrichtung der Notdurft fremder Hilfe. Die Notwendigkeit der Hilfeleistungen werde aber allein durch eine schädigungsunabhängige Gicht hervorgerufen. Die Schädigungsfolgen am rechten Unterschenkel behinderten den Kläger dagegen allenfalls beim längeren Gehen. Daraus folge, daß der hilflose Zustand des Klägers nicht etwa auch nur annähernd durch die Schädigung, sondern überwiegend durch Nichtschädigungsleiden verursacht werde. Im übrigen sei der Umfang der vereinzelten Hilfeleistungen, die der Kläger benötige, auch nicht so erheblich, daß seine Hilflosigkeit einen Anspruch auf Pflegezulage begründe.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beschränkt der Kläger sein Prozeßbegehren auf die Pflegezulage. Nur aufgrund fehlerhafter Beweiswürdigung sei das LSG zu der Schlußfolgerung gelangt, daß seine Hilflosigkeit nicht durch die Schädigung verursacht werde. Schon 1976 habe er auf die Bescheinigung seines Hausarztes hingewiesen, daß sich die als Schädigungsfolgen anerkannten Wundeiterungen verschlimmert hätten und er seitdem ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei. Es bestehe auch eine allgemeine Erfahrungstatsache dahin, daß ältere Menschen wie er derart ausgedehnte Wunden nicht mehr selbständig versorgen könnten. Der Sachverhalt sei darüber hinaus nicht genügend aufgeklärt worden. Zeugenvernehmungen hätten ergeben können, daß er schon allein wegen der Schädigungsfolgen mehrfach täglich in erheblichem Umfange fremder Hilfe zur Wundversorgung bedürfe. Soweit das LSG das in seiner Hilfsbegründung unterstelle und trotzdem seinen Anspruch auf Pflegezulage verneine, verletze es § 35 Abs 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Auch derjenige bedürfe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) fremder Hilfe in erheblichem Umfange, dem die Hilfe insgesamt so häufig und mit einem so großen Zeitaufwand gewährt werden müsse, daß sie erheblich mehr bedeute als eine Hilfe für nur einzelne Verrichtungen.

Der Kläger beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm vom 1. Juli 1976 an eine Pflegezulage der Stufe I zu gewähren unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Urteile, soweit sie über diesen Anspruch entschieden haben.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Pflegezulage nach dem BVG zusteht. Denn es sind nicht die Schädigungsfolgen, derentwegen der Kläger in erheblichem Umfang fremder Hilfe bedarf.

Nach § 35 Abs 1 Satz 1 BVG idF der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 (BGBl I 1633) wird monatlich eine Pflegezulage (Stufe I) gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl auch den insoweit unveränderten Wortlaut dieser Vorschrift idF des Gesetzes vom 4. Juni 1985 - BGBl I 910 -).

Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger hilflos, weil er bei dem An- und Auskleiden, der Körperpflege, dem Reinigen und Verbinden seiner Unterschenkelgeschwüre und bei der Verrichtung der Notdurft fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden und deshalb der Beurteilung zugrunde zu legen.

Der Kläger könnte jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn die Schädigung und ihre Folgen für den Zustand der Hilflosigkeit ursächlich gewesen wären. Das BSG hat bereits entschieden, daß der Ursachenbegriff in § 35 BVG der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm entspricht (vgl Urteil vom 21. Mai 1974, 10 RV 441/73 in KOV 1975, 108, mwN). Es kommt demnach darauf an, ob die Schädigungsfolgen entweder allein die wesentliche Bedingung oder eine wesentliche Mitbedingung neben anderen für den Eintritt des Gesamtzustandes gewesen sind, der die Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes ausmacht. Abzustellen ist danach auf den Gesamtleidenszustand im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bescheiderteilung oder der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz (BSG, Urteil vom 7. August 1975, 10 RV 51/74, nicht veröffentlicht; BSGE 48, 248, 249). Indes reicht es nicht aus, daß der Beschädigte nur für einzelne Verrichtungen infolge der Schädigung fremder Hilfe bedarf, während der Zustand der Hilflosigkeit unabhängig von der Schädigung eingetreten ist. Daran scheitert auch der Anspruch des Klägers.

Denn das LSG hat weiterhin unangefochten von der Revision festgestellt, daß der Kläger wegen Bewegungsbehinderungen im rechten Schulter-, Ellenbogen- und Kniegelenk auf fremde Hilfe dauernd angewiesen und allein dadurch hilflos ist. Diese Verschlechterung in seinem Gesundheitszustand ist nicht auf eine wesentliche Änderung der Schädigungsfolgen zurückzuführen. Das steht rechtskräftig fest, nachdem der Kläger gegen das Urteil des LSG insoweit keine Revision eingelegt hat. Deshalb sind seine Rügen auch nicht begründet, die sich gegen die Feststellung des LSG richten, nicht die Schädigungsfolgen, sondern allein schädigungsunabhängige Umstände verursachten die stetige Hilfsbedürftigkeit des Klägers bei dem An- und Auskleiden, der Körperpflege und bei der Verrichtung der Notdurft. Das LSG hat festgestellt, vor allem sei es die nicht schädigungsbedingt entstandene Gicht des Klägers, die seine Bewegungsbehinderungen verursache. Ohne sie wäre er nicht hilflos. Weder bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs noch bei der Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen hat das LSG das Gesetz verletzt.

Nach den bindenden Feststellungen des LSG ist der Gesamtleidenszustand des Klägers, auch unter Einbeziehung des Unterschenkelgeschwürs, weder ausschließlich noch annähernd gleichwertig durch die Schädigung verursacht worden. Von den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, für die der Kläger fremder Hilfe bedarf, ist auf die Schädigung allein noch die Betreuungsbedürftigkeit bei der unmittelbaren Versorgung der Unterschenkelgeschwüre durch Reinigen und Verbinden nach der Verordnung des behandelnden Arztes zurückzuführen. Indessen ist der Umfang der betreffenden Verrichtungen zu gering, um als fremde Hilfe von erheblichem Umfang gewertet werden zu können.

Hierbei handelt es sich nur um einzelne Tätigkeiten, die in dem vom Gesetz erfaßten engen Bereich existenzsichernder persönlicher Verrichtungen nicht genug Zeit und Mühe in Anspruch nehmen, um die Voraussetzungen der Hilflosigkeit iS von § 35 Abs 1 Satz 1 BVG zu erfüllen (vgl zur Frage der Hilfsbedürftigkeit bei der Versorgung eitriger Wunden: BSG, Urteil vom 3. Dezember 1964 - 8 RV 845/62 - in Breithaupt 1965, 681). Das hat das LSG bereits festgestellt. Die Rügen einer Verletzung der §§ 103 und 128 SGG sind nicht begründet. Das LSG hat sich zu Recht auf das Gutachten des Dr. R vom 11. Februar 1977 gestützt. Dieser Versorgungsarzt hielt in Kenntnis des Befundberichtes des Hausarztes Dr. S vom 26. Juni 1976 die Notwendigkeit für gegeben, daß die stark eiternden Wunden des Klägers regelmäßig lediglich zweimal täglich gereinigt und verbunden werden müßten. Das Gesamtergebnis des Verfahrens bietet auch keinen Anhaltspunkt dafür, daß diese notwendigen täglichen Hilfeleistungen bei der Wundversorgung etwa plötzlich und unerwartet erforderlich sind und deswegen die ständige Bereitschaft einer Hilfsperson notwendig machen. Stattdessen spricht dafür, daß die Hilfeleistungen - in der Regel jedenfalls - zu von vornherein festzulegenden Zeiten erbracht werden können; gegebenenfalls werden sie auch zeitlich verschiebbar sein. Das Gutachten des Gerichtssachverständigen Dr. S vom 25. Mai 1981 mit den beigefügten Farbphotographien der Wunden des Klägers untermauert diese Feststellungen. Insofern hatte das LSG keine Veranlassung zu weiterer Sachaufklärung von Amts wegen.

Daraus folgt, daß der Kläger infolge der Schädigung auch nicht ständig auf die Bereitschaft einer fremden Hilfskraft angewiesen ist, zumal mehr als die Tätigkeit beim Reinigen und Verbinden der Wunden nicht berücksichtigt werden kann. Das BSG hat in seinem Urteil vom 3. Dezember 1964 (aaO) bereits entschieden, daß es sich beim Waschen und Reinigen der durch Verwundungsfolgen hervorgerufenen Verschmutzungen von Wäsche und Wohnungseinrichtungen nicht um Hilfeleistungen iS des § 35 BVG handelt.

Diese Beurteilung steht nicht - darin ist dem Beklagten zu folgen - im Gegensatz zu dem Urteil des BSG vom 26. Februar 1965 (9/11 RV 660/63 in SozEntsch BSG 9/3 § 35 Nr 12). Darin hatte das BSG über einen Sonderfall zu entscheiden, der mit dem vorliegenden in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmt. Neben die schädigungsbedingte Unfähigkeit, sich allein an- und auszukleiden, einen Stützapparat am rechten Bein an- und abzulegen sowie die Gesundheitspflege des rechten Beines vorzunehmen, trat damals ebenfalls allein infolge der Schädigung die Notwendigkeit weiterer fremder Hilfe in erheblichem Umfange. Bei einer alle zwei bis drei Wochen vorzunehmenden, sich über drei bis vier Tage hinziehenden, zeitlich langdauernden und praktisch sehr schwierigen intimen Pflegemaßnahme zur Verhinderung eines Harnröhrenverschlusses mußte sich der Beschädigte von seiner Ehefrau helfen lassen. Die Hinzuziehung einer fremden Hilfskraft im Rahmen der allgemeinen Heilbehandlung war ihm anders als im vorliegenden Falle nicht zuzumuten. Dabei kam das BSG zu dem Ergebnis, daß hier der Beschädigte infolge der Schädigung eine ausreichende Pflege nicht anders als durch eine ständig zur Verfügung stehende Hilfskraft erhalten könne. Das trifft nach den bindenden Feststellungen des LSG nicht auf den zu entscheidenden Fall zu.

Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656922

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