Entscheidungsstichwort (Thema)
Einordnung in Vierstufen-Schema
Orientierungssatz
1. Zur Einordnung des "bisherigen Berufs" in das Vierstufen-Schema genügt nicht nur eine Berufsbezeichnung. Vielmehr ist festzustellen, welche die Qualität gerade dieses Berufs kennzeichnenden tatsächlichen Gegebenheiten vorliegen. Von besonderem Gewicht ist dabei Dauer und Umfang einer erforderlichen Ausbildung. Von ihr hängt die Breite der nach dem Gesetz zulässigen "Verweisung" (hier: Verweisung eines Beamtendiensttuers als Pförtner) ab.
2. Bei einem im Beamtenverhältnis Stehenden, der unter Bezug auf eine früher bestandene Pflichtversicherung Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit geltend macht, haben bei der in diesem Zusammenhang zu prüfenden Frage einer Verweisbarkeit die die Qualifikation dieses Berufs prägenden Einzelheiten Beachtung zu finden, um über das Ausmaß der nach dem Gesetz zulässigen "Verweisung" entscheiden zu können.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.11.1985; Aktenzeichen L 5 Ar 555/84) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 14.08.1984; Aktenzeichen S 5 ArBB 38/84) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 14.08.1984; Aktenzeichen S 5 ArBB 13/83) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der im Jahre 1934 geborene Kläger hat den Beruf eines Schreiners erlernt und bis Februar 1952 ausgeübt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war er vom 16. April 1952 bis 30. September 1959 bei der Deutschen Bundesbahn (DB) als Bahnunterhaltungsarbeiter, Weichenwärter, Rangierarbeiter, Rangieraufseher und Zugschaffner versicherungspflichtig beschäftigt. Hernach wurde er in das Beamtenverhältnis (einfacher Dienst) übernommen. Am 1. Januar 1984 trat er wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand.
Seinen im August 1983 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 7. Oktober 1983 ab mit der Begründung, er könne noch leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten.
Die hiergegen eingelegte Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Augsburg vom 14. August 1984, Urteil des LSG vom 9. November 1985). Das LSG hält den Kläger aufgrund der eingeholten ärztlichen Gutachten noch für fähig, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne ständiges Gehen auf unebenem Boden sowie ohne Besteigen von Leitern und Gerüsten während der üblichen täglichen Arbeitszeit vollschichtig auszuüben. Mit diesem Leistungsvermögen zeige sich der 51jährige Kläger noch in der Lage, mehr als die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Dies gelte sowohl dann, wenn man ihm mit dem SG den Berufsschutz eines Facharbeiters zubillige, als auch dann, wenn man ihn - wozu der Senat neige - in Übereinstimmung mit der Beklagten der Gruppe der angelernten Arbeiter zurechne. Der Kläger könne sich jedenfalls binnen drei Monaten in die zumutbare Tätigkeit eines gehobenen oder qualifizierten Pförtners einarbeiten.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie eine mangelhafte Sachaufklärung. Für die Verweisungstätigkeit eines gehobenen Pförtners habe das LSG nicht, wie geboten, die Offenheit des Arbeitsmarktes geprüft. Die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes könne sich daraus ergeben, daß eine Tätigkeit den leistungsgeminderten eigenen Betriebsangehörigen vorbehalten bleibe (Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 55/84). Deswegen seien Ermittlungen dazu erforderlich, ob Betriebsfremde überhaupt Zugang zu qualifizierten Pförtnertätigkeiten haben. Weiterhin habe das LSG den qualitativen Wert seines bisherigen Berufs nicht ausreichend ermittelt. Einmal habe er verschiedene Beamtentätigkeiten des einfachen Dienstes als Arbeiter verrichtet und sich dadurch als besonders einsatzfähig erwiesen. Zum anderen habe das LSG über die besonderen Anforderungen eines Weichenwärters, Zugschaffners und Rangieraufsehers keinerlei Feststellungen getroffen. Das angefochtene Urteil könne daher keinen Bestand haben.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 14. August 1984 sowie die Bescheide der Beklagten vom 7. Oktober 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. September 1983 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit und einen Beitragszuschuß zu seiner privaten Krankenversicherung zu bewilligen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, der zuletzt vom 18. Oktober 1957 bis 31. Mai 1958 versicherungspflichtig als Rangieraufseher in Lohngruppe IV tätig gewesene Kläger sei im Gegensatz zum Beamten im Rangieraufseherdienst allein wenige Wochen "verwendungsmäßig ausgebildet". Daß es sich bei Arbeitern, die auf Beamtendienstposten Dienst leisten und nach Lohngruppe IV entlohnt werden, um angelernte Arbeiter handele, sei vom erkennenden Senat bereits entschieden worden (Hinweis auf das Urteil vom 28. November 1985 - 4a RJ 51/84). Ohne Klärung der Frage, ob der Kläger dem Leitberuf des Facharbeiters oder des angelernten Arbeiters zuzuordnen sei, habe das LSG nicht entscheiden können. Selbst wenn der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter genösse, könne er in Übereinstimmung mit dem LSG auf die Tätigkeit eines qualifizierten Pförtners verwiesen werden. Nach dem Gutachten des Landesarbeitsamts Südbayern vom 26. August 1985 gebe es Arbeitsplätze für gehobene Pförtner auch außerhalb des öffentlichen Dienstes in nennenswertem Umfang. Der Sachverhalt sei ausreichend aufgeklärt und eine zumutbare Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO "der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist", alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit "zugemutet werden können". Das bedeutet, daß der Gesetzgeber dem Versicherten einen Anspruch auf Rente wegen BU nicht schon dann einräumt, wenn er seinen - versicherungspflichtig ausgeübten - "bisherigen Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit") aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auszuüben in der Lage ist. Vielmehr verlangt das Gesetz von dem Versicherten, daß er, immer bezogen auf seinen "bisherigen Beruf", einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sich vor Inanspruchnahme einer Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt, sich auf sie also "verweisen" läßt (BSGE 41, 129, 131). "Zugemutet werden" iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO können dem Versicherten alle von ihm - nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten - ausführbaren, auch "berufsfremden" Tätigkeiten, die nach ihrer im Gesetz angeführten positiven Kennzeichnung - Ausbildung und deren Dauer, besondere Anforderungen, Bedeutung des Berufs im Betrieb -, also nach ihrer Qualität dem bisherigen Beruf nicht zu fern stehen (vgl zB BSG in SozR Nr 22 zu § 45 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG-; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr 4; BSGE 41, 129, 132 = SozR 2200 § 1246 Nr 27, 29 und ständige Rechtsprechung). Zur praktischen Handhabung dieser Rechtssätze hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Arbeiterberufe aufgrund von Beobachtungen der Arbeits- und Berufswelt nach ihrer Leistungsqualität in ein "Vierstufen-Schema" eingeordnet, das durch die Leitberufe des Ungelernten, des sonstigen - nicht dem Facharbeiter entsprechenden - Ausbildungsberufs (Angelernten), des Facharbeiters (Gelernten) sowie des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders qualifizierten Facharbeiters gekennzeichnet wird. Im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO "zugemutet werden" kann dem Versicherten nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Abstieg jeweils zur nächstniedrigeren Gruppe des Schemas. In die Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs (Angelernten) fallen Berufe mit einer Regelausbildung bis zu zwei Jahren; die Gruppe der Facharbeiter (Gelernten) wird durch eine Regelausbildung von mehr ( n i c h t :mindestens) als zwei Jahren, regelmäßig von drei Jahren gekennzeichnet (vgl hierzu mit zahlreichen Nachweisen aus der jüngsten Rechtsprechung des BSG zB den erkennenden Senat in BSGE 59, 201, 203 f = SozR 2200 § 1246 Nr 132; die zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidungen des Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 55/85 und vom 7. August 1986 - 4a RJ 73/84 sowie die Entscheidung des 5b Senats vom 9. September 1986 - 5b RJ 82/85, die ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehen ist).
Das LSG hat im angefochtenen Urteil den "bisherigen Beruf" des Klägers nicht festgestellt. Es hat sich in den Entscheidungsgründen darauf beschränkt auszuführen, daß der Kläger bei Anwendung des Vierstufen-Schemas entweder in die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten oder in die des Angelernten einzuordnen sei; in jedem Fall könne der Kläger noch zumutbar auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden. Im Tatbestand hat das LSG zwar bemerkt, daß der Kläger "vom 16. April 1952 bis 30. September 1959 bei der DB als Bahnunterhaltungsarbeiter, Weichenwärter, Rangierarbeiter, Rangieraufseher und Zugschaffner versicherungspflichtig beschäftigt war". Ob die vom LSG gewählte Reihenfolge der aufgezählten Berufe auch eine zeitliche Reihenfolge darstellen soll, also festgestellt ist, daß der Kläger zuletzt versicherungspflichtig als Zugschaffner gearbeitet habe, ist zweifelhaft. Die Beklagte hat nämlich ausgeführt (Schriftsatz vom 20. Oktober 1986), daß der Kläger zuletzt vor seiner Verbeamtung "vom 18. Oktober 1957 bis 31. Mai 1958 Arbeiter auf einem Dienstposten als Rangieraufseher (Lohngruppe IV)" gewesen sei; zuvor, in der Zeit vom 10. Mai 1956 bis 17. Oktober 1957, habe der Kläger als "Weichenwärter und Schaffner" in Lohngruppe IV gearbeitet, wobei offenbleibt, ob es sich hierbei um eine "gemischte" Tätigkeit mit besonderem, untypischen Anforderungsprofil handelt. Auch der Kläger selbst hat mehrfach die Tätigkeit eines Rangieraufsehers als seine letzte versicherungspflichtige Tätigkeit genannt (vgl Schriftsatz vom 29. September 1986). Die zweifelsfreie tatsächliche Feststellung der letzten versicherungspflichtig ausgeübten Tätigkeit ist aus Rechtsgründen unverzichtbar. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist "bisheriger Beruf" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO in aller Regel die letzte nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 62 und 126 mwN). Zur Einordnung des "bisherigen Berufs" in das Vierstufen-Schema genügt jedoch nicht nur eine Berufsbezeichnung. Vielmehr ist festzustellen, welche die Qualität gerade dieses Berufs kennzeichnenden tatsächlichen Gegebenheiten vorliegen. Von besonderem Gewicht ist dabei Dauer und Umfang einer erforderlichen Ausbildung. Von ihr hängt, wie dargestellt, die Breite der nach dem Gesetz zulässigen "Verweisung" ab.
Da das angefochtene Urteil keine solchen tatsächlichen Feststellungen enthält und das Revisionsgericht sie nicht treffen darf (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG), mußte die Streitsache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Nach Lage des Falles besteht die Möglichkeit, daß "bisheriger Beruf" des Klägers der des Rangieraufsehers ist. Den Anspruch eines Rangieraufsehers auf Rente wegen BU hat der erkennende Senat im Urteil vom 7. August 1986 - 4a RJ 31/84 entschieden. Sofern die dort bindend festgestellten tatsächlichen Umstände denjenigen des vorliegenden Falles hinreichend vergleichbar sind, wird das LSG diese Rechtsprechung bei der Einordnung des Klägers in das Vierstufen-Schema zu berücksichtigen haben. Dies gilt auch für die spezielle Problematik der Verweisbarkeit auf die Tätigkeit eines sogenannten gehobenen oder qualifizierten Pförtners, zumal der 5b Senat in seiner Entscheidung vom 9. September 1986 - 5b RJ 50/84 dem insoweit einschlägigen Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 55/84 (SozR 2200 § 1246 Nr 139) inzwischen gefolgt ist, also insoweit eine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, die das LSG noch nicht berücksichtigen konnte. Sollte der bisherige Beruf des Klägers in den oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (sonstigen Ausbildungsberufs) gehören, so wird das LSG außerdem zu beachten haben, daß aus dem Bereich der zumutbaren Arbeiten in der Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten zumindest eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen ist, die nicht ganz einfacher Natur ist (vgl hierzu den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 132 und den 5b Senat in der Entscheidung vom 9. September 1986 - 5b RJ 82/85). Wieweit letzteres bezüglich der vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten "einfacher Kontrolleur und Sortierer", Fahrstuhlführer und Entgrater von kleineren Kunststoffpreßteilen der Fall ist, läßt das angefochtene Urteil nicht erkennen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen