Entscheidungsstichwort (Thema)

Beachtung der Höchstbeträge. fehlendes Vorverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es fehlt eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage, solange das Vorverfahren nicht durchgeführt ist; dieser Mangel kann aber geheilt werden.

2. Bei der Bemessung der Arbeitslosenfürsorgeunterstützung mußten die Höchstbeträge in jedem Falle beachtet werden, wei hoch das im Einzelfall in Betracht kommende tatsächliche oder geschätzte, tarifliche oder ortsübliche Arbeitsentgelt auch immer war.

 

Normenkette

SGG § 78 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 105 Abs. 5 Fassung: 1956-12-23, § 141d Abs. 3 Fassung: 1956-12-23; AVAVGÄndG 1956-12 Art. 9 § 10 Fassung: 1956-12-23; AVAVG § 90 Abs. 5 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1959 wird aufgehoben.

Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 6. Oktober 1958 wird dahin abgeändert, daß die Klage als unbegründet abgewiesen wird.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger, von Beruf Bauingenieur, war selbständig und bezog von April 1954 an Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Das Arbeitsamt (ArbA.) Hamm/Westf. setzte die Alfu mit Verfügung vom 4. Juli 1956 nach einem Arbeitsentgelt von monatlich 500,- DM fest. Der Bescheid wurde dem Kläger nicht schriftlich mitgeteilt. Durch Verfügung vom 4. April 1957 wurde an Stelle der Alfu Arbeitslosenhilfe (Alhi) nach den vom 1. April 1957 an geltenden Unterstützungssätzen bewilligt, aber wiederum entsprechend einem Arbeitsentgelt von höchstens 500,- DM monatlich. Auch diese Verfügung wurde dem Kläger nicht schriftlich bekanntgegeben.

Mit Schreiben vom 24. Mai 1957 an den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und vom 24. Juni 1957 an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb.) bemängelte der Kläger die Höhe der Alhi. Am 13. August 1957 wurde er vom Landesarbeitsamt (LArbA.) Nordrhein-Westfalen ablehnend beschieden. Erneute Beschwerden vom 14. und 16. August sowie vom 5. November 1957 gegen die Bemessung der Alhi lehnte der Präsident der BfArb. am 21. Oktober und 13. November 1957 ab.

Mit Schreiben vom 20. Februar 1958 focht der Kläger die Festsetzung seiner Alhi beim ArbA. an. Dieses teilte ihm am 3. April 1958 mit, es betrachte seine Eingabe durch die Schreiben der BfArb. und des LArbA. als erledigt. Mit der Klage vom 27. März 1958 begehrte der Kläger, die Alhi vom 1. Juli 1956 an nach einem monatlichen Entgelt von 680,- DM und vom 1. Juli 1957 an nach einem monatlichen Entgelt von 750,- DM statt von 500,- DM zu bemessen und die Unterschiedsbeträge nachzuzahlen. Das Sozialgericht (SG.) wies durch Urteil vom 6. Oktober 1958 die Klage gegen die Festsetzung der Alhi vom 4. Juli 1956 als unzulässig ab. Es ging davon aus, ein Vorverfahren habe nicht stattgefunden; deshalb sei die Klage nicht zulässig und eine Nachprüfung des Bescheides vom 4. Juli 1956 nicht möglich gewesen. Das SG. belehrte den Kläger, die Berufung sei nach § 147 des Sozialgerichtsgesetzen (SGG) ausgeschlossen und nur zulässig, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt werde. Der Kläger legte am 29. Dezember 1958 Berufung ein. Er wandte u.a. ein, er habe Einspruch erhoben; die Frist sei nicht versäumt gewesen, zumal das ArbA. mit den "oberen" Dienststellen verbunden sei. Hätte er keinen Widerspruch erhoben, so sei der im Urteil des SG. erwähnte Bescheid des ArbA. vom 3. April 1958 an die falsche Adresse gerichtet gewesen.

Das Landessozialgericht (LSG.) verwarf durch Urteil vom 9. Juni 1959 die Berufung des Klägers. Sie sei nach § 147 SGG nicht statthaft, da sie die Höhe der Alhi betreffe. Das Urteil des SG. lasse auch nicht erkennen, daß es die Berufung habe zulassen wollen. Zwar sei dem Vorbringen des Klägers, er habe rechtzeitig Widerspruch erhoben und es habe ein Vorverfahren stattgefunden, die Rüge zu entnehmen, das SG. habe zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen statt in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Rüge betreffe einen wesentlichen Verfahrensmangel, sei aber nicht begründet. Es treffe nicht zu, daß der Kläger rechtzeitig, insbesondere im August 1956, Widerspruch beim ArbA. erhoben habe; ein solches Schreiben befinde sich nicht in den Akten noch habe der Kläger eine Durchschrift vorlegen können. Auch habe er die Angaben über den Zeitpunkt des Widerspruchs geändert und nicht dartun können, daß er ihn später eingelegt habe. Das LSG. ließ die Revision nicht zu.

Der Kläger legte gegen das am 13. Juli 1959 zugestellte Urteil am 10. August 1959 Revision ein. Er beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen oder die Sache an das LSG. zurückzuverweisen.

Am 23. Dezember 1959 begründete er die Revision: Wie das SG. habe auch das LSG. "nicht materiell" entschieden. Bei der Festsetzung der Alhi am 4. Juli 1956 habe er keine "Rechtsmittelbelehrung" erhalten. Er habe die Grundlagen der Bemessung erst am 13. Februar 1958 erfahren und sich danach am 20. Februar 1958 an das ArbA. gewandt, das ihn am 3. April 1958 beschieden habe. Es habe also ein Vorverfahren stattgefunden.

Die Beklagte stellte keine Anträge, war jedoch der Ansicht, die Verfügung vom 4. April, 1957 sei im Vorverfahren nachgeprüft worden. Das Schreiben des Klägers vom 20. Februar 1958 sei als Widerspruch, der Bescheid des ArbA. vom 3. April 1958 als Widerspruchsbescheid anzusehen. Die Klage sei danach zulässig gewesen; sie sei aber nicht begründet.

II.

Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mangel.

Zwar ist nach § 147 SGG n.F. in Angelegenheiten der Alhi die Berufung nicht statthaft, soweit sie die Höhe der Leistung betrifft. Gegenstand der Berufung ist aber hier nicht die Höhe der Alhi, sondern die Frage gewesen, ob die Klage zulässig war oder nicht. Der Kläger hat Berufung eingelegt, damit das prozeßabweisende Urteil beseitigt und eine sachliche Nachprüfung ermöglicht werde. Er war der Auffassung, das in diesem Falle vorgeschriebene Vorverfahren habe stattgefunden, das SG. habe zu Unrecht die Prozeßvoraussetzungen verneint und die sachliche Nachprüfung seines Anspruchs verwehrt. In einem Streit über diese Frage ist die Berufung aber nicht ausgeschlossen. Das LSG. hat sonach gegen § 147 SGG verstoßen. Der Kläger hat dies auch gerügt. Die Revision ist damit statthaft. Sie ist auch zulässig, da der Kläger sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet hat.

Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG. ist aufzuheben, da es auf unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften beruht. Es kann dahingestellt bleiben, ob nicht schon die Schreiben des Klägers vom 24. Mai und 24. Juni 1957 als Widerspruch gegen die Verfügung vom 4. Juli 1956 aufzufassen gewesen wären, zumal ihm diese Entscheidung nicht schriftlich mit der gebotenen Rechtsbehelfsbelehrung mitgeteilt worden ist, so daß er sie noch innerhalb eines Jahres mit den zulässigen Rechtsbehelfen anfechten konnte (§ 66 Abs. 2 SGG). Jedenfalls hat das LSG. übersehen, daß auch die im Urteil erwähnte Verfügung vom 4. April 1957 angefochten war, durch welche das ArbA. die Alhi vom 1. April 1957 an nach den geänderten Sätzen der im Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 23. Dezember 1956 beigefügten Tabelle bewilligt hat, aber wie bisher entsprechend einem Arbeitsentgelt von nicht mehr als 500,- DM monatlich. Diese Entscheidung ist ebenfalls nicht schriftlich mit der vorgeschriebenen Rechtsbehelfsbelehrung bekanntgegeben worden (§ 177 AVAVG n.F.). Der Kläger konnte sie daher innerhalb eines Jahres anfechten (§ 66 Abs. 2 SGG). Er hat dies mit Schreiben vom 20. Februar 1958 auch getan; er hat sich mit diesem Schreiben gegen die Entscheidung gewandt, durch welche die Alhi nach seiner Ansicht nach einem geringeren Arbeitsentgelt bemessen worden war, als für ihn in Betracht kam. Das ArbA. hat diesen Widerspruch am April 1958 zurückgewiesen. Es hat zwar die Eingabe vom 20. Februar 1958 unter Hinweis auf die ablehnenden Bescheide der BfArb. und des LArbA. als erledigt betrachtet, sich damit aber deren Auffassung zu eigen gemacht und so zum Ausdruck gebracht, daß es die Bemessung der Alhi für richtig halte. Ein Vorverfahren hat sonach stattgefunden. Die Klage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil sie am 27. März 1951 erhoben, der Widerspruch aber erst am 3. April 1958 zurückgewiesen worden ist. Zwar fehlt eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage, solange das Vorverfahren nicht durchgeführt ist. Dieser Mangel kann aber geheilt werden. Es beeinträchtigt die Zulässigkeit der Klage nicht, wenn die zunächst fehlenden Prozeßvoraussetzungen bis zum Schluß der Sitzung, auf die das Urteil ergeht, nachgeholt sind. Im vorliegenden Falle hat das SG. am 6. Oktober 1958 entschieden. Zu diesem Zeitpunkt war das Vorverfahren bereits durchgeführt. Die Klage war sonach zulässig.

Sie war aber nicht begründet. Tatsächliche Feststellungen sind insoweit nicht erforderlich. Schon aus rechtlichen Gründen ist hier die Berücksichtigung des Arbeitsentgelts von mehr als 500,- DM ausgeschlossen. Da der Kläger vor der Arbeitslosmeldung nicht in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hatte, war die Alfu nach dem an seinem Wohnort geltenden tariflichen oder ortsüblichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung zu bemessen, die unter billiger Berücksichtigung seines Berufs und seiner Ausbildung für ihn in Betracht kam (§ 1 Abs. 3 des Gesetzes über Bemessung und Höhe der Alfu vom 29.3.1951 - BGBl. I S. 221 -). Ein höheres Entgelt als 116,69 DM wöchentlich oder 500,- DM monatlich durfte aber, wie sich aus dem nach Art. III Nr. 3 der Verordnung Nr. 117 der ehemaligen britischen Militärregierung auch auf die Alfu anwendbaren § 105 Abs. 4 AVAVG in der damaligen Fassung und der dem Bemessungsgesetz vom 29. März 1951 beigefügten Tabelle ergab, nicht zugrunde gelegt werden. Bei der Bemessung der Alfu mußten diese Höchstbeträge in jedem Falle beachtet werden, wie hoch das im Einzelfall in Betracht kommende tatsächliche oder geschätzte, tarifliche oder ortsübliche Arbeitsentgelt auch immer war. Nach diesen Vorschriften durfte die Beklagte die Alfu höchstens nach einem Arbeitsentgelt von 500,- DM monatlich bemessen. Diese Höchstbeträge galten auch, als durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 16. April 1956 (BGBl. I S. 243) vom 1. April 1956 an die Alfu durch die Alhi ersetzt und neu geregelt wurde. Geändert wurden u.a. die Unterstützungssätze in der diesem Gesetz beigefügten Tabelle, aber nicht die Höchstbeträge des für die Feststellung der Unterstützungssätze maßgebenden Arbeitsentgelts. Zugrunde zu legen war nunmehr nach § 141 d Abs. 3 AVAVG wiederum das tarifliche oder ortsübliche Arbeitsentgelt der für den Kläger in Betracht kommenden Beschäftigung, aber kein höherer Betrag als 500,- DM monatlich. Zwar sind vom 1. April 1957 an die Höchstbetrage auf 175.- DM wöchentlich oder 750,- DM monatlich erhöht und entsprechend höhere Unterstützungssätze festgesetzt worden (§ 105 Abs. 5 AVAVG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23.12.1956 - BGBl. I S. 1018 -, § 90 Abs. 5 AVAVG in der Fassung vom 3.4.1957 - BGBl. I S. 322 -). Nach den Übergangsvorschriften in Art. IX § 10 des Änderungsgesetzes durfte aber auch jetzt ein höheres Arbeitsentgelt als 500,- DM monatlich nicht zugrunde gelegt werden, wenn die Unterstützung - wie hier gemäß § 141 d Abs. 3 AVAVG a.F. in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 23. Dezember 1956 (jetzt § 146 Abs. 3) nach dem tariflichen oder ortsüblichen Arbeitsentgelt der für den Arbeitslosen in Betracht kommenden Beschäftigung bemessen war. In diesem Falle gelten die alten Höchstbeträge bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch auf Alhi durch eine nach dem 1. April 1957 ausgeübte Beschäftigung im Sinne des § 141 a Abs. 1 Nr. 4 Buchst. d AVAVG a.F. (jetzt § 145 Abs. 1 Nr. 4 d) erfüllt wurde. Diese Übergangsvorschrift war im vorliegenden Falle anzuwenden. Der Bemessung der Alhi durfte daher in diesem Falle ein höheres Arbeitsentgelt als 500,- DM monatlich nicht zugrunde gelegt werden. Die Klage war deshalb nicht begründet und abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2939578

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