Leitsatz (amtlich)

Für Zeiten nach Vollendung des 18. Lebensjahres ist eine Waisenrente wegen Gebrechens nur dann zu zahlen, wenn das Gebrechen schon im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres vorgelegen hat; dies gilt auch dann, wenn die Waise unmittelbar vor einem erst nach jenem Zeitpunkt auftretenden Gebrechen Waisenrente wegen einer Ausbildung bezogen hatte.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Gebrechlichkeitswaisenrente nach RKG § 67 ist nur zu zahlen, wenn das Gebrechen schon im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres vorgelegen hat.

 

Normenkette

RKG § 67 Fassung: 1957-05-21

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28. April 1960 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Erich Wilhelm R..., geboren am 26. April 1934, erhielt von der Beklagten aus der Versicherung seines 1945 verstorbenen Vaters Joseph R. bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres die Waisenrente. Diese Rente wurde ihm seit 1. Januar 1957 wiedergewährt, da er sich als Student an der Philosophisch-theologischen Hochschule Frankfurt (Main) in Berufsausbildung befand. Im Sommer 1958 erkrankte die Waise, und zwar - wie sich später herausstellte an einem Sarkom, das am 20. März 1960 zum Tode führte. Durch nicht mit Rechtsmittelbelehrung versehenen, an die Mutter der Waise gerichteten Bescheid vom 9. Dezember 1958 stellte die Beklagte die Waisenrentenzahlung mit Ablauf des Monats Juli 1958 ein, weil die Waise ihr Studium unterbrochen habe und kündigte die Einbehaltung des bis Dezember 1958 überzahlten Betrages (252, 50DM) bei der aus der Rentenumstellung zu erwartenden Nachzahlung an; die Einbehaltung wurde alsdann im Rahmen des Umstellungsbescheides vom 23. Januar 1959 auch vorgenommen. Mit der gleichen Begründung wies die Beklagte den von der Mutter der Waise eingelegten Widerspruch durch Bescheid vom 12. März 1959 zurück.

Hiergegen erhob die Mutter der Waise Klage vor dem Sozialgericht (SG) Aachen. Schriftsätzlich bestritt die Beklagte zunächst bei Lebzeiten der Waise (14.9.1959); offenbar ohne Kenntnis der Diagnose, daß ein Gebrechen im Sinne des § 67 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) vorliege; ein solches komme nur in Frage, wenn mit einem regelwidrigen Zustand für nicht absehbare Zeit zu rechnen sei (zB bei Gliederverlust, Taubheit, Blindheit, Lähmungszuständen, geistige Schwäche), nicht aber bei einer akuten Erkrankung, selbst wenn sie einige Monate dauere. Später erklärte die Beklagte dagegen (Schriftsatz vom 17.12.1959), der Waisenrentenanspruch sei nicht gerechtfertigt, weil "die jetzt bei dem Sohn der Klägerin bestehenden körperlichen Gebrechen ... nicht bei Vollendung des 18. Lebensjahres bestanden haben, sondern erst später aufgetreten" seien. Im Verhandlungstermin vom 28. April 1960 wurde festgestellt, daß die Mutter des inzwischen verstorbenen Erich Wilhelm R. die Klage als Bevollmächtigte im Rahmen des § 73 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erhoben habe und daß der Verstorbene mit seiner Mutter in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe. Der Prozeßbevollmächtigte der Mutter des Verstorbenen nahm den Prozeß für diese als Rechtsnachfolgerin des ursprünglichen Klägers wieder auf.

Das SG verurteilte die Beklagte kostenpflichtig zur Gewährung von Waisenrente für die Zeit vom 1. August 1958 bis 31. März 1959.

Es führte aus, der Verstorbene habe sich in der fraglichen Zeit zwar nicht in Schul- oder Berufsausbildung befunden (§ 67 Abs. 1 RKG n.G. 1. Alternative), auf ihn treffe jedoch die 2. Alternative aaO zu, da er infolge eines körperlichen Gebrechens nicht imstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Die Beklagte habe selbst vorgetragen, daß die Sarkomerkrankung unheilbar gewesen und insoweit der Begriff des Gebrechens im Sinne von § 67 Abs. 1 RKG gegeben sei. Der Gesetzeswortlaut scheine allerdings die Rentengewährung bei Vorliegen eines Gebrechens anders als bei Schul- oder Berufsausbildung davon abhängig zu machen, daß das Gebrechen bereits bei Vollendung des 18. Lebensjahres bestanden habe, was hier nicht der Fall sei. Eine dem Sinn folgende Auslegung des § 67 RKG müsse jedoch davon ausgehen, daß eine Waise, die sich zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr in Schul- oder Berufsausbildung befinde, in Regelfalle auch vorher ohne versicherungspflichtige Beschäftigung ausgebildet worden sei, daß sie daher selbst keine Beiträge an einen Versicherungsträger gezahlt haben werde, weshalb es unerheblich sei, ob sie sich bei Vollendung des 18. Lebensjahres oder erst später in Schul- oder Berufsausbildung befunden habe. Ein Kind dagegen, das nicht weiter ausgebildet werde, habe, solange es nicht erkrankt sei, im Regelfalle nach der Vollendung seines 18. Lebensjahres bereits eigene Sozialversicherungsbeiträge entrichtet, die ihm normalerweise einen eigenen Rentenanspruch sicherten, weshalb hier die Gewährung einer Waisenrente bei späterem Eintritt des Gebrechens nicht gerechtfertigt sei. Anders liege es dagegen in einem Falle wie dem vorliegenden, da der Kläger hier ohne Beitragsentrichtung fortlaufend in Schul- oder Berufsausbildung gewesen sei; bei der Unterbrechung dieser Ausbildung durch ein Gebrechen erscheine es daher gerechtfertigt, von diesem Zeitpunkt ab die Rente, nun auf Grund des Gebrechens, beizubehalten. Das SG hat die Berufung gegen sein am 11. Mai 1960 zugestelltes Urteil ausdrücklich zugelassen.

Die Beklagte hat am 2. Juni 1960 unter Beifügung der Einverständniserklärung des Prozeßbevollmächtigten der nunmehrigen Klägerin vom 20. Mai 1960 Sprungrevision eingelegt und diese am 5. Juli 1960 begründet.

Sie rügt eine Verletzung des § 103 SGG und des § 67 RKG.

Das SG habe die Feststellung, daß/die Sarkomerkrankung ein Gebrechen sei, ohne medizinische Begutachtung aus eigener Sachkunde nicht treffen dürfen. Ein Gebrechen sei immer ein abgeschlossener Dauerzustand (vgl. Grunds. Entsch. des RVA Nr. 3194 und Brunn, Monatsschrift für Arbeiter- und Angestelltenversicherung, 1927 Sp. 45). Akute Erkrankungen dagegen, deren Verlauf sich auf eine kürzere oder längere, jedenfalls aber im voraus abschätzbare Dauer beschränken, würden auch dadurch, daß sie zum Tode führten, keine Gebrechen.

Sollte das Sarkom jedoch als Gebrechen angesehen werden, so lasse der klare und unmißverständliche Wortlaut des § 67 Abs. 1 RKG die vom SG vorgenommene Auslegung nicht zu, da für die Gewährung der Waisenrente dann eben Voraussetzung sei, daß das Gebrechen bei Vollendung des 18. Lebensjahres bestanden habe.

Die Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Die Klägerin beantragt die kostenpflichtige Zurückweisung der Revision. Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Darüber hinaus hält sie die Entziehung der Rente schon deshalb für unberechtigt, weil keine Aufgabe, sondern nur eine zeitweilige Unterbrechung der Berufsausbildung vorgelegen habe bzw. beabsichtigt gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung und Beifügung einer Einverständniserklärung der Klägerin eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, da die Berufung, die an sich nach § 146 SGG unzulässig gewesen wäre, - da es sich nur um Waisenrente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum handelt -, vom SG ausdrücklich nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen worden ist.

Die Revision ist begründet.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Sarkomerkrankung des verstorbenen Sohnes der Klägerin ein Gebrechen im Sinne des § 67 Abs. 1 RKG gewesen ist oder nicht (für eine Entscheidung darüber fehlen alle tatsächlichen Feststellungen außer der globalen Angabe, der Sohn sei an einem "Sarkom" gestorben), da der Rentenanspruch auch dann nicht gerechtfertigt ist, wenn jenes Leiden als "Gebrechen" angesehen werden müßte. Es bedarf daher auch keines Eingehens auf die auf § 103 SGG gestützte Verfahrensrüge.

§ 67 Abs. 1 RKG (gleichlautend § 1267 Abs. 1 RVO) sieht grundsätzlich die Gewährung von Waisenrente nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres vor. Ausnahmsweise ist die Waisenrente bis zum 25. Lebensjahr an (unverheiratete) Waisen zu gewähren, die sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden oder die bei Vollendung des 18. Lebensjahres infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, eine Regelung, die jetzt mit demselben Wortlaut im übrigen auch für die Gewährung des Kinderzuschusses gilt. Schon aus dem Wortlaut ist ersichtlich, daß im zweiten Fall (Gebrechen) zwängend verlangt wird, daß der Umstand, der zur Rentenzahlung an über 18-jährige Waisen berechtigt, schon im Zeitpunkt des normalen Auslaufs der Rente bestanden haben muß, während für die erste Möglichkeit (Ausbildung) ein derartiges einschränkendes Erfordernis nicht aufgestellt ist. Hätte der Gesetzgeber diese Unterscheidung nicht beabsichtigt, dann wären die Worte "bei Vollendung des 18. Lebensjahres" überflüssig und unverständlich.

Der Gesetzgeber hatte an Hand einer langen Entwicklung der Vorschriften über die Gewährung der Waisenrente und entsprechender Leistungen auf anderen Gebieten immer wieder Veranlassung, sich mit den fraglichen Problemen zu befassen. Gerade der Umstand, daß die fraglichen Vorschriften stets wechselnd den jeweiligen Rechtsvorstellungen und den Billigkeits- und Wirtschaftlichkeitserwägungen angepaßt wurden, beweist, daß auch die derzeitige Fassung ganz bewußt gewählt ist.

Erstmals wurde die Waisenrente, ebenso wie der Kinderzuschuß zu der Invalidenrente, in der Sozialversicherung allgemein nach längeren Erörterungen beim Inkrafttreten der RVO eingeführt, damals beschränkt auf die Vollendung des 15. Lebensjahres. Im RKG vom 23. Juni 1923 wurde sodann nach gründlicher Abwägung aller in Frage kommenden Motive vorgeschrieben, daß jene Leistungen allgemein bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu gewähren seien, eine Regelung, der dann alsbald auch die RVO und das AVG (am 13.7.1923) folgten. Ausdrücklich wird bereits damals hervorgehoben, daß mit dieser Regelung bewußt der Grundsatz aufgegeben ist, daß der Bezug von Waisengeld nicht mit eigener erwerbstätiger Beschäftigung der Waisen zusammenfallen dürfe und jemand nicht selbstversichert sein könne, der gleichzeitig Leistungen aus einer entsprechenden Versicherung empfange (Reuß-Hense, RKG, 1923, Anm. 9 zu § 24, S. 112). Das Waisengeld (§ 24 Abs. 3), nicht aber der Kinderzuschuß wurde bis zum 21. Lebensjahr gewährt, falls das Kind bei Vollendung des 18. Lebensjahres an einem "Gebrechen" litt.

Die Änderung des RKG vom 1. Juli 1926 zeigt besonders deutlich, daß dem Gesetzgeber die hier zu erörternden Unterschiede sehr wohl bewußt waren. Bei allen in Frage kommenden Leistungen wurde die allgemeine Altersgrenze auf das 15. Lebensjahr herabgesetzt. Das Waisengeld (§ 34 Abs. 2) wurde darüber hinaus bis zum 21. Lebensjahr bei vorliegender Schul- und Berufsausbildung, bei Gebrechen dagegen, falls sie bereits bei Vollendung des 15. Lebensjahres vorgelegen hatten, ohne zeitliche Schranke gezahlt, solange das Kind sich nicht selbst unterhalten konnte. Das Kindergeld dagegen (§ 40) war abweichend hiervon ebenso geregelt wie der Zuschlag zum Krankengeld (§ 22); hier setzte jede Zahlung über das 15. Lebensjahr hinaus voraus, daß das Kind überwiegend von dem Versicherten unterhalten wurde, eine zeitliche Begrenzung entfiel dagegen sowohl bei der Schulausbildung wie beim Gebrechen, bei letzterem anfangs auch insoweit, als nicht gefordert wurde, es müsse bereits bei Vollendung des 15. Lebensjahres bestanden haben. Auf diese Unterschiede hat mit zustimmender Begründung das RVA bereits in seiner Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3127 vom 7. Dezember 1927 (AN 1928, IV S. 110) hingewiesen (siehe auch RVA Grunds. Entsch. Nr. 4206 vom 25.9.1931 -AN 1931 IV 450).

In der Folgezeit waren auch für die knappschaftliche Versicherung durch Verweisung die Bestimmungen der RVO (§ 1259, später § 1258) anzuwenden. Ein mehrfacher, durch Gesetze, Notverordnungen und Satzungen, nach dem Kriege auch durch Eingriffe der Besatzungsmacht eintretender Wechsel zwischen den Grenzen des 15. und 18. Lebensjahres und zwischen innerhalb dieser Spanne liegenden Ausnahmen führte schließlich erst mit der Regelung durch § 3 SVAG (1.6.1949) wieder zu einer einheitlichen, im gesamten Bundesgebiet geltenden Regelung: § 1258 RVO jener Fassung gewährte allgemein und ohne Ausnahmen die Waisenrente bis zum 18. Lebensjahr. Erst das Kindergeldergänzungsgesetz (KGEG) vom 1. Februar 1956 erweiterte diese Leistung, beschränkt auf dritte und weitere Kinder wieder bis zum 25. Lebensjahr, wenn jene Kinder in Ausbildung stehen oder an einem Gebrechen leiden. Kiese Regelung wurde schließlich durch die jetzige Bestimmung des § 67 Abs. 1 RKG bzw. § 1267 Abs. 1 RVO abgelöst.

Bei Betrachtung dieser Entwicklung kann kein Zweifel daran aufkommen, daß die jeweiligen Unterschiede durchaus bewußt und gewollt waren und daß auch die derzeitige Regelung ihrem - wie oben bereits angedeutet, einer abweichenden Auslegung ohnehin insoweit kaum zugänglichen - Wortlaut entsprechend anzuwenden ist. Aus welchen Gründen der Gesetzgeber die früheren und jetzigen Regelungen jeweils getroffen hat, kann im einzelnen nicht immer klargestellt werden; sicher ist aber jedenfalls, daß die Überlegungen darüber im gesetzlichen Wortlaut stets einen klaren Ausdruck gefunden haben.

Wenn das SG zwar nicht grundsätzlich, aber doch für Fälle der vorliegenden Art, in denen sich an eine nach dem 18. Lebensjahr liegende Zeit der Ausbildung unmittelbar ein "Gebrechen" anschließt, aus dem Sinn des Gesetzes eine andere Auslegung für zulässig hält, überschreitet es damit die Grenzen, die dem Richter gestattet sind. Die Gedanken des SG mögen de lege ferenda nicht unbeachtlich sein, sie haben jedoch in der anzuwendenden Vorschrift keinen Niederschlag gefunden. Daß im übrigen neben den vom SG in dieser Hinsicht angestellten Überlegungen auch andere Gesichtspunkte in Frage kommen, erweisen bereits die vom RVA früher angestellten Erwägungen (vgl. GE Nr. 3216 - AK 1926, 295, Nr. 3229 - AN 1926, 414 und die bereits oben zitierten weiteren Entscheidungen).

Schließlich vermag auch der von der Klägerin noch vorgetragene Gesichtspunkt, die Waisenrente sei weiterzuzahlen gewesen, weil die Berufsausbildung nur unterbrochen gewesen wäre, nicht zu einem ihr günstigeren Ergebnis zu führen, weil - wie der tatsächlich festgestellte Geschehensablauf eindeutig ausweist -die Ausbildung nicht nur unterbrochen, sondern endgültig abgeschlossen war. Für denjenigen Zeitraum, während dessen möglicherweise noch von einer bloßen Unterbrechung hätte gesprochen werden können - das auslaufende Sommersemester 1958 - ist die Rente noch gewährt worden.

Die Revision mußte daher zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 35

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