Leitsatz (amtlich)
Ein eheliches Kind, dessen Mutter und Vater gestorben sind und das im Haushalt der 2. Ehefrau seines Vaters, seiner Stiefmutter, lebt, hat Anspruch auf Vollwaisenrente aus der Rentenversicherung seines Vaters. Ein dem Kinde von der Stiefmutter tatsächlich gewährter Unterhalt steht dem eine Vollwaisenrente ausschließenden gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen einen Elternteil nicht gleich (Fortführung von BSG 1961-12-21 12/3 RJ 96/60 = BSGE 16, 110).
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1267 Fassung: 1957-02-23, § 1269 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 1965 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 26. September 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Klägerin, deren leibliche Eltern gestorben sind, Anspruch auf Vollwaisenrente hat, obwohl sie noch eine Stiefmutter hat, in deren Haushalt sie aufgenommen ist.
Die Klägerin ist 1951 als Kind der Eheleute R und F H geboren. Die Mutter ist 1952 gestorben. Der Vater, der Versicherte, heiratete 1954 E H geb. J, die jetzige Stiefmutter der Klägerin. Der Versicherte ist am 5. Juli 1961 gestorben.
Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 23. November 1961 Waisenrente. Sie lehnte Vollwaisenrente ab, da die Klägerin mit der Stiefmutter in häuslicher Gemeinschaft lebe und daher keine Vollwaise sei. Die Klägerin meint, sie müsse Waisenrente in der für Vollwaisen vorgeschriebenen Höhe erhalten (§ 1269 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung von Vollwaisenrente verurteilt (Urteil vom 26. September 1963).
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG geändert, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 24. Februar 1965).
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 1269 RVO. Bei der Gleichstellung von gesetzlichem Unterhaltsanspruch und von tatsächlich gewährtem Unterhalt werde übersehen, daß damit einer gesetzlich vom Unterhalt befreiten Person Leistungen auferlegt würden, für die der Versicherungsträger aufzukommen habe. Die Leistungspflicht des Versicherungsträgers beim Kinderzuschuß beruhe nicht allein auf der Unterhaltsregelung; es werde vielmehr die allgemeine Belastung durch die Aufnahme des Stiefkindes im Haushalt abgegolten. Ansprüche auf Vollwaisenrente und Kinderzuschuß hinsichtlich desselben Kindes schlössen einander nicht aus.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die zulässige Revision ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Waisenrente in der einer Vollwaise zustehenden Höhe nach § 1269 RVO.
Wie in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dargelegt, ist der für die Höhe der Waisenrente nach § 1269 RVO bedeutungsvolle Begriff der Vollwaise im Gesetz nicht bestimmt; auch der allgemeine Sprachgebrauch, nach dem Vollwaise ein Kind ohne Eltern ist, kann nicht ohne weiteres für Fälle gelten, in denen mehrere Personen als "Eltern" in Betracht kommen; um zu einer zutreffenden Auslegung des Begriffes zu gelangen, bedarf es daher des Eingehens auf den Sinn und Zweck des § 1269 RVO; dieser aber ist es, der Vollwaisen deshalb eine höhere Waisenrente gewährt, weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (BSG 16, 110; BSG vom 21. Dezember 1961 - 12/3 RJ 192/59 und 12/4 RJ 358/60; vom 29. Februar 1968 - 4 RJ 287/67). Insoweit ist das LSG in dem angefochtenen Urteil der Rechtsprechung des BSG ausdrücklich gefolgt.
Die sich hieraus ergebende Folgerung, der Klägerin stehe Vollwaisenrente zu, weil sie gegen ihre Stiefmutter nach bürgerlichem Recht keinen Unterhaltsanspruch hat und deshalb kein überlebender Elternteil vorhanden ist, der ihr zum Unterhalt verpflichtet ist, hat das LSG aber nicht gezogen.
Das LSG hat seine Rechtsauffassung einmal damit begründet, Waisen seien gemäß der in § 1267 RVO enthaltenen Verweisung die in § 1262 Abs. 2 RVO aufgeführten Kinder des Versicherten; die Stellung als Kind kennzeichne, wer seine "Eltern" seien; aus der Aufführung der Personen im Gesetz, die als Kinder zu gelten hätten, ergebe sich umgekehrt, welche Personen als Eltern zu gelten hätten, nämlich die leiblichen Eltern, die Stiefeltern, die Adoptiveltern, die Pflegeeltern, der Vater eines unehelichen Kindes, wenn seine Vaterschaft oder seine Unterhaltspflicht festgestellt sei, und die Mutter eines unehelichen Kindes; lebe von diesen genannten Eltern niemand mehr, so sei das Kind Vollwaise, lebe noch ein Elternteil, so sei es Halbwaise. Damit soll offensichtlich gesagt sein, die Klägerin sei keine Vollwaise, da sie ja noch einen Elternteil im Sinne des Gesetzes, nämlich ihre Stiefmutter, habe, also kein Kind ohne Eltern sei.
Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Sie beruht auf einer Verbindung des allgemeinen Sprachgebrauchs, wonach Vollwaisen Kinder ohne Eltern sind, mit der nach der Ansicht des LSG sich aus dem Gesetz ergebenden Bestimmung des Begriffes der Eltern. In dieser Weise dem allgemeinen Sprachgebrauch in Verbindung mit gesetzlichen Begriffsbestimmungen maßgebliche Bedeutung beizumessen, erscheint indessen nicht folgerichtig, wenn es nach der in dem angefochtenen Urteil doch gebilligten Rechtsprechung des BSG bei der Auslegung des Begriffes "Vollwaise" im Sinne des § 1269 RVO maßgeblich auf den Sinn und Zweck der Vorschrift ankommt.
Zum anderen hat das LSG seine Rechtsauffassung wie folgt begründet: Einem Anspruch eines Kindes auf Unterhalt müsse der - einem in den Haushalt aufgenommenen Stiefkind auf Grund des familiären Bandes und sittlicher Anstandspflicht - tatsächlich gewährte Unterhalt gleichgestellt werden, denn die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften behandelten dies beim Kinderzuschuß und bei der Waisenrente nicht unterschiedlich; den Stiefeltern, die Versichertenrente bezögen, räume das Gesetz zum Ausgleich der Aufwendungen für ein in den Haushalt aufgenommenes Stiefkind einen Anspruch auf Kinderzuschuß zu ihrer Rente ein; damit stelle das Gesetz einen auf bürgerlich-rechtlichen Vorschriften beruhenden Unterhaltsanspruch dem tatsächlich gewährten Unterhalt gleich, es gebe den Stiefkindern die gleiche Stellung wie ehelichen oder adoptierten Kindern; auch die Witwenrente sei höher, wenn die Witwe ein waisenrentenberechtigtes Kind - das sei auch ein in den Haushalt aufgenommenes Stiefkind - erziehe (§ 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO); bei dieser Gleichstellung sei es nur folgerichtig, wenn auch die Auswirkungen bei der Festsetzung der Waisenrente gleich seien; werde, wie im vorliegenden Falle, das Kind noch von einer Stiefmutter unterhalten, dann werde der gesetzliche Zweck der Ersatzfunktion einer Waisenrente bereits erreicht, wenn das Kind Halbwaisenrente erhalte; auf der anderen Seite könnte die Stiefmutter, wenn sie versichert sei und der Versicherungsfall eintrete, Kinderzuschuß für die Klägerin erhalten; ein solches Ergebnis würde nicht mit dem Sinn des Gesetzes übereinstimmen, wenn die Klägerin bereits Vollwaisenrente bezöge; die Ansprüche auf Vollwaisenrente und Kinderzuschuß für dasselbe Kind schlössen sich daher gegenseitig aus; könne also ein Anspruch auf Kinderzuschuß für ein Kind entstehen, so könne dieses Kind versicherungsrechtlich nicht Vollwaise sein.
Der Senat ist auch der Auffassung des LSG nicht gefolgt, bei der Auslegung des Begriffes der Vollwaise im Sinne des § 1269 RVO müsse dem Unterhaltsanspruch eines Kindes gegen einen überlebenden Elternteil der Unterhalt gleichgestellt werden, den ein Stiefelternteil der in seinem Haushalt aufgenommenen Waise tatsächlich gewähre.
Gegen diese Auffassung bestehen Bedenken schon aus den folgenden Gründen: Es dürfte nicht zutreffen - wie das LSG angenommen hat -, daß das Gesetz den Stiefeltern, die Versichertenrente beziehen, den Anspruch auf Kinderzuschuß zum Ausgleich der Aufwendungen für ein in den Haushalt aufgenommenes Stiefkind einräumt und damit den tatsächlich gewährten Unterhalt einem bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch gleichstellt. Nach dem Gesetz (§ 1262 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2) erhöht sich die Versichertenrente um den Kinderzuschuß für ein Stiefkind, das in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommen ist. Aufnahme in den Haushalt aber bedeutet Aufnahme in die Familiengemeinschaft (BSG 25, 109, 111 = SozR Nr. 14 zu § 2 KGG; SozR Nr. 24 zu § 1267 RVO), die weder gleichbedeutend mit Unterhaltsgewährung ist noch diese notwendig umschließen dürfte, wie schon die Gegenüberstellung von Aufnahme in den Haushalt und Leistung eines Beitrags zu den Kosten des Unterhalts in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKG) zeigen dürfte, einer Vorschrift, die durch die Verweisung auf sie in § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO Bestandteil des 4. Buches der Reichsversicherungsordnung geworden ist. - Ebensowenig läßt sich eine Gleichstellung von Unterhaltsanspruch und tatsächlicher Unterhaltsleistung durch das Gesetz aus dem Umstand folgern, daß nach § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO u.a. auch eine Witwenrente sich dann erhöht, wenn die Witwe mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht, und zwar schon deshalb nicht, weil auch Erziehung nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Unterhaltsgewährung ist. - Zu Unrecht beruft sich schließlich das LSG zur Begründung seiner Auffassung, der Klägerin stehe Vollwaisenrente nicht zu, darauf, es sei ein nicht mit dem Sinne des Gesetzes übereinstimmendes Ergebnis, daß eine Stiefmutter, die eine Versichertenrente beziehe, für das Stiefkind Kinderzuschuß zu der Rente auch dann erhalte, wenn das Stiefkind Vollwaisenrente beziehe. Dieses Ergebnis, gegen das in der Tat Bedenken erhoben worden sind (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 706 k I in der Fassung des 29. Nachtrags) kann nicht als feststehend angesehen werden. Vielmehr wird in dem Falle - der hier aber nicht gegeben ist -, daß gleichzeitig die Stiefmutter Kinderzuschuß zu ihrer Versichertenrente und das Stiefkind Vollwaisenrente beanspruchen, zu prüfen sein, ob es etwa nicht doch mit dem Willen des Gesetzgebers in Einklang steht, daß beiden Ansprüchen nebeneinander entsprochen wird.
Selbst wenn man aber dementgegen mit dem LSG davon ausginge, es gebe Fälle, in denen das Gesetz Waisenrente auch Kindern gewähre, die gegen den Versicherten zwar keinen Anspruch auf Unterhalt haben, aber von ihm tatsächlich unterhalten sind, in denen es also bei diesen Kindern den tatsächlichen Unterhalt durch den Versicherten einem weggefallenen Unterhaltsanspruch gleichstelle, so käme doch folgendes in Betracht: Dies würde eine Vergünstigung für die Kinder ohne gesetzlichen Unterhaltsanspruch bedeuten. Diese Vergünstigung ist in der Rentenversicherung z.T. erst nach und nach in Anpassung an die Kindergeldgesetzgebung durchgeführt worden, die von der ursprünglichen Korrektur des reinen Leistungslohnes durch Kinderzuschläge nach und nach zu einem allgemeinen sozialen "Familienlastenausgleich" gelangt ist (vgl. BVerfG 11, 105; BABl. 1964, 277; BSG in SozR Nr. 1 zu § 7 BKGG). Der Gesetzgeber kann aber mit dieser sukzessiven Ausdehnung und Verbesserung der Kinderzuschuß- und - daran anschließend - der Waisenrentenberechtigung für die vom Versicherten unterhaltenen Kinder ohne gesetzlichen Unterhaltsanspruch keinesfalls die Verschlechterung der Waisenrentenberechtigung in anderer Richtung gewollt haben. Die Ausdehnung des Kreises der Kinder, für die ein Empfänger von Versichertenrente Kinderzuschuß erhalten kann, soll u.a. das familienähnliche Verhältnis dieser Kinder zum Versicherten festigen. Auf diesem Verhältnis baut die Waisenrentenberechtigung dieser Kinder auf. Es würde aber eine Verschlechterung für die Kinder bedeuten, die schon stets waisenrentenberechtigt waren, wenn aus der Gleichstellung eines weggefallenen tatsächlichen Unterhalts mit einem weggefallenen Unterhaltsanspruch gefolgert würde, daß auch ein tatsächlicher, von einem überlebenden Stief- oder Pflegeelternteil ohne Rechtspflicht gewährter Unterhalt einem gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen einen Elternteil gleichstehe. Bei einer solchen Verbindung zwischen §§ 1267, 1269 RVO und § 1262 Abs. 2 RVO wäre die Erlangung der Vollwaiseneigenschaft mit den Verbesserungen durch Erweiterung der Kinderzuschußberechtigung jeweils erschwert worden. Der Kreis der Personen, die als überlebender Elternteil die Vollwaiseneigenschaft eines Kindes ausschließen, wäre immer mehr ausgedehnt, so daß immer mehr Elternteile wegfallen müßten, bevor eine Waise "Vollwaise" würde. Eine rechtlich schwächere Position - Unterhalt ohne Rechtsanspruch durch einen überlebenden Stiefelternteil - kann nicht zum Nachteil der Waise einer rechtlich günstigeren Position - Unterhaltsanspruch gegen einen überlebenden Elternteil - gleichgestellt werden. Da eine solche Auslegung den sozialen Zwecken der §§ 1267, 1269 RVO offensichtlich widersprechen würde, kann sie nicht als vom Gesetzgeber gewollt und rechtmäßig angesehen werden.
Bei der Auslegung im Sinne des LSG wird nicht berücksichtigt, daß Kinderzuschuß und Waisenrente verschiedenen Kreisen von Berechtigten zugedacht sind und daß diese Leistungen verschiedenen Zwecken (Erleichterung des Familienunterhalts, Ersatz für weggefallenen gesetzlichen Unterhaltsanspruch dienen.
Die Auffassung des Senats führt auch nicht zu einer ungleichen Behandlung einer leiblichen Mutter, die zu ihrer Versichertenrente Kinderzuschuß für ihr Kind erhält, das Halbwaisenrente bezieht, und einer Stiefmutter, der Kinderzuschuß für ein Kind mit Vollwaisenrente gewährt wird. Bei diesen Müttern ist die Rechtslage verschieden. Die leibliche Mutter ist gesetzlich zum Unterhalt ihres Kindes verpflichtet, hat aber ihrerseits gegebenenfalls einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen ihr Kind; bei der Stiefmutter entfallen Unterhaltspflicht und Anspruch gegen das Stiefkind. Im übrigen werden Doppelleistungen insofern vermieden, als Kinderzuschuß in den Fällen des § 1262 Abs. 2 Nr. 2, 7, 8 RVO nur unter bestimmten Voraussetzungen gewährt wird.
Die Revision der Klägerin ist somit begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen