Leitsatz (amtlich)

1. Treten bei einem Versicherten die Voraussetzungen der Rente wegen dauernder Berufsunfähigkeit und der Rente auf Zeit wegen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit gleichzeitig ein, so ist - falls der Rentenantrag rechtzeitig gestellt ist - für die ersten 26 Wochen Rente wegen Berufsunfähigkeit und vom Beginn der 27. Woche an Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

2. Zur Frage der Rücknahme von bindenden Verwaltungsakten, wenn eine ausdrückliche Ermächtigung zur Rücknahme in der RVO nicht enthalten ist.

 

Normenkette

RVO § 1246 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Fassung: 1957-02-23, § 1253 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. September 1961 werden dieses Urteil und das Urteil des Sozialgerichts in Schleswig vom 21. Februar 1961 dahin abgeändert, daß die Beklagte der Klägerin die Rente wegen Berufsunfähigkeit erst vom 1. Oktober 1958 an zu gewähren hat und daß die Klage auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Juli 1958 bis zum 30. September 1958 zusätzlich zurückgewiesen wird.

Die Beklagte hat der Klägerin 3/4 der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Streitig ist, ob der Klägerin, die seit dem 13. Juli 1958 infolge eines Herzinfarkts auf Zeit erwerbsunfähig und dauernd berufsunfähig ist, für die ersten 26 Wochen, für welche nach § 1276 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit nicht gezahlt wird, Berufsunfähigkeitsrente zusteht.

Mit Bescheid vom 22. Oktober 1959 gewährte die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit gemäß den §§ 1247, 1276 Abs. 1 RVO, und zwar für die Zeit vom 12. Januar 1959 (Beginn der 27. Woche) bis zum 31. Juli 1959. Mit einem weiteren Bescheid vom 22. Oktober 1959 gewährte sie ihr außerdem für die Zeit vom 1. August 1959 an Rente wegen (dauernder) Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO).

Gegen beide Bescheide hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) mit dem Antrag erhoben, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Juli 1958 an zu gewähren, da sie seit diesem Monat wegen der Folgen des Herzinfarkts dauernd erwerbsunfähig sei.

Auf ihren Antrag vom 17. November 1959 gewährte die Beklagte der Klägerin durch einen weiteren Bescheid vom 10. Mai 1960 vorzeitiges Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO für die Zeit vom 1. Dezember 1959 an.

Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 21. Februar 1961 verurteilt, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1958 an zu gewähren, und im übrigen die Klage abgewiesen; es hat die Berufung zugelassen.

Durch Urteil vom 28. September 1961 hat das Berufungsgericht die Berufungen der Beklagten und der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte der Klägerin die Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1958 bis zum 11. Januar 1959 und vom 1. August 1959 bis zum 30. November 1959 zu gewähren hat; es hat die Revision zugelassen. Der Klägerin stehe auch für die auf den Herzinfarkt unmittelbar folgenden 26 Wochen Rente wegen Berufsunfähigkeit zu.

Mit ihrer gegen dieses Urteil gerichteten Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 1246, 1276 RVO durch das Berufungsgericht. Einem Versicherten, der gleichzeitig berufsunfähig und erwerbsunfähig sei, könne für die Zeit des Vorliegens beider Versicherungsfälle nur die Rente gezahlt werden, die für den höherwertigen Versicherungsfall zu gewähren ist. Dafür spreche auch der Umstand, daß nach den Vorschriften der RVO eine Dauerrente nur unter den Voraussetzungen des § 1286 RVO wegfallen könne. Diese Voraussetzungen lägen aber in einem solchen Falle nicht vor, es bestehe überhaupt keine Möglichkeit, die Berufsunfähigkeitsrente wieder wegfallen zu lassen. Dies könne aber nicht richtig sein, denn es würden dann nach Ablauf der 26. Woche die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und die wegen Berufsunfähigkeit nebeneinander gezahlt werden. Dies widerspreche aber § 1247 Abs. 5 RVO. Diese Vorschrift stelle allein keine Rechtsgrundlage für eine Renteneinstellung dar. Auch § 1253 Abs. 2 RVO könne nicht analog angewandt werden, weil damit nur die Fälle geregelt seien, in welchen der höherwertige Versicherungsfall später eintrete als der geringerwertige. Denn hier seien der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit auf Zeit in demselben Zeitpunkt eingetreten.

Sie beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. September 1961 sowie das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 21. Februar 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Zurückweisung der Revision im übrigen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. September 1961 dahin abzuändern, daß sie zur Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente allenfalls ab 1. Oktober 1958 verurteilt werde.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die zulässige Revision hatte nur zum Teil Erfolg.

Streitig ist nur noch - da lediglich die Beklagte Revision eingelegt hat -, ob das Berufungsgericht der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juli 1958 bis zum 11. Januar 1959, also für die Zeit, während welcher die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit infolge der Karenzzeit von 26 Wochen (§ 1276 Abs. 1 RVO) nicht gezahlt worden ist, zusprechen durfte.

Der erkennende Senat hat sich im Grundsatz der Auffassung des Berufungsgerichts angeschlossen. Nach dessen nicht angegriffenen Feststellungen war die Klägerin vom 13. Juli 1958, dem Tage des Herzinfarkts, bis zum 31. Juli 1959 erwerbsunfähig. Wenn sie trotzdem die Erwerbsunfähigkeitsrente mit Rücksicht auf § 1276 Abs. 1 RVO erst vom Beginn der 27. Woche, d.h. vom 12. Januar 1959 an erhalten konnte, so steht ihr doch für die voraufgegangene Zeit nach § 1246 RVO Rente wegen dauernder Berufsunfähigkeit zu, da die Wartezeit erfüllt ist und sie berufsunfähig war. Dies war sie deshalb, weil, wer erwerbsunfähig ist, auch berufsunfähig ist; denn auch bei Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit ist die Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO herabgesunken.

Demgegenüber kann nicht eingewendet werden, der "höherwertige" Versicherungsfall (der Erwerbsunfähigkeit) schließe den "geringerwertigen" (der Berufsunfähigkeit) aus. Zwar mag eine gesetzliche Regelung denkbar sein, nach welcher bei Vorliegen des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit derjenige der Berufsunfähigkeit ausgeschlossen wäre. Der Gesetzgeber hat diesen Weg aber nicht beschritten. Was er - durch die Vorschrift des § 1247 Abs. 5 RVO - ausgeschlossen hat, ist vielmehr nur, daß wegen Eintritts dieser beiden Versicherungsfälle beide Renten, die wegen Erwerbsunfähigkeit und die wegen Berufsunfähigkeit, nebeneinander gewährt werden (Verbot der Rentenkumulation). Die Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente ist also in diesen Fällen nur für den Zeitraum ausgeschlossen, für welchen Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt wird. Während der 26 Wochen, für die eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit, wie hier, nicht gewährt wird, steht dem Versicherten, der dauernd berufsunfähig ist, dagegen die Rente wegen dauernder Berufsunfähigkeit zu. Erst mit dem Ablauf der 26. Woche entfallen gemäß § 1247 Abs. 5 RVO die materiellen Voraussetzungen für diese Rente.

Die von der Beklagten vertretene Meinung verkennt den Zweck der Vorschrift des § 1276 RVO über Renten auf Zeit. Durch diese Vorschrift sollen Leistungen für nur vorübergehende Zustände - im vorliegenden Falle für die vorübergehende Erwerbsunfähigkeit - begrenzt werden, um diese nicht eben durch die Leistungsgewährung zu verfestigen; nicht aber bezweckt die Vorschrift eine Einschränkung solcher Leistungen, die auf Grund eines Dauerzustandes - im vorliegenden Falle der dauernden Berufsunfähigkeit - zu gewähren sind.

Auch mit Rücksicht auf das Ergebnis ist die vorstehende Auslegung geboten. Es ist nicht einzusehen, wieso ein Versicherter wie die Klägerin die Berufsunfähigkeitsrente für die ersten 26 Wochen nicht bekommen soll, obwohl er sogar mehr als nur berufsunfähig, nämlich erwerbsunfähig ist, während er sie bekäme, wenn er nur berufsunfähig wäre.

Die Beklagte meint nun, die gegebene Deutung könne nicht zutreffen, weil die RVO keine Vorschrift enthalte, die den Versicherungsträger ermächtige, einen Bescheid über die zeitlich unbeschränkte Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom Ende der 26. Woche an zurückzunehmen, wenn später durch einen weiteren Bescheid Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom Beginn der 27. Woche an gewährt werde. Hier liegt ein solcher Fall allerdings überhaupt nicht vor, denn die Berufsunfähigkeitsrente ist erst nach der Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit, und zwar durch Urteil, festgestellt worden und kann daher durchaus von vornherein auf die Dauer der ersten 26 Wochen beschränkt werden. Auch sonst werden im allgemeinen in solchen Fällen beide Renten, wenn schon nicht in einem Bescheid, so doch zumindest gleichzeitig festgestellt, so daß die Berufsunfähigkeitsrente ebenfalls von vornherein auf die ersten 26 Wochen beschränkt werden kann. Allerdings können auch Fälle vorkommen, in welchen zunächst nur die Berufsunfähigkeitsrente, und zwar ohne zeitliche Beschränkung, festgestellt wird, die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit aber zunächst abgelehnt und erst später im Klageverfahren zugesprochen wird. Wäre es in einem solchen Falle nicht möglich, den Bescheid über die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit der Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente zurückzunehmen, so würden allerdings die Bedenken der Beklagten durchgreifen; denn es wäre mit dem System der Rentenversicherung wie mit der ausdrücklichen Vorschrift des § 1247 Abs. 5 RVO unvereinbar, wenn die zwei Versichertenrenten aus demselben Versicherungsverhältnis für denselben Versicherten nebeneinander gewährt werden müßten. Der Beklagten ist weiter darin zuzustimmen, daß die RVO keine ausdrückliche Vorschrift darüber enthält, daß in solchen Fällen die teilweise Rücknahme des nach § 1247 Abs. 5 RVO für die Zeit vom Beginn der 27. Woche an rechtswidrig gewordenen Bescheides gestattet ist. Daraus kann aber - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht geschlossen werden, daß der bindend gewordene Bescheid über die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente in diesen Fällen nicht teilweise zurückgenommen werden kann. Richtig ist zwar, daß nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Verwaltungsakte in der Sache bindend sind und daher nicht zurückgenommen werden können, wenn dies nicht gesetzlich gestattet ist. Diese Vorschrift muß aber verständigerweise dahin ausgelegt werden, daß diese Wirkung nur insoweit eintritt als das Rücknahmerecht oder der in Betracht kommende Teilbereich des Rücknahmerechts (etwa Rentenentziehung, Rentenwegfall, Rentenumwandlung u.s.w.) gesetzlich vollständig geregelt ist und diese Regelung für den zu entscheidenden Fall keine Rücknahmeermächtigung enthält. Nicht dagegen kann die Sperrwirkung diejenigen Fälle erfassen, die der Gesetzgeber bei der getroffenen Regelung nicht in seinem Blickfeld gehabt hat, von denen man also annehmen muß, daß sie von dieser Regelung nicht erfaßt werden. Insoweit liegt vielmehr eine Gesetzeslücke vor, die von dem Richter zu schließen ist, wobei sich die entsprechende Anwendung der ähnliche Fälle regelnden Rücknahmevorschriften der Reichsversicherungsordnung oder die Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts über die Rücknahme von Verwaltungsakten anbietet (so auch Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts vom 10. April 1964 - 1 RA 35/60 -). Es mag dahinstehen, ob in § 1247 Abs. 5 RVO nicht nur eine materielle Vorschrift, sondern zugleich auch eine verwaltungsverfahrensrechtliche Rücknahmevorschrift zu sehen ist. Jedenfalls kommt hier eine entsprechende Anwendung des § 1253 Abs. 2 Satz 2 RVO in Betracht. Bei dieser Umwandlungsvorschrift handelt es sich zumindest auch um eine Regelung der Frage, ob und in welcher Weise ein bindend gewordener Bescheid zurückgenommen werden kann. Nach dieser Vorschrift ist die Berufsunfähigkeitsrente in eine Erwerbsunfähigkeitsrente umzuwandeln, wenn der Empfänger der Berufsunfähigkeitsrente später erwerbsunfähig wird. Wenn in den der Beklagten vorschwebenden Fällen auch Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit gleichzeitig eingetreten sind und beide Renten nicht in der in dieser Vorschrift vorausgesetzten Reihenfolge festgestellt werden, so sind doch keine Bedenken ersichtlich, die gegen eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf die Fälle dieser Art sprechen.

Steht nach alledem der Klägerin die Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vor dem 12. Januar 1959 zu, so beginnt diese Rente doch, da der Rentenantrag erst am 22. Oktober 1958 gestellt worden ist, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts und des Sozialgerichts erst mit dem 1. Oktober 1958. Der Versicherungsfall ist am 13. Juli 1958 eingetreten, so daß die Dreimonatsfrist des § 1290 Abs. 2 RVO nach der Entscheidung des 4. Senats vom 18. Februar 1964 (4 RJ 225/62), der sich der erkennende Senat anschließt, mit dem 13. Oktober 1958 geendet hat; bei Antragstellung war die Dreimonatsfrist also bereits abgelaufen. Die Rente ist mithin erst vom Beginn des Antragsmonats an zu gewähren. Das angefochtene Urteil und das Urteil des SG sind daher unrichtig, insoweit die Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Juli bis zum 30. September 1958 gewährt worden ist.

Die Revision der Beklagten ist daher insoweit begründet. Im übrigen aber ist sie unbegründet, da sich das angefochtene Urteil als zutreffend erweist. Mit dieser Maßgabe mußte die Revision der Beklagten daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2603739

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge