Orientierungssatz
1. In jahrelanger Untätigkeit eines Versicherten, von dem hätte erwartet werden können, daß er sich auf ihm aufgezwungene Verhältnisse eingestellt und sich einer seinem beeinträchtigten Gesundheitszustand und seinen Fähigkeiten entsprechenden neuen Betätigung zugewandt hätte, kann der Wille zur Lösung vom früheren Beruf zum Ausdruck kommen.
2. Zum Begriff "bisheriger Beruf" iS des RVO § 1246 Abs 2.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Februar 1962 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der 1913 geborene Kläger hat den Malerberuf erlernt. Nach bestandener Gesellenprüfung im Jahre 1933 war er bis August 1939 in diesem Beruf tätig. Dann leistete er bis August 1942 Wehrdienst. Als Folge einer schweren Verwundung wurde bei ihm der rechte Oberschenkel amputiert. Nach der Amputation war der Kläger noch bis zum Kriegsende in S in der Reparaturwerkstätte der S Stadtwerke mit Malerreparaturarbeiten, Lackierung von Fahrzeugen, Malen von Aufschriften nach Schablonen usw. beschäftigt. Er bezieht eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H.
Der Kläger befindet sich im Bundesgebiet seit April 1946. Einer Erwerbstätigkeit ist er seither nicht mehr nachgegangen. Die ihm mit Bescheid vom 1. März 1947 gewährte, aber ruhende Invalidenrente wurde durch Bescheid vom 11. Oktober 1949 mit Ablauf des Monats Oktober 1949 entzogen, weil Invalidität nicht mehr vorliege. Der Kläger arbeitete auch dann nicht, sondern lebte von seiner Kriegsschadenrente und den Versorgungsbezügen. Im April 1957 beantragte er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 12. Februar 1958 ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei. Im Juni 1960 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. November 1960 ab, weil der Kläger auch jetzt noch nicht berufsunfähig sei.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben; ihr hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten hin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Der Kläger sei nach den ärztlichen Gutachten mindestens noch imstande, leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und leichte Arbeiten im Stehen mit Unterbrechung zu verrichten, wobei einzuräumen sei, daß der Kläger mit seinen Leistungsbeschränkungen im Beruf des Malers nicht mehr die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne.
Der Kläger habe auch nicht die Fach- und Sachkenntnisse eines vollwertigen Schriftenmalers. Deshalb scheide eine Verweisung auf diesen Beruf aus. Trotzdem sei der Kläger noch nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die Tätigkeiten, nach denen sich seine Erwerbsfähigkeit beurteile, nicht auf die eines Malers beschränkt seien, denn "unter Berücksichtigung der lange zurückliegenden Ausübung des Malerberufs sei dieser beim Kläger nicht als bisheriger Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO" anzusehen. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei mithin an allen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Rahmen der ihm verbliebenen körperlichen Fähigkeiten zu messen. Aber auch wenn man der gegebenen Begriffsbestimmung des "bisherigen Berufs" nicht folge, lägen beim Kläger die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht vor. Wenn auch einem gelernten Facharbeiter nach § 1246 Abs. 2 RVO grundsätzlich nur Tätigkeiten seiner bisherigen Berufsgruppe zumutbar seien, so sei noch nicht jede Verweisung eines gelernten Facharbeiters auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unzulässig. Was zumutbar sei, bestimme sich nach dem konkreten Berufsleben. Der Kläger sei insgesamt nur 11 Jahre als Maler tätig gewesen; in der Folgezeit habe er bereits durch seine Untätigkeit und als Empfänger öffentlicher Unterstützungsleistungen von sich aus einen sozialen Abstieg vollzogen. Nach alledem genösse der Kläger auch im Falle der Bejahung des Malerhandwerks als bisheriger Beruf keinen Berufsschutz als Maler und müßte sich jede ungelernte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes zumuten lassen, zu der er bei seiner eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit imstande sei. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei er als Beinamputierter, der bis zu mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und leichte Arbeiten auch im Stehen mit Unterbrechung verrichten könne, z. B. für Pack- und Sortiertätigkeiten, Materialienausgabe und -verwaltung u. ä., noch so weitgehend verwendbar, daß er im Vergleich zu anderen gesunden Versicherter noch die sog. gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne. Solche Stellen seien für ihn auch erreichbar.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 16. Februar 1962 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 7. April 1961 zurückzuweisen,
hilfsweise die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 16. Februar 1962 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische LSG zurückzuverweisen.
Er rügt, das LSG habe § 1246 RVO verletzt. Es habe zu Unrecht den Malerberuf nicht als seinen "bisherigen Beruf" im Sinne der zitierten Vorschrift angesehen und nicht berücksichtigt, daß er mit 29 Jahren durch eine schwere Kriegsverletzung aus seinem Beruf herausgerissen worden sei und sich 4 Jahre später sein körperlicher Zustand so verschlimmert habe, daß ihm vom 1. März 1947 an die Invalidenrente habe zuerkannt werden müssen, die ihm dann allerdings mit Ablauf des Monats Oktober 1949 wieder entzogen worden sei. Seither habe er wegen seiner Gesundheitsstörungen nicht mehr arbeiten können und von der Rente als Schwerbeschädigter und der Kriegsschadenrente gelebt. Da ihm als gelernter Facharbeiter nur Tätigkeiten seiner bisherigen Berufsgruppe zumutbar seien, könne er nicht, wie es das LSG getan habe, auf ungelernte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Nach § 1246 Abs. 2 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Das Berufungsgericht hat angenommen, daß als "bisheriger Beruf" des Klägers nicht der Beruf des gelernten Malers gelten könne, weil er diesen Beruf nur in einer vor der Antragstellung länger zurückliegenden Zeit von etwa 15 Jahren und nur für eine Dauer ausgeübt habe, die in ihrem Verhältnis zu den nachfolgenden Zeiten, in denen er nicht als Maler gearbeitet habe, zurückzutreten habe. Der Kläger hat den Malerberuf nach seiner Schulentlassung erlernt, 1933 die Gesellenprüfung abgelegt und bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im August 1939 in diesem Beruf gearbeitet. Nach seiner Verwundung und der danach notwendigen Oberschenkelamputation war er noch bis zum Kriegsende in der Reparaturwerkstätte der Stettiner Stadtwerke mit Malerreparaturarbeiten, Lackierung von Fahrzeugen und Malen von Aufschriften nach Schablonen beschäftigt.
Bei diesem Sachverhalt hätte das LSG nach den bisher von ihm getroffenen Feststellungen nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, der Kläger sei bei der Beurteilung seiner Berufsfähigkeit nicht mehr als gelernter Maler anzusehen. Das Gesetz gibt keine nähere Definition des Begriffs "bisheriger Beruf". Eine solche Definition hat der Gesetzgeber wohl deshalb unterlassen, weil die Vielfalt der Tatbestände des Lebens es angezeigt erscheinen läßt, in jedem Einzelfall den besonderen Umständen des Arbeitslebens nachzugehen und dementsprechend die Subsumierung vorzunehmen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat deshalb Grundsätze herausgestellt, die für den Begriff "bisheriger Beruf" im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO vorwiegend mit zu beachten sind. So bedeutet "bisherige Berufstätigkeit" im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO entgegen der Ansicht des LSG nicht schlechthin die "zuletzt" vor der Antragstellung ausgeübte Tätigkeit. Der Begriff kann überhaupt nicht, wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 2, 182; 16, 18), nach einer allgemein gültigen schematischen Regel festgelegt werden, sondern es sind die Umstände des Einzelfalles entscheidend. Eine zurückliegende Tätigkeit ist für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit nur dann nicht ausschlaggebend, wenn der Versicherte die Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung noch nicht erfüllt hatte, als er die betreffende, jener Versicherung unterliegende Beschäftigung - sei es freiwillig oder sei es aus zwingenden Gründen - aufgab (BSG 19, 279). So liegt der Fall hier nicht. Die bisherigen Feststellungen des LSG reichen aber auch nicht zu der von ihm getroffenen Schlußfolgerung aus, der Kläger habe den Beruf als Maler schon im Alter von knapp 32 Jahren endgültig aufgegeben und in der Folgezeit durch seine Untätigkeit einen sozialen Abstieg und dadurch eine Lösung vom Malerberuf vollzogen. Eine solche Annahme muß sich, wie auch im Falle des gewollten Berufswechsels, auf einen freien und erkennbaren Entschluß des Versicherten stützen können (vgl. dazu BSG 2, 182, 186). Das LSG hat aber für seine Annahme, der Kläger habe auf die vom LSG angenommene Weise sich von seinem Malerberuf gelöst, nicht nur keine ausreichenden Tatsachen angeführt, sondern auch nicht genügend beachtet, daß der Kläger nach dem Bescheid der Beklagten vom 1. März 1947 bis zum 31. Oktober 1949 Rente wegen Invalidität bezogen hat. Bis zu diesem Zeitpunkt wenigstens kann somit eine Lösung vom Malerberuf nicht vorliegen, denn es war dem Kläger Invalidität in diesem Beruf zuerkannt. Aber auch für die Zeit danach fehlt es bisher an wesentlichen Anhaltspunkten für die Annahme des LSG, der Kläger sei nicht wegen seines Gesundheitszustandes in seinem Malerberuf untätig geblieben, sondern habe ihn durch Untätigkeit überhaupt aufgegeben. Die vom LSG dazu angestellten nur allgemeinen Erwägungen reichen jedenfalls nicht aus, um sagen zu können, der Kläger sei aus seinem Beruf als Maler ausgeschieden (vgl. dazu auch BSG in SozR RVO § 1246 Bl. Aa 21 Nr. 33). Wie das Bundessozialgericht in BSG 19, 217 entschieden hat, ist die Beantwortung der Frage, ob jemandem ein bestimmter, für die Rentenversicherung maßgeblicher Berufsstatus zukommt, davon abhängig, ob sich der Versicherte einer entsprechenden Tätigkeit mindestens auf eine gewisse längere Dauer zugewandt und diese Tätigkeit auch in einem solchen Umfange ausgeübt hat, daß sie seiner Person im wirtschaftlichen Leben das Gepräge geben konnte. Entsprechendes kann auch für den Fall gelten, daß ein Facharbeiter in jungen Jahren aus Gesundheitsgründen die Tätigkeit in seinem Beruf aufgeben mußte und dann als Facharbeiter untätig geblieben ist. In jahrelanger Untätigkeit eines Versicherten, von dem hätte erwartet werden können, daß er sich auf ihm aufgezwungene Verhältnisse eingestellt und sich einer seinem beeinträchtigten Gesundheitszustand und seinen Fähigkeiten entsprechenden neuen Betätigung zugewandt hätte, kann allerdings der Wille zur Lösung vom früheren Beruf zum Ausdruck kommen. Das LSG hätte aufzeigen müssen, welche Tätigkeiten oder Umschulungsmöglichkeiten für den Kläger in Betracht gekommen wären, die ihm einen seinem erlernten Beruf entsprechenden oder nahekommenden sozialen Status erhalten hätten. Dies ist bislang nicht hinreichend geklärt; die Feststellungen des LSG sind nicht ausreichend, um zu der Schlußfolgerung gelangen zu können, der Kläger habe selbst durch sein Verhalten einen sozialen Abstieg vollzogen.
Hiernach ist einstweilen als "bisheriger Beruf" des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO der des gelernten Malers nicht auszuscheiden. Der Kläger hat diesen Beruf erlernt und 11 Jahre in ihm gearbeitet. Er ist mit 29 Jahren infolge einer schweren Kriegsverletzung aus dem Malerberuf herausgerissen worden und ist dann nur kurz auch als Schriftenmaler beschäftigt gewesen, ohne daß er damit in der Lage gewesen wäre, die Fach- und Spezialkenntnisse eines vollwertigen Schriftenmalers zu erwerben. Geht man aber von dem Malerberuf als dem "bisherigen Beruf" des Klägers aus - wie es auch das LSG in seiner Hilfsbegründung getan hat - und legt man weiter die nicht angegriffene Feststellung zugrunde, daß der Kläger diesen Beruf infolge der Beeinträchtigung seiner Steh- und Gehfähigkeit nicht mehr ausüben, vielmehr nur noch leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und leichte Arbeiten im Stehen mit Unterbrechungen verrichten kann, so dürfte das LSG den Kläger nicht ohne weiteres auf "jede ungelernte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes" verweisen. Im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO darf nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die dem Kläger als gelerntem Handwerker zugemutet werden können. Der Kreis der Tätigkeiten, auf welche ein Versicherter nach § 1246 Abs. 2 RVO verwiesen werden kann, beschränkt sich zwar nicht allein auf solche Tätigkeiten, die dem Berufszweig des Versicherten verwandt sind. Es muß sich aber um Tätigkeiten handeln, die sich nach ihrer sozialen Bewertung aus dem Kreise einfacher angelernter Tätigkeiten herausheben und denen eines Facharbeiters nahekommen (BSG 11, 123, 125; 19, 57). Unter Beachtung dieser Grundsätze wird ggfs. erneut zu prüfen sein, welche Verweisungsmöglichkeiten für den Kläger in Betracht kommen. Alsdann wird zu klären sein, ob er nach seinen Kräften und Fähigkeiten zur Verrichtung von Tätigkeiten dieser Art in der Lage ist und ob das allgemeine Arbeitsfeld über solche Arbeitsplätze, die dem Kläger den Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte ermöglichen, in ausreichender Zahl verfügt.
Der erkennende Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil noch weitere Ermittlungen erforderlich sind. Deshalb muß das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens ist im abschließenden Urteil mit zu entscheiden.
Fundstellen