Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrentenanspruch eines Pflegekindes
Orientierungssatz
Ein Versicherter hat zum Unterhalt eines Kindes iS des § 1267 iVm § 1262 Abs 2 Nr 7 RVO und § 2 Abs 1 S 1 Nr 6 BKGG nicht unerheblich beigetragen, wenn er mindestens 20 % des Unterhalts des Kindes getragen hat (vgl BSG 1970-12-15 RJ 357/69 = SozR Nr 41 zu § 1267 RVO). Dies kann dann nicht angenommen werden, wenn dem Versicherten für seine eigene 6köpfige Familie lediglich 700,-- DM monatlich zur Verfügung standen, er jedoch von der Kindesmutter als Gegenleistung für die Betreuung des Kindes 120,-- DM bis 170,-- DM monatlich erhielt.
Normenkette
RVO § 1267 Fassung: 1957-02-23, § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1957-02-23; BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1964-04-14
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 29.05.1969) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 06.11.1968) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. Mai 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob die Klägerin in Anwendung des § 1267 iVm § 1262 Abs. 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Waisenrente beanspruchen kann.
Die Vorinstanzen haben den Anspruch - in Übereinstimmung mit der Beklagten (Bescheid vom 15. Januar 1968) - abgelehnt (Urteil des Sozialgerichts - SG - Hamburg vom 6. November 1968 und des Landessozialgerichts - LSG - Hamburg vom 29. Mai 1969). Der Entscheidung des LSG liegen die folgenden - nicht angegriffenen - Tatsachenfeststellungen zugrunde: Die am 10. März 1965 unehelich geborene Klägerin wurde im Dezember 1965 von der Familie des Bruders ihrer Mutter - des Versicherten - aufgenommen und dort zusammen mit weiteren vier Kindern betreut. Als Gegenleistung zahlte ihre Mutter zunächst monatlich 140,- DM, später für eine kurze Zeit 120,- DM und zuletzt - vor dem Tode des Versicherten (am 9. Mai 1967) und auch in der Folgezeit - 170,- DM. Sie nahm die Klägerin in unregelmäßigen Abständen auch über das Wochenende zu sich und kaufte ihr gelegentlich die notwendigen Kleidungsstücke.
Das monatliche Bruttoeinkommen des Versicherten lag bei 880,- DM; seine Ehefrau war nicht berufstätig.
Nach der Auffassung des LSG ist der Rentenanspruch schon deshalb nicht begründet, weil der Versicherte keinen Unterhaltsbeitrag für die Klägerin geleistet habe (§ 1267 iVm § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO und § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG -). Deren Unterhalt sei vielmehr durch das von der Mutter der Klägerin gezahlte Pflegegeld in vollem Umfang bestritten worden. Bei dem geringen Einkommen, das der Versicherte erzielt habe, sei er nicht in der Lage gewesen, die Klägerin finanziell zu unterstützen. Der von seiner nicht berufstätigen Ehefrau erbrachten Haus- und Betreuungsarbeit komme in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision. Der Versicherte habe - so meint sie - nicht unerheblich zu den Kosten ihres Unterhalts beigetragen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanzen müßten die von der Ehefrau des Versicherten im Haushalt und im Zusammenhang mit der Personensorge erbrachten Leistungen berücksichtigt werden. Es mache keinen Unterschied, ob für die Betreuung und Erziehung eines Kindes von den Pflegeeltern finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt oder die notwendigen Leistungen unmittelbar und unentgeltlich erbracht würden. Bei angemessener Berücksichtigung des Wertes dieser Leistungen seien die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus der Versicherung ihres am 9. Mai 1967 verstorbenen Pflegevaters Waisenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision hat keinen Erfolg.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin kein Anspruch auf Waisenrente zusteht. Als Pflegekind des Versicherten könnte sie nach § 1267 iVm § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO Rente dann beanspruchen, wenn neben einer engen, familienähnlichen Beziehung zu dem Versicherten und der Aufnahme in dessen Haushalt der Versicherte zu den Kosten ihres Unterhalts nicht unerheblich beigetragen hätte (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 6 BKGG vom 14. April 1964 in der vor dem 1. September 1970 geltenden Fassung). Dem LSG ist darin zu folgen, daß es jedenfalls an der zuletzt genannten Voraussetzung fehlt. Der Versicherte selbst hat keine ins Gewicht fallende Unterhaltsleistung für die Klägerin erbracht. Dies folgt zweifelsfrei aus den nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts. Nur solche Leistungen - nicht dagegen Leistungen der Ehefrau - sind in Fällen der vorliegenden Art nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats von Bedeutung (vgl. hierzu insbesondere SozR Nrn 19 und 26 zu § 1262 RVO). Dieser Auffassung hat sich der 11. Senat des BSG mit ausführlicher Begründung angeschlossen (SozR Nr. 5 zu § 2 BKGG). Hiernach ergibt sich insbesondere aus der Verwendung des Begriffes "Berechtigter", daß es nur auf die Leistungen eines einzelnen, nicht dagegen auf die eines Ehepaares ankommen kann, wenn ein Ehegatte allein als Berechtigter in Betracht zu ziehen ist. Durch diese Auslegung wird dem Gedanken der Unterhaltsersatzfunktion Rechnung getragen. Die Waisenrente stellt einen Ausgleich für den Wegfall des Unterhalts dar, den der Berechtigte - hier also der Versicherte - vor seinem Tode dem Kind geleistet hat.
Der Revision ist allerdings einzuräumen, daß der 5. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1970 (SozR Nr. 41 zu § 1267 RVO) diese Gedankengänge nicht uneingeschränkt nachvollzogen hat. Er hält eine Berücksichtigung des Wertes der Haushalts- und Betreuungsarbeiten der Ehefrau des Versicherten für geboten. Auf diese Weise könne der vom Versicherten geleistete Unterhaltsbeitrag genau bestimmt werden. Der Versicherte sei nur deshalb in der Lage, Barleistungen für den Unterhalt der Familie zu erbringen, weil seine Ehefrau den Haushalt führe. Die gegenseitigen Unterhaltsleistungen der Eheleute seien so ineinander verwoben, daß sich der Anteil des einzelnen Ehegatten an der Deckung des Unterhaltsdefizits eines Familienangehörigen nur aus dem Verhältnis der Beiträge des Versicherten und seiner Ehefrau am Gesamteinkommen der Eheleute bestimmen lasse.
Es bedarf keiner Entscheidung darüber, ob dem zu folgen ist. Es ist in dem vorliegenden Fall bereits fraglich, ob nach der zwischen dem Versicherten und der Mutter der Klägerin offenbar getroffenen Absprache, die eine regelmäßige Unterhaltszahlung seitens der Mutter vorsah, von einem Unterhaltsdefizit der Klägerin gesprochen werden kann. Möglicherweise sollte nach der Vorstellung der Vertragspartner durch die Unterhaltszahlungen der gesamte Unterhaltsbedarf der Klägerin gedeckt werden. Unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse des Versicherten und der Unterhaltsbedürfnisse eines Kleinkindes konnten zu der damaligen Zeit Beträge, die sich zwischen 120,- und 170,- DM monatlich bewegten, nicht als unangemessen niedrig angesehen werden. Doch mag dies auf sich beruhen. Auch für den Fall, daß man den Erwägungen in der vorbezeichneten Entscheidung in vollem Umfang folgen will, ergibt sich kein Anhalt dafür, daß der Versicherte nicht unerheblich zu den Kosten des Unterhalts der Klägerin beigetragen haben könnte. Nicht unerheblich ist ein Unterhaltsbeitrag nur dann, wenn er mindestens 20 % des vollen Unterhalts ausmacht (vgl. BSG in SozR Nr. 41 zu § 1267 RVO). Einen solchen Prozentsatz konnten die dem Versicherten unter der vorbezeichneten Betrachtungsweise zuzurechnenden Unterhaltsleistungen nicht erreichen. Er erzielte nach den Feststellungen des LSG ein Bruttoeinkommen von monatlich etwa 880,- DM, es blieb also ein Nettoeinkommen von rund 700,- DM monatlich. Die Familie des Versicherten bestand vor seinem Tode aus sieben Personen, nämlich den beiden Ehegatten, zwei Kindern unter 6 Jahren, 2 Kindern unter 14 Jahren und einem Kind unter 18 Jahren. Wird die vom 5. Senat des BSG insoweit aufgestellte Punktwertung (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 27 zu § 1241 RVO) zugrunde gelegt und der Wert der Hausarbeit mit 500,- DM monatlich angesetzt (vgl. SozR Nr. 41 zu § 1267 RVO), so kam der monatliche Unterhaltsbedarf der Klägerin nicht einmal an die niedrigste monatliche Unterhaltszahlung ihrer Mutter - 120,- DM - heran. Dieses Ergebnis ändert sich nicht entscheidend, wenn der Wert der Hausarbeit dem Einkommen des Versicherten gleichgesetzt wird.
Nach der Neufassung des § 2 Abs. 1 Nr. 6 BKGG durch das Gesetz vom 16. Dezember 1970 (BGBl I, 1725) ist auf eine Unterhaltsleistung durch den Pflegevater nicht mehr abgestellt. Es genügt vielmehr, daß das Kind mit dem Berechtigten durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern der Berechtigte es in seinen Haushalt aufgenommen hat. Diese Änderung ist jedoch erst mit Wirkung vom 1. September 1970 - also vor Eintritt des hier bedeutsamen Versicherungsfalles - in Kraft getreten. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat zuletzt in seiner Entscheidung vom 27. Januar 1972 - 4 RJ 181/71 - angeschlossen hat, kann die Neufassung sich hier nicht auswirken.
Die Revision ist hiernach unbegründet, sie muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen