Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung der Schuld an einer in der DDR ausgesprochenen Ehescheidung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (Weiterführung von BSG 1976-01-20 5 RJ 133/75).

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20, § 59 Fassung: 1946-02-20, § 61 Fassung: 1946-02-20

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. November 1974 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

In dem Rechtsstreit ist darüber zu entscheiden, ob einer in der Bundesrepublik Deutschland lebenden geschiedenen Ehefrau Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch dann zu gewähren ist, wenn die Ehe in der DDR geschieden wurde und der frühere Ehemann dort gestorben ist.

Die Beklagte, Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben den Rentenanspruch verneint (Bescheid vom 23. August 1972, Urteil des SG vom 8. März 1974, Urteil des LSG vom 19. November 1974).

Das LSG hat die folgenden Feststellungen getroffen: Die im Jahre 1905 geborene Klägerin ist die frühere Ehefrau des im Jahre 1903 geborenen und am 17. Januar 1970 in D (DDR) verstorbenen Versicherten. Die Eheleute hatten nach dem Kriege ihren gemeinsamen Wohnsitz in Dessau, am 1. Juni 1960 verließen sie jedoch mit ihrer Tochter die DDR und gelangten "im Wege des Notaufnahmeverfahrens" in die Bundesrepublik Deutschland. Am 4. Juni 1960 wurde dem Versicherten - auf seinen Antrag hin - mit seiner Familie die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet erteilt. Die Klägerin blieb mit ihrer Tochter in der Bundesrepublik (F), der Versicherte kehrte jedoch kurze Zeit später wieder nach Dessau zurück. Auf seine Klage hin wurde die Ehe durch Urteil des Kreisgerichts Dessau im Juni 1961 geschieden. Das Scheidungsurteil ist auf § 8 der Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung vom 24. November 1955 (GBl DDR 849) gestützt, es enthält weder einen Schuldausspruch noch eine Unterhaltsregelung. Nach einer Bescheinigung des Arbeitgebers der Klägerin vom 16. Mai 1961 hatte sie damals ein monatliches Nettoeinkommen von ca. 373,- DM. Das Nettoeinkommen ihres geschiedenen Ehemannes gab sie selbst mit 480,- DM an.

Der Versicherte schloß im Jahre 1962 in der DDR eine neue Ehe; seine Witwe lebt in Dessau. Von April 1968 an bezog er eine Altersrente, die zur Zeit seines Todes 251,20 M betrug. Zur selben Zeit erhielt die Klägerin eine Rente in Höhe von 148,-DM. Sie wurde vom Sozialamt mit etwa 100,- DM monatlich unterstützt. Im Jahre 1961 beantragte die Klägerin in der Bundesrepublik zur Durchführung eines Schuldfeststellungsverfahrens das Armenrecht. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß nach den beiderseitigen Einkommensverhältnissen der Parteien ein Unterhaltsanspruch der Klägerin nicht bestehe. Außerdem sei ein solcher Unterhaltsanspruch - seine Existenz vorausgesetzt - in der DDR nicht durchsetzbar. Aus diesem Grunde bestehe kein rechtliches Interesse an der von der Klägerin begehrten Feststellung.

Das LSG hat seine Auffassung, daß der Klägerin ein Rentenanspruch nach § 1265 RVO nicht zustehe, wie folgt begründet: Es stehe fest, daß die Klägerin im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten keinen Unterhalt erhalten und daß sie auch nicht über einen zur Zwangsvollstreckung berechtigenden Unterhaltstitel verfügt habe. Damit könne der Anspruch auf Rente nicht auf § 1265 Satz 1 2. und 3. Alternative RVO gestützt werden. Aber auch § 1265 Satz 1 1. Alternative RVO komme als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht. Der Versicherte sei nicht verpflichtet gewesen, nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden ehegesetzlichen Vorschriften Unterhalt zu leisten. Er habe sich von der Scheidung an bis zu seinem Tode stets in der DDR aufgehalten, aus diesem Grunde habe für die Klägerin zu keiner Zeit die Möglichkeit bestanden, einen eventuellen Unterhaltsanspruch zu verwirklichen. Darauf komme es im Rahmen des § 1265 RVO entscheidend an. Im Ergebnis - so hat das LSG weiter ausgeführt - sei der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Juni 1967 (4 RJ 383/66) zu folgen. Es könne hiernach offen bleiben, ob an das Heimatrecht des geschiedenen Ehemannes anzuknüpfen sei oder ob es auf die Rechtsverhältnisse ankomme, die vor der Aufspaltung der beiden Rechtsordnungen (Bundesrepublik Deutschland - DDR) einheitlich für die Beteiligten gegolten hätten.

Ebenso könne dahinstehen, ob in diesem Zusammenhang der Auffassung des Bundesgerichtshofes (BGH) zu folgen sei, daß in den Fällen, in denen der unterhaltsberechtigte Ehegatte zur Zeit der Scheidung im Bundesgebiet ansässig war, das Eherecht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung finden müsse. - Bei dieser Betrachtungsweise scheide auch die Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO aus.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Klägerin das Rechtsmittel eingelegt.

Sie rügt, das LSG habe § 1265 RVO unrichtig ausgelegt. Auf die Durchsetzbarkeit des Unterhaltsanspruchs komme es nicht an, es sei allein entscheidend, daß ein Unterhaltsanspruch nach dem Ehegesetz bestanden habe. In dem vorliegenden Fall sei das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht anzuwenden. Der hier lebenden früheren Ehefrau eines Versicherten könne dadurch, daß dieser in der DDR gewohnt habe, kein Nachteil entstehen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Rentenzahlung zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für richtig. Nach der im angefochtenen Urteil zitierten Rechtsprechung des BSG stehe der Klägerin kein Unterhaltsanspruch nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu.

Die Revision hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen erlauben es nicht, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Der vom LSG vertretenen Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Sie knüpft an eine Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. Juni 1967 (4 RJ 383/66) an. Dort ist u. a. ausgeführt, daß in Fällen der vorliegenden Art die in der Bundesrepublik Deutschland lebende frühere Ehefrau des Versicherten einen Unterhaltsanspruch zwar erwerben konnte, daß gleichwohl aber das Vorliegen eines Unterhaltsanspruchs im Sinne des § 1265 RVO nicht zu bejahen sei. Erst mit einer Übersiedlung des Versicherten in das Bundesgebiet oder nach Westberlin hätte ein solcher Anspruch verwirklicht werden können. Darauf komme es entscheidend an. Das Tatbestandsmerkmal des § 1265 RVO, daß der Versicherte "zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hätte", sei demnach dann nicht erfüllt, wenn der Versicherte bis zu seinem Tode in der DDR gelebt habe. Die Entscheidung beruht in dem vorbezeichneten Fall jedoch nicht - zumindest nicht allein - auf dieser Erwägung. Dort ist ferner ausgeführt, daß die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten imstande gewesen sei, aus eigenen Einkünften ihren angemessenen Lebensbedarf zu bestreiten. Auch aus diesem Grunde ist die Frage, ob der Versicherte Unterhalt zu leisten hatte, verneint worden. Hinzu kommt, daß sich die spätere Rechtsprechung des BSG von den eingangs dargelegten Erwägungen entfernt hat. In der Folgezeit ist nicht auf die Durchsetzbarkeit des Unterhaltsanspruchs abgestellt worden, sondern vielmehr darauf, ob ein Unterhaltsanspruch zur Entstehung gelangen konnte. Dies hat der 5. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 29. Juli 1971 (SozR Nr. 59 zu § 1265 RVO) zum Ausdruck gebracht. Im Ergebnis ist ihm der erkennende Senat mit seiner Entscheidung vom 29. Februar 1972 (SozR Nr. 60 zu § 1265 RVO) gefolgt. Das BSG hat diese Rechtsprechung auch in der Folgezeit bekräftigt (vgl. die zur Veröffentlichung bestimmten Urteile vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 133/75 - und vom 16. März 1976 - 11 RA 50/75 -). Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, davon abzuweichen. Auf die - im Einzelfall möglicherweise fehlende - Durchsetzbarkeit des Unterhaltsanspruchs kann daher nicht abgestellt werden.

Im Rahmen der Frage, ob der Versicherte nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten hatte (§ 1265 RVO), kommt es zunächst darauf an, welches Recht - das der Bundesrepublik Deutschland oder das der DDR - in dem vorliegenden Fall Anwendung findet. Hierzu hat sich der erkennende Senat - wenn auch in einem nicht ganz gleich liegenden Fall - die Auffassung des Bundesgerichtshofs -BGH - zu eigen gemacht (vgl. SozR Nr. 60 zu § 1265 RVO mit weiteren Hinweisen). Dort ist u. a. ausgeführt, der Unterhaltsanspruch richte sich jedenfalls dann nach dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Recht, wenn der berechtigte Ehegatte zur Zeit des Erlasses des auf Scheidung seiner Ehe lautenden Urteils seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik hatte. Man habe sich von dem Grundsatz leiten lassen, daß die auf dem Gebiete der Bundesrepublik ansässige Partei alle Rechte genießen solle, die ihr aus dem in Frage stehenden familienrechtlichen Verhältnis nach der hier geltenden Rechtsordnung zustehen würden, soweit dem nicht höhere Belange der Allgemeinheit entgegenstünden. Diese Auffassung hat allerdings nicht allgemein Zustimmung gefunden. In seinen bereits zitierten Entscheidungen vom 20. Januar 1976 und vom 19. März 1976 neigt das BSG - in Übereinstimmung mit Teilen des Schrifttums (vgl. die vorbezeichneten Urteile mit weiteren Hinweisen) dazu, auf den letzten gemeinsamen Wohnsitz der Ehegatten vor der Scheidung abzustellen. In dem zu entscheidenden Fall führen beide Auffassungen zu demselben Ergebnis. Die Klägerin hatte nach den Feststellungen des LSG zur Zeit der Scheidung ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Dort wohnt sie auch heute noch. Aber auch der letzte gemeinsame Wohnsitz der früheren Ehegatten vor der Scheidung lag in der Bundesrepublik. Der Versicherte hat sich mit seiner Familie im Jahre 1960 in die Bundesrepublik Deutschland abgesetzt. Sein Wille, dort zu bleiben, ist unmißverständlich zum Ausdruck gebracht worden. Er hat selbst für seine ganze Familie einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis gestellt. Diesem Antrag ist durch Bescheid vom 4. Juni 1960 stattgegeben worden. In diesem Zusammenhang ist es unbeachtlich, daß der Versicherte später wieder in die DDR zurückgekehrt ist.

Nach alledem richtet sich ein eventueller Unterhaltsanspruch der Klägerin nach den Vorschriften des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Ehegesetzes. Dort ist in erster Linie darauf abgestellt, wer die Scheidung verschuldet hat (vgl. §§ 58, 59 EheG). Das in der DDR erlassene Scheidungsurteil enthält keinen Schuldausspruch. In Fällen dieser Art ist es jedoch möglich, ein Schuldfeststellungsverfahren in Anwendung der §§ 606 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) durchzuführen (vgl. das bereits zitierte Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 mit weiteren Hinweisen). Fehlt es - wie hier - an einem solchen Verfahren, so haben Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in dem Rechtsstreit über die Gewährung der Hinterbliebenenrente auch über die Vorfrage zu entscheiden, ob dem Versicherten ein Verschulden an der Scheidung trifft. Dieser bereits im Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 vertretenen Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Entgegen der Auffassung des LSG wird also möglicherweise zu klären sein, wer die Schuld an der in der DDR ausgesprochenen Scheidung trägt.

Die Anwendung des § 1265 Satz 1 RVO dürfte nach den vom LSG bisher getroffenen Tatsachenfeststellungen ausscheiden. Hiernach war das Einkommen des Versicherten so gering, daß er keine Unterhaltszahlung hätte erbringen können. Es ist jedoch denkbar, daß sich der Anspruch der Klägerin aus § 1265 Satz 2 RVO ergibt. Hierzu hat das LSG bisher keine Feststellungen getroffen. Der Rechtsstreit muß daher an das LSG zurückverwiesen werden.

Bei der neuen Entscheidung wird das LSG beachten müssen, daß die Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil der Versicherte eine Witwe hinterlassen hat. Das BSG hat wiederholt entschieden, daß die Voraussetzung des § 1265 Satz 2 RVO - "ist eine Witwenrente nicht zu gewähren" - auch erfüllt ist, wenn die Witwe in der DDR lebt (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 60 zu § 1265 RVO mit weiteren Hinweisen).

Falls ein Anspruch der Klägerin nach § 1265 Satz 2 RVO nicht etwa aus anderen Gründen ausgeschlossen sein sollte, wird - wie bereits dargetan - darüber zu befinden sein, welcher der Ehegatten die Scheidung verschuldet hat. Das Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 besagt hierzu, daß eine solche Entscheidung nur geboten sei, soweit sie sich aus einer Würdigung der sich unmittelbar aus den Akten ergebenden Tatsachen ergebe. Diese Formulierung könnte zu Mißverständnissen Anlaß geben. In dem dort entschiedenen Fall ergab sich das Verschulden des Versicherten tatsächlich bereits aus dem Scheidungsurteil. Ist dies - wie hier - nicht der Fall, so sieht der erkennende Senat keine Möglichkeit, die Beteiligten in ihrer Beweisführung einzuengen. Wenn die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit anstelle der Zivilgerichte über das Verschulden eines Ehegatten an der Scheidung zu befinden haben, so ist auch insoweit eine umfassende Erforschung des Sachverhalts geboten. Allerdings mag es im Hinblick darauf, daß sich der Versicherte gegenüber der Beweisführung der Klägerin nicht mehr zur Wehr setzen kann, im Einzelfall zulässig sein, bei der Beweiswürdigung strengere Maßstäbe anzulegen. Sollte eine Schuldfeststellung nicht möglich sein, so ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 20. Januar 1976) die entsprechende Anwendung des § 61 Abs. 2 EheG in Erwägung zu ziehen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

IPRspr. 1976, 48

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