Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungspflicht von frei praktizierenden Ärzten

 

Leitsatz (amtlich)

Ein frei praktizierender Arzt, der keine Angestellten beschäftigt, zählt nicht zum Kreis der in der Krankenpflege selbständig tätigen Personen iS AVG § 2 Abs 1 Nr 6 (Fortführung von BSG 1977-04-28 12/3 RK 56/75)

 

Leitsatz (redaktionell)

Kennzeichnend für die Tätigkeit in der Krankenpflege ist die Abhängigkeit vom Heilkundigen und dessen Weisungen. Der Begriff der Krankenpflege nach den oben genannten Vorschriften kann deshalb nicht in dem weiten Sinne verstanden werden, daß er jede Betreuung kranker und pflegebedürftiger Personen, also auch die ärztliche Tätigkeit umfaßt.

 

Normenkette

AVG § 2 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23, § 3 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; RVO § 165b Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1945-03-17, § 166 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1970-12-21, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger der Versicherungspflicht zur Angestelltenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) unterliegt.

Der Kläger betreibt seit 1952 als Arzt für Allgemeinmedizin eine eigene Praxis, in der er keine Angestellten beschäftigt. Mit Bescheid vom 11. März 1975 stellte die Beklagte fest, daß er versicherungspflichtig nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG und daneben zur freiwilligen Versicherung nicht berechtigt sei. Gleichzeitig forderte sie die rückständigen Pflichtbeiträge ab 1. Januar 1973. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1975 vertrat die Beklagte die Auffassung, selbständige Ärzte der Humanmedizin gehörten zu den in der Krankenpflege iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG tätigen Personen. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover durch Urteil vom 29. Juni 1976 den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt: Ärzte ließen sich zwar bei weitester Auslegung des Begriffs "Krankenpflege" den in der Krankenpflege tätigen Personen zuordnen, doch entspreche dies nicht dem üblichen Sprachgebrauch. Gemeinhin werde zwischen ärztlicher und krankenpflegerischer Tätigkeit unterschieden und unter Krankenpflege die Tätigkeit von Krankenschwestern, Krankenpflegern und Krankenpflegehelfern verstanden. Das zu § 166 Abs 1 Nr 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ergangene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Juni 1964 (BSGE 21, 171) befasse sich nicht mit der Frage, ob Ärzte den in der Krankenpflege tätigen Personen zuzurechnen seien. Auch aus § 182 RVO lasse sich hierzu nichts herleiten, weil die Begriffe Krankenpflege in diesen Vorschriften nicht übereinstimmten.

Die Beklagte hat die vom SG gem. § 161 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unter Übergehung der Berufungsinstanz im Urteil zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG. Es sei von dem Begriff der Krankenpflege im weiteren Sinne auszugehen, worunter nach BSGE 21, 174 jede Betreuung kranker und pflegebedürftiger Personen zu verstehen sei. In diesen Bereich gehörten nach der Natur der Sache das Feststellen und Behandeln körperlicher und seelischer Schäden des menschlichen Organismus, ärztliche Geburtshilfe sowie Überwachen und Schützen des Gesundheitszustandes von Menschen durch vorbeugende und behandelnde Maßnahmen auf Grund staatlicher Bestallung, dh also jede ärztliche Tätigkeit. Es sei nicht gerechtfertigt, den Begriff der "Krankenpflege" in § 2 Abs 1 Nr 6 AVG anders auszulegen als in § 3 Abs 1 Nr 6 AVG und §§ 166 Abs 1 Nr 5, 182 Abs 1 Nr 1 RVO.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Das SG hat zutreffend den als Arzt allein praktizierenden Kläger nicht zu den in der Krankenpflege tätigen Personen iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG gerechnet und deshalb die Versicherungspflicht nach dieser Vorschrift zu Recht verneint. Wie der erkennende Senat in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 28. April 1977 - 12/3 RK 56/75 - entschieden hat, gehört die Heilkunde nicht zur Krankenpflege iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG, so daß ein Heilpraktiker, der die Heilkunde ausübt, ohne Arzt zu sein, der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht unterliegt. Gilt dies schon für einen Heilpraktiker, so kann dies für einen Arzt als dem typischen Heilkundigen schlechthin nicht zweifelhaft sein. Als Heilkundiger bestimmt der Arzt die Art und den Umfang der medizinisch erforderlichen Behandlung des kranken Menschen. Bei der Krankenbehandlung können auf Anordnung des Heilkundigen auch andere Personen tätig werden, zB Krankenschwestern, Masseure, Krankengymnasten. Derartige Personen werden dann in der Krankenpflege iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG tätig, wenn sie selbständig sind und in ihrem Betrieb keine Angestellten beschäftigen. Die Abhängigkeit vom Heilkundigen und dessen Weisungen kennzeichnet die in dieser Vorschrift gemeinten, in der Krankenpflege selbständig tätigen Personen (Urteil des erkennenden Senats vom 28. April 1977 - 12/3 RK 56/75 -). Der Begriff der Krankenpflege nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG kann nicht in dem weiten Sinne verstanden werden, daß er jede Betreuung kranker und pflegebedürftiger Personen, also auch die ärztliche Tätigkeit umfaßt. Als Ergebnis der allmählichen Ausdehnung der gesetzlichen Rentenversicherung von der ursprünglichen Begrenzung auf abhängig Beschäftigte auf besondere, des Schutzes der Sozialversicherung bedürftige Gruppen von Selbständigen hat § 2 Abs 1 Nr 6 AVG den Charakter einer Ausnahmevorschrift, die es nicht zuläßt, durch eine weite Auslegung auch selbständig tätige Ärzte in den Kreis der gesetzlich Pflichtversicherten einzubeziehen.

Mit ihren Hinweisen auf die Vorschriften der §§ 166 Abs 1 Nr 5 und 182 Abs 1 Nr 1 RVO vermag die Beklagte ihre entgegenstehende Auffassung nicht zu begründen. § 182 Abs 1 Nr 1 RVO kann schon deshalb nicht herangezogen werden, weil in dieser Vorschrift die Krankenpflege als Leistungsbegriff in der Krankenversicherung beschrieben wird, der nicht als Merkmal für die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung übertragbar ist. Würden nämlich die Begriffe Krankenpflege jeweils identisch sein, dann müßten, weil zur Krankenpflege im Sinne des § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ua auch die Versorgung mit Arznei, Verband-Heilmitteln und Brillen gehört (Buchst b), zu den in der Krankenpflege tätigen Personen im Sinne des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG auch selbständige Apotheker und Optiker gerechnet werden. Dies kann aber ernstlich nicht in Betracht gezogen werden. Die Vorschrift des § 166 Abs 1 Nr 5 RVO vermag der Senat ebensowenig wie § 2 Abs 1 Nr 6 AVG dahingehend auszulegen, daß mit ihr auch Ärzte erfaßt wären. § 3 Abs 1 Nr 6 AVG schließlich besagt über die streitige Frage deshalb nichts, weil dort nicht die Versicherungspflicht selbständig Tätiger geregelt ist, sondern der Begriff des abhängig beschäftigten Angestellten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653348

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