Entscheidungsstichwort (Thema)

Ruhen der Rente bei einem tschechoslowakischen Staatsangehörigen

 

Leitsatz (redaktionell)

Der einzelne deutsche Versicherungsträger darf nicht unter Hinweis auf das Fehlen einer faktischen Gegenseitigkeit zu einem anderen Signatarstaat des IAOÜbk 19 ohne weiteres die Rentenzahlung ins Ausland verweigern.

 

Normenkette

RVO § 625 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30; IAOÜbk 19 Fassung: 1925-06-05

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.07.1976; Aktenzeichen L 6 U 296/75)

SG Hannover (Entscheidung vom 21.08.1975; Aktenzeichen S 19 U 75/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Juli 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger ist tschechoslowakischer Staatsangehöriger. Er erlitt am 24. Juni 1955 in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen ihm die Beklagte Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zahlte. Im Jahre 1973 wurde er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Er hält sich seit Juni 1973 in Jugoslawien auf.

Die Beklagte stellte durch Bescheid vom 26. Oktober 1973 fest, die Rente ruhe vom 1. Juli 1973 an, solange der Berechtigte weder Deutscher im Sinne des Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger sei und gegen ihn ein Aufenthaltsverbot für den Geltungsbereich des GG verhängt sei.

Der Kläger hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 21. August 1975 mit der Begründung abgewiesen hat, die Rente des Klägers ruhe nach § 625 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Da sich die CSSR ihrerseits nicht an das von ihr ratifizierte Übereinkommen Nr 19 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) halte, könne es auch von der Beklagten nicht angewandt werden.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Juli 1976 das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1973 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Verletztenrente in Höhe von 50 vH der Vollrente ab 1. Juli 1973 nach Jugoslawien auszuzahlen. Es hat ua ausgeführt: Der Anspruch des Klägers auf Rente ruhe nicht. Das IAO-Übereinkommen Nr 19 sei anzuwenden. Die CSSR habe die Verpflichtungen aus dem ratifizierten Übereinkommen übernommen und für verbindlich erklärt. Die Frage, ob ein deutscher Versicherungsträger verpflichtet sei, Verletztenrente an einen deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in der CSSR zu zahlen, brauche nicht entschieden zu werden, weil sie sich in dem hier zu beurteilenden Fall nicht stelle.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Da es nicht auf die Rechtsstellung eines im Ausland sich aufhaltenden Deutschen ankomme, sondern auf seine "Behandlung", habe auch ein Ausländer nur Anspruch auf gleiche "Behandlung". Das sei entscheidend in den Fällen, in denen auch Deutsche entgegen ihrer Rechtsstellung "behandelt" würden, dh, in denen im Ausland lebenden Deutschen Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gezahlt würden, obwohl sie ihnen aufgrund ihrer der Rechtslage entsprechenden Rechtsstellung gezahlt werden müßten. Danach komme es für die Frage, ob das IAO-Übereinkommen Nr 19 anzuwenden und das aus ihm folgende Gleichbehandlungsprinzip verletzt sei, entscheidend darauf an, wie die tatsächlichen Verhältnisse gestaltet seien, dh, wie deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der CSSR "behandelt" würden, ob ihnen von deutschen Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung Renten in die CSSR gezahlt würden. Das LSG habe dies nicht geprüft. Es könne jedoch davon ausgegangen werden, daß eine solche Leistungsgewährung tatsächlich unterbleibe. Das ergebe sich bereits im Wege des Rückschlusses aus einem Erlaß des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 13. Mai 1976, in dem es heiße, der BMA halte es nicht für vertretbar, weiterhin die Zahlung von Unfallrenten in Ostblockstaaten unter Hinweis auf den Gesichtspunkt einer nicht vorhandenen faktischen Gegenseitigkeit ruhen zu lassen. Hieraus folge, daß bislang Zahlungen von Unfallrenten in Ostblockstaaten, mithin auch in die CSSR, unterblieben seien. Das sei auch weiterhin der Fall. Aus dem Schreiben des Amtes für Rentensicherstellung in Prag ergebe sich zudem, daß die CSSR das IAO-Übereinkommen Nr 19 jedenfalls gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht erfülle.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Der Kläger hat wegen der Folgen seines im Jahre 1955 in der Bundesrepublik Deutschland erlittenen Arbeitsunfalles Anspruch auf Verletztenrente. Nach § 625 Abs 1 RVO ruhen Leistungen, solange der Berechtigte weder Deutscher im Sinne des Art 116 Abs 1 GG noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art 116 Abs 2 GG ist und sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches des GG aufhält oder gegen ihn ein Aufenthaltsverbot für den Geltungsbereich des GG verhängt ist. Diese durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) in die RVO eingefügte Vorschrift gilt auch für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juli 1963 eingetreten sind (Art 4 § 2 Abs 1 UVNG). Der Kläger ist nicht Deutscher im Sinne des Art 116 Abs 1 GG und war auch früher nicht deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art 116 Abs 2 GG. Er befindet sich zur Zeit entweder freiwillig oder aufgrund des gegen ihn ausgesprochenen Aufenthaltsverbotes außerhalb des Geltungsbereiches des GG.

Das LSG ist jedoch mit Recht davon ausgegangen, daß für den Kläger als tschechoslowakischen Staatsangehörigen die Anwendung des § 625 Abs 1 RVO durch das Übereinkommen Nr 19 der IAO über die Gleichbehandlung einheimischer und ausländischer Arbeitnehmer bei Entschädigung von Betriebsunfällen vom 5. Juni 1925 ausgeschlossen ist (ebenso BVA Schr. v. 27.6.1976 - BVBl 1977, 149; Grünig SV 1977, 42).

Das IAO-Übereinkommen Nr 19 war für die tschechoslowakische Republik am 8. Februar 1927 und für das Deutsche Reich am 18. September 1928 in Kraft getreten (vgl Bekanntmachung vom 27. Dezember 1928 - RGBl II 1929, 13). Nach dem späteren Austritt des Deutschen Reiches aus der IAO im Jahre 1933 und seinem Zusammenbruch mit dem Ende des 2. Weltkrieges hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in einer Erklärung vom 12. Juni 1951 anerkannt, daß die Verpflichtungen aus dem vom Deutschen Reich ratifizierten Übereinkommen der IAO für sie verbindlich sind, soweit diese Verpflichtungen im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind oder entstehen (vgl BMA Erlaß vom 8. August 1951, BABl 1951, 389). Diese Erklärung gilt auch für das IAO-Übereinkommen Nr 19. Es geht der Ruhensvorschrift des § 625 Abs 1 RVO vor (vgl Art 25 GG).

Nach Art 1 Abs 1 des IAO-Übereinkommens Nr 19 verpflichtet sich jedes Mitglied der IAO, das dieses Übereinkommen ratifiziert, den Staatsangehörigen jedes anderen das Übereinkommen ratifizierenden Mitglieds, die auf seinem Gebiet einen Betriebsunfall erlitten haben, oder ihren Hinterbliebenen die gleiche Behandlung bei der Entschädigung aus Anlaß von Betriebsunfällen zu gewähren wie seinen eigenen Staatsangehörigen. Das in dieser Vorschrift zum Ausdruck gebrachte Prinzip der Gleichbehandlung bedeutet, daß insoweit ausländische Staatsangehörige ebenso wie Deutsche zu behandeln sind. Die Verletztenrente von Deutschen im Sinne des Art 116 GG ruht jedoch nicht gemäß § 625 Abs 1 RVO beim Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereiches des GG. Die Beklagte meint, es könne davon ausgegangen werden, daß auch deutschen Staatsangehörigen, die sich freiwillig gewöhnlich in der CSSR aufhalten, keine Verletztenrente aus der deutschen Unfallversicherung gezahlt werde. Der Senat hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1975 (BSGE 41, 108, 110), worauf die Beklagte in diesem Zusammenhang hinweist, entschieden, mit dem Prinzip der Gleichbehandlung im Sinne des Art 1 Abs 2 des IAO-Übereinkommens Nr 19 stehe es im Einklang, sofern und solange deutsche Staatsangehörige in gewissen Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des GG keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten, solche Leistungen auch den nach dem IAO-Übereinkommen Nr 19 berechtigten Personen eines anderen Mitgliedstaates in diesen Gebieten nicht zu gewähren (vgl auch Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 625 Anm 43; Gissler, BG 1958, 209, 211; Pesch, SGb 1968, 59, 60). Es ist jedoch nicht ersichtlich, aufgrund welcher Rechtsgrundlage die Verletztenrente eines deutschen Staatsangehörigen, der im Jahre 1955 bei einer Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten hat und im Jahre 1973 zunächst in die CSSR verzog und seit Juni 1973 in Jugoslawien lebt, wegen des Auslandsaufenthaltes außerhalb des Geltungsbereiches des GG ruhen soll. Der den Kläger betreffende Sachverhalt unterscheidet sich, was die Beklagte vor allem bei ihrem Hinweis auf die unterbliebenen Rentenzahlungen in die früheren deutschen Ostgebiete nicht ausreichend berücksichtigt, insofern wesentlich von der auch dem Urteil des Senats vom 17. Dezember 1975 (aaO) zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Lage der deutschen Staatsangehörigen, die bereits vor Kriegsende in früheren deutschen Ostgebieten wohnten und sich weiterhin dort freiwillig gewöhnlich aufhalten und auf die der von der Rechtsprechung entwickelte "Wohnsitzgrundsatz" (BSGE 3, 286; 11, 271; 17, 144; BSG SozR Nr 7 zu § 1317 RVO; BSG Urteil vom 30. September 1975 - 4 RJ 87/74) ggf in eingeschränktem Umfang anzuwenden wäre (s. BSG SozEntsch BSG IV Nr 4 zu § 615 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 592 d; s. aber auch BSGE 33, 280, 283 - Großer Senat). Der Kläger hat seinen Arbeitsunfall dagegen nach Kriegsende während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland erlitten.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob die CSSR, wie die Beklagte aus den Schreiben des Amtes für Rentensicherstellung in Prag vom 18. und 25. Februar 1976 schließen will, das IAO-Übereinkommen Nr 19 gegenüber deutschen Staatsangehörigen generell nicht erfüllt, oder ob Leistungen der tschechoslowakischen Sozialversicherung an deutsche Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland deshalb nicht gezahlt werden, weil auch tschechoslowakische Staatsangehörige keine entsprechenden Leistungen erhalten, solange sie sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Im letzteren Fall würde nach der Rechtsprechung des Senats (s. Urteil vom 17. Dezember 1975 aaO) die CSSR nicht gegen das IAO-Übereinkommen Nr 19 verstoßen. In seinem Schreiben an das SG Dortmund vom 24. Juli 1975 hat das Föderalistische Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten in Prag ausgeführt, daß die CSSR das IAO-Übereinkommen Nr 19 auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland anwende. Darin sieht der BMA in seinem Schreiben vom 13. Mai 1976 an das LSG eine klarstellende Bestätigung der völkerrechtlichen Verpflichtung der CSSR. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daß die CSSR das IAO-Übereinkommen Nr 19 gegenüber der Bundesrepublik Deutschland generell faktisch nicht erfüllt, darf nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (BSGE 13, 206, 210; 30, 226, 228), der sich auch der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 22. Oktober 1975 (8 RU 236/74) angeschlossen hat, der einzelne deutsche Versicherungsträger das Fehlen einer faktischen Gegenseitigkeit im Verhältnis zu einem anderen Signatarstaat des Übereinkommens von sich aus nicht ohne weiteres zum Anlaß nehmen, die Rentenzahlung ins Ausland zu verweigern (Brackmann aaO S. 592 e). Ein solches unter den Begriff der Repressalie fallendes Verhalten wäre völkerrechtlich keinesfalls einem einzelnen Versicherungsträger gestattet (vgl Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, III. Bd., 1964, S. 89; Dahm, Völkerrecht, Bd. II, 1961, S. 427; Menzel, Völkerrecht, 1962, S. 308; Partsch, in: Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., 1962, S. 104; Verdross, Völkerrecht, 1964, 5. Aufl., S. 426; Wengler, Völkerrecht, 1964, S. 518); vielmehr bedürfte es hierzu eines - völkerrechtlich ggf von gewissen Voraussetzungen abhängigen (vgl Berber aaO; Dahm aaO S. 429; Menzel aaO S. 303; Partsch aaO; Verdross aaO; Wengler aaO S. 516; s. auch das BMA RdSchr vom 14. August 1952, abgedruckt bei Plöger, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, I, S. 106/1 und Schreiben vom 17. Juli 1974 an das SG, nach dem diplomatische Schritte vorgesehen sind) - Staatshoheitsaktes, der eine Verweigerung der Leistung nach dem Übereinkommen Nr 19 zum Inhalt haben müßte (vgl auch Gissler aaO S. 211 ff; Pesch aaO S. 62; BMA RdSchr vom 14. August 1954 aaO; a. A. LSG NRW in Breithaupt 1966, 123; 1967, 477 und 1970, 483, 484; Lauterbach aaO Anm 52 zu § 625 RVO; Miesbach/Baumer aaO Anm 3 zu § 625 RVO). Unabhängig von diesen rechtlich entscheidenden völkerrechtlichen Erwägungen zeigen auch die unterschiedlichen Äußerungen tschechoslowakischer Stellen und die möglichen unterschiedlichen Auslegungen dieser Schreiben, daß es nicht der auf Einzelfälle beschränkten Entscheidung des jeweiligen Versicherungsträgers überlassen bleiben kann, darüber zu befinden, wann ein zweiseitiges oder multilaterales Übereinkommen von einem Vertragspartner verletzt ist und wann und in welcher Form die einzelne zuständige Verwaltungsstelle Repressalien ergreift.

Der Ausschluß des Ruhens der Leistung gemäß § 625 Abs 1 RVO durch das IAO-Übereinkommen Nr 19 ist nicht davon abhängig, daß sich der Kläger in der CSSR gewöhnlich aufhält (vgl Art 1 Abs 2 Satz 1 dieses Übereinkommens; BMA RdSchr vom 8. August 1951 aaO) oder zwischenzeitlich noch nicht die von ihm erstrebte jugoslawische Staatsangehörigkeit erhalten hat, da auch Jugoslawien das IAO-Übereinkommen Nr 19 ratifiziert hat (vgl BSGE 30, 226, 229).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653609

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