Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte. vergessene Zahnprothese
Leitsatz (redaktionell)
Für die Unterbrechung eines Weges zur Arbeitsstätte ist entscheidend, daß der Beweggrund zur Unterbrechung wesentlich mit der versicherten Tätigkeit im Unternehmen zusammenhängt.
Orientierungssatz
Hat der Versicherte den Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, um die zu Hause vergessene Zahnprothese zu holen, auf die er bei seiner beruflichen Tätigkeit als Verkäufer in einem Radiogeschäft angewiesen ist, so steht dieses Vorhaben mit seiner versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang.
Das mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Bestreben, sich auch im privaten Bereich ohne Hemmungen sprachlich verständigen zu können, ist als nachrangig zu bewerten und deshalb als rechtlich unwesentlich auszuscheiden.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 19.06.1975; Aktenzeichen L 10 Ua 524/74) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 15.02.1974; Aktenzeichen S 3 U 1588/73) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger war Verkäufer in einem Radiogeschäft in Stuttgart. Am 12. Februar 1973 befand er sich bereits auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte, als er in der Straßenbahn plötzlich bemerkte, daß er seine Zahnprothese (Vollprothese) zu Hause vergessen hatte. Er stieg deshalb an der nächsten Haltestelle aus und fuhr wieder in Richtung auf seine Wohnung zurück. Nach dem Aussteigen wurde er beim Überqueren des Gleiskörpers von einem Straßenbahnzug erfaßt und erheblich verletzt.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 25. Mai 1973 eine Entschädigung ab, da der Rückweg dem privaten Bereich des Klägers zuzurechnen sei.
Die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 15. Februar 1974 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil auf die Berufung des Klägers aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Unfalls die gesetzlichen Leistungen zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Auf den vorliegenden Fall seien die Gedankengänge des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Januar 1959 (SozR Nr. 11 zu § 543 RVO aF) zu übertragen. Danach sei der Entschluß, die zum ordnungsgemäßen beruflichen Auftreten, insbesondere zum Sprechen dringend benötigte Zahnprothese zu holen, ein der Betriebsarbeit entspringender Beweggrund gewesen, der eine rechtlich wesentliche Verknüpfung des Rückweges zur Wohnung mit der Betriebstätigkeit des Klägers bewirkt habe. Der von der Wohnung bis zur Unfallstelle zurückgelegte Weg hin und zurück sei als einheitlicher, auf die Arbeitsaufnahme gerichteter Vorgang zu werten, auf dem nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Versicherungsschutz bestanden habe. Es sei unerheblich, daß der Rückweg zur Wohnung durch die Vergeßlichkeit des Klägers ausgelöst worden sei. Dem SG sei auch darin nicht zu folgen, daß es die private Angelegenheit des Klägers sei, sich durch ordnungsgemäße Kleidung und Ausstattung in einen arbeitsbereiten Zustand zu versetzen und er deshalb für die Folgen von Versäumnissen auf diesem Gebiet versicherungsrechtlich selbst einzustehen habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 550 RVO. Entgegen der Auffassung des LSG, so meint die Beklagte, sei der vom BSG (aaO) entschiedene Fall mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Hier habe der Kläger die Zahnprothese zwar nötig gehabt, um seinen Dienst ausüben zu können. Sie sei aber überhaupt erforderlich dafür gewesen, daß sich der Kläger ungehemmt unter Menschen habe bewegen können und sei - wie das Tragen von Kleidung oder das Tragen einer Brille für einen Sehgeschädigten - persönliche Voraussetzung für sein Auftreten in der Öffentlichkeit gewesen. Der Kläger wäre auch bei Ausführung einer privaten Besorgung umgekehrt, weil er sich ohne die Zahnprothese nicht dem Kontakt mit anderen Menschen ausgesetzt hätte. Die personenbezogenen Verhältnisse hätten hier derart im Vordergrund gestanden, daß demgegenüber die Notwendigkeit, die Prothese auch im Dienst zu tragen, unwesentlich gewesen sei. Auf dem Rückweg nach Hause, um die vergessene Prothese zu holen, habe der Kläger daher nicht unter Versicherungsschutz gestanden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 15. Februar 1974 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt nach § 550 Satz 1 RVO in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) unter Versicherungsschutz gestanden hat. Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 aufgeführten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Kläger hat am Unfalltag den Weg zur Arbeitsstätte dadurch unterbrochen, daß er an der ersten Haltestelle der Straßenbahn ausstieg und wieder in Richtung auf seine Wohnung zurückkehrte. Bei der Rückfahrt handelte es sich nicht um einen Umweg, sondern, weil die Zielrichtung zur Arbeitsstätte nicht beibehalten wurde, um das Einschieben eines zusätzlichen Weges in die eigentliche Fahrstrecke. Das Fortbestehen des Versicherungsschutzes während der hierdurch bewirkten Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit hängt auf einem aus privaten Gründen eingeschobenen Weg davon ab, daß die Besorgung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art ihrer Erledigung keine rechtlich ins Gewicht fallende und somit keine erhebliche Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit bedeutet, sondern nur als geringfügig anzusehen ist. Dient dagegen der eingeschobene Weg - wie hier - einer Verrichtung, die mit der versicherten Tätigkeit ursächlich zusammenhängt, so besteht Versicherungsschutz auch auf dem Weg während einer nicht nur geringfügigen Unterbrechung (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, Bd II S 486 s I und s II mit Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Das Vorhaben des Klägers, die zu Hause vergessene Zahnprothese zu holen, stand mit seiner versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang. Der Kläger hat den Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, weil er auf die Zahnprothese, wie auch die Beklagte nicht bezweifelt, bei seiner beruflichen Tätigkeit als Verkäufer in einem Radiogeschäft angewiesen war. Ähnlich wie in dem vom erkennenden Senat am 25. Januar 1977 (2 RU 99/75) entschiedenen Fall, in dem ein Versicherter die zu Hause vergessene Brille holen wollte, ohne die er seine versicherte Tätigkeit nicht verrichten konnte, entsprang auch hier der Beweggrund für den eingeschobenen Weg der betrieblichen Tätigkeit des Klägers. Dieser Beweggrund bildete rechtlich eine so wesentliche ursächliche Verknüpfung der Rückfahrt zur Wohnung mit der Tätigkeit im Unternehmen, daß daneben etwa das mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Bestreben, sich auch im privaten Bereich ohne Hemmungen sprachlich verständigen zu können, als nachrangig zu bewerten und deshalb als rechtlich unwesentlich auszuscheiden ist.
Der Senat pflichtet nicht der Ansicht der Beklagten bei, daß es an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges zum Holen der vergessenen Zahnprothese und der versicherten Tätigkeit hier fehle, weil der Kläger nicht nur bei der Betriebsarbeit, sondern auch im privaten Bereich zum Tragen der Prothese gezwungen gewesen sei. Für den ursächlichen Zusammenhang des Rückweges nach Hause mit der Tätigkeit im Unternehmen reicht es vielmehr aus, daß der Kläger ohne die Zahnprothese nicht seiner beruflichen Tätigkeit als Verkäufer in einem Radiogeschäft - insbesondere bei Verkaufsgesprächen - hätte nachgehen können.
Da der Kläger im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stand, hat das LSG die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger Entschädigung zu leisten. Die Revision der Beklagten war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen