Leitsatz (amtlich)
Der Unfallversicherungsschutz eines Beschäftigten auf dem Weg zur Werksambulanz, um sich dort wegen eines nicht durch einen Arbeitsunfall bedingten Leidens behandeln zu lassen, endet nicht mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem sich die Ambulanz befindet (Fortentwicklung von BSG 1965-10-27 2 RU 108/63 = SozR Nr 1 zu § 548 RVO und BSG 1966-10-28 2 RU 2/62 = SozR Nr 75 zu § 542 RVO aF).
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 27.10.1976; Aktenzeichen S 18(17) U 44/75) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27. Oktober 1976 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß außergerichtliche Kosten auch im Verfahren vor dem Sozialgericht nicht zu erstatten sind.
Tatbestand
Am 13. Dezember 1972 suchte die sowohl bei der Klägerin als auch bei der Beklagten versicherte kaufmännische Angestellte ... (Versicherte) während ihrer normalen Arbeitszeit die im Kellergeschoß der ärztlichen Abteilung des Unternehmens, in dem sie beschäftigt ist, gelegene physikalische Abteilung auf, um sich dort behandeln zu lassen. Diese Behandlung sollte nicht wegen eines zu entschädigenden Arbeitsunfalles erfolgen. Auf der Treppe zwischen dem Erdgeschoß und dem Kellergeschoß rutschte sie von einer Stufe ab und verletzte sich am rechten Fußgelenk. Die Klägerin zahlte der Versicherten Krankengeld vom 25. Januar bis zum 2. Februar 1973 in Höhe von insgesamt 340,83 DM. Sie verlangte von der Beklagten Ersatz dieser Aufwendungen. Die Beklagte lehnte Ersatzansprüche ab, da die Versicherte keinen Arbeitsunfall erlitten habe.
Die Klägerin hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 340,83 DM zu zahlen. Es hat ausgeführt: Die Versicherte habe beim Aufsuchen der Werksambulanz unter Versicherungsschutz gestanden; denn Sinn der Werksambulanz sei es, eine medizinische Betreuung der Betriebsangehörigen während der Arbeit sicherzustellen, um so größere Produktionsausfälle oder das Bereitstellen von Ersatzkräften zu vermeiden. Der Versicherungsschutz auf dem Weg zur Werksambulanz ende nicht mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem sich die Ambulanz befinde. Die Gründe, die bei Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit für die Außentür des Gebäudes als Grenze des häuslichen Bereiches sprächen, lägen hier nicht vor.
Das SG hat die Berufung zugelassen.
Auf Antrag der Beklagten und mit Einwilligung der Klägerin hat der Vorsitzende der Kammer des SG ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter durch Beschluß vom 9. Dezember 1976 die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Auch auf Wegen während einer Arbeitsschicht und im Betrieb bestehe Versicherungsschutz nur, wenn der Weg im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe. Bei den häufigsten Fällen, nämlich auf den Wegen nach und von der Essenseinnahme auf dem Betriebsgelände - z. B. zur Kantine -, bestehe kein Versicherungsschutz, weil sie eigenwirtschaftlichen Zwecken dienten. Der Weg der Versicherten zur Werksambulanz habe jedoch gleichfalls rein eigenwirtschaftlichen Interessen gedient. Daß die Werksambulanz die medizinische Betreuung der Betriebsangehörigen während der Arbeitszeit sicherstellen und so größere Produktionsausfälle vermeiden solle, beruhe auf Vermutungen und nicht auf tatsächlichen Feststellungen des SG. Wesentlich für die Einrichtung der Werksambulanz sei nicht ein betriebliches Interesse des Unternehmens gewesen, sondern die sozialethisch bestimmte allgemeine Fürsorge gegenüber Werksangehörigen. Genauso wie die Einrichtung einer Werkskantine für sich allein ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht den Versicherungsschutz auf Wegen dorthin und zurück sowie beim Aufenthalt in der Kantine begründe, gelte dies für Werksambulanzen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27. Oktober 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einwilligung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht ordnungsgemäß unter Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter, sondern allein vom Kammervorsitzenden zugelassene Revision ist dennoch zulässig (s. BSGE 41, 102, 42, 1; BSG SozR 1500 § 161 Nr. 7 und 12). Der Beschluß über die Zulassung der Revision liegt noch innerhalb der vom 3. Senat des BSG als längste Übergangszeit angesehenen zwei Jahre seit Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde (s. BSG SozR aaO Nr. 12).
Die Revision ist nicht begründet.
Die Beklagte hat der Klägerin, wie das SG zutreffend entschieden hat, das nach dem 18. Tage nach dem Arbeitsunfall vom 25. Januar bis zum 2. Februar 1973 gezahlte Krankengeld zu ersetzen; denn die Verletzungen des rechten Fußgelenkes der Versicherten waren Folgen eines Arbeitsunfalles.
Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sind allerdings grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen, und es ist nicht schon deshalb bei ihrer Durchführung Versicherungsschutz anzuerkennen, weil sie zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienen; das gilt nach der ebenfalls ständigen Rechtsprechung des Senats selbst dann, wenn dabei betriebliche Sozialeinrichtungen in Anspruch genommen werden (s. BSGE 4, 219, 223; 9, 222, 225; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 2; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 484 m und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 33, 58 - jeweils mit weiteren Nachweisen). Jedoch kann schon ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit der Arbeitszeit eine andere Beurteilung erfordern (BSG SozR Nr. 1 zu § 548 RVO). Ein solcher Ausnahmefall, bei dem das Betriebsinteresse stärkeres Gewicht erhält, ist bei dem hier in Betracht kommenden Aufsuchen der Werksambulanz gegeben. Der Senat hat insoweit auch in seinem Urteil vom 27. Oktober 1965 (BSG aaO) nicht verkannt, daß die in einer Werksambulanz verabreichten Hilfeleistungen wesentlich auch rein persönlichen Belangen des Beschäftigten zugute kommen. Von nicht geringerer Bedeutung ist aber, wie der Senat in dieser Entscheidung weiter ausgeführt hat, der durch eine solche Betriebseinrichtung erzielte Erfolg, daß die Beschäftigten, die infolge Unpäßlichkeit oder Schmerzen ihre Arbeit nicht länger vollwertig verrichten können oder sie gar vorzeitig abbrechen müßten, mit Hilfe einer Werksambulanz instandgesetzt werden, ihre Gesundheitsstörungen zu überwinden und sogleich weiterzuarbeiten, ohne erst - durch Aufsuchen außerhalb des Betriebsgeländes befindlicher Stellen - mehr oder minder viel Zeit von der Arbeitsschicht zu versäumen. Durch das Vorhandensein einer Werksambulanz können mithin unvorhersehbare Arbeitsausfälle, denen das Unternehmen sonstwie organisatorisch kaum abzuhelfen in der Lage wäre, auf ein Mindestmaß reduziert werden. Diese ein wesentliches betriebliches Interesse an dem Aufsuchen der Werksambulanz begründenden Vorteile für das Unternehmen sind nicht nur, wovon die Beklagte ausgeht, in der dem Urteil vom 27. Oktober 1965 (aaO) zugrunde liegenden Fallgestaltung gegeben, in der erst während der Arbeitsschicht z. B. Kopfschmerzen oder andere Beschwerden auftreten, die durch Hilfe der Werksambulanz zumindest soweit gemildert werden können, daß die Arbeit wieder fortgesetzt werden kann. In diesen Ausnahmefällen hat schon das Reichsversicherungsamt (RVA) auf Wegen nach und von dem außerhalb des Betriebes aufgesuchten Arzt Versicherungsschutz angenommen (s. RVA EuM 42, 385, 386 = Breithaupt 1938, 369; RVA-Mitglieder-Komm., Bd. III, 2. Aufl., § 545 a Anm. 5 b II; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 090, S. 3). Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 27. Oktober 1965 ausgeführt, daß diese Rechtsprechung zum Versicherungsschutz beim Aufsuchen eines Arztes zwecks Behandlung von arbeitshindernden Gesundheitsstörungen zum Vergleich mit dem Aufsuchen der Werksambulanz nur bedingt heranzuziehen ist, da hierbei gerade die Besonderheiten einer Werksambulanz - Zeitersparnis, Verbleiben der Beschäftigten im Betriebsgelände - nicht zur Geltung kommen. Es erscheint deshalb nicht vertretbar, den Unfallversicherungsschutz für das Aufsuchen einer Werksambulanz auf engumgrenzte Sondertatbestände zu beschränken, die ein ganz überwiegendes Betriebsinteresse erkennen lassen (BSG aaO; BSG SozR Nr. 75 zu § 542 RVO aF; Brackmann aaO S. 484 o; Podzun aaO Kennzahl 090, S. 4; a. A. LSG Niedersachsen, Breithaupt 1962, 690). Vielmehr müssen die oben aufgezeigten allgemeinen Vorteile, die dem Unternehmen aus dem Besuch seiner Ambulanz erwachsen, als ausreichend für die Herstellung eines wesentlichen betrieblichen Zusammenhanges erachtet werden. Dieser betriebliche Zusammenhang besteht selbst dann, wenn das Unternehmen - wie die Revision vorträgt - die Werksambulanz allein aus sozialethisch bestimmter allgemeiner Betriebsfürsorge eingerichtet hat; denn entscheidend ist insoweit, daß die aufgezeigten Vorteile einer Werksambulanz für den Betrieb unabhängig von dem Motiv der Einrichtung einer Werksambulanz tatsächlich gegeben sind.
Diese Erwägungen, bei denen auch von Bedeutung ist, daß durch das Aufsuchen der Werksambulanz mit einem größeren Verlust an Arbeitszeit verbundene Wege erspart werden, beziehen sich ausschließlich auf den Versicherungsschutz für das Zurücklegen von Wegen während der Arbeitszeit (BSG SozR Nr. 75 zu § 542 RVO aF; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 2; Brackmann aaO S. 484 n). Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG hat die Versicherte den Unfall noch auf dem Wege zur und nicht bei oder durch die Behandlung erlitten. Zwar hat sich der Unfall nach dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes ereignet, in dem sich die physikalische Abteilung der Werksambulanz befindet. Das SG ist jedoch zutreffend davon ausgegangen, daß die Erwägungen, die im Rahmen des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) den Versicherungsschutz mit dem Durchschreiten der Außentür beginnen und enden lassen, hier nicht entsprechend anzuwenden sind. Die Werksambulanz befand sich auf dem Betriebsgelände des Unternehmens. Werden Wege innerhalb des Betriebsgeländes im ursächlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zurückgelegt, so besteht grundsätzlich Versicherungsschutz gemäß § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO (Brackmann aaO S. 486 c) und nicht nach § 550 RVO, da diese Vorschrift sich auf den Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit (s. hierzu Brackmann aaO) bezieht. Der Versicherungsschutz nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO bei dem mit der versicherten Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang stehenden Aufsuchen der Werksambulanz endet demnach nicht schon mit dem Durchschreiten der Außentür.
Der von der Beklagten hervorgehobene Vergleich mit dem Versicherungsschutz auf Wegen nach und von der Einnahme der Mahlzeit während der Arbeitspausen führt zu keinem anderen Ergebnis; denn die rechtliche Würdigung des Versicherungsschutzes auf diesen Wegen unterscheidet sich wesentlich von dem beim Aufsuchen einer Werksambulanz. Der Senat hat auch in seinem Urteil vom 26. April 1973 (2 RU 213/71 - Die Leistungen 1974, 126) ausgeführt, daß das Zurücklegen des Weges während der Mittagspause zum Essen an einem außerhalb der Betriebsstätte gelegenen Ort sowie der Aufenthalt in den zur Einnahme der Mahlzeit aufgesuchten Räumen nicht zur versicherten Tätigkeit im Sinne des § 548 RVO gehört. Der in diesem Fall in Betracht kommende Versicherungsschutz nach § 550 Abs. 1 RVO beginnt und endet jedoch mit dem Durchschreiten der Außentür. Der Senat hat diese Grenzziehung in den Fällen für gerechtfertigt angesehen, in denen die ursächlichen Beziehungen zur versicherten Tätigkeit gegenüber Beziehungen zur privaten Sphäre als rechtlich unwesentlich zurücktreten (BSG aaO). Dies ist aber, wie bereits aufgezeigt, bei einem Weg nach und von der Behandlung in der Werksambulanz gerade nicht der Fall.
Das SG hat somit zu Recht angenommen, daß der Klägerin die geltend gemachten Aufwendungen aus Anlaß eines Arbeitsunfalles ihres Mitgliedes in dem bei der Beklagten versicherten Unternehmen entstanden sind. Die Beklagte hat der Klägerin gemäß § 1504 RVO diese Aufwendungen zu ersetzen.
Die Kostenentscheidung des SG, der Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzuerlegen, ist jedoch gemäß § 193 Abs. 4 SGG zu ändern.
Fundstellen