Entscheidungsstichwort (Thema)

Unechte Rückwirkung. Verfassungsmäßigkeit der Kürzung laufender Leistungen

 

Orientierungssatz

Die Kürzung des Übergangsgeldes der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 568 Abs 2 und 8 RVO durch das HBegleitG 1984 vom 1.1.1984 an auch für bereits eingetretene Leistungsfälle ist nicht verfassungswidrig.

 

Normenkette

RVO § 568 Abs 2 Fassung: 1983-12-22; RVO § 568 Abs 8 Fassung: 1983-12-22; HBegleitG 1984 Art 1 Nr 19 Fassung: 1983-12-22; GG Art 6 Abs 1; GG Art 14 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 22.01.1986; Aktenzeichen 24 U 76/84)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1940 geborene Kläger wurde nach einem Arbeitsunfall im September 1979 auf Kosten der Beklagten umgeschult. Er besuchte von September 1982 bis Januar 1983 einen Rehabilitations-Vorbereitungslehrgang. Ab 1. Februar 1983 nahm er an einer Ausbildung zum Nachrichtengerätemechaniker teil, die er im Januar 1985 abschloß. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Durch Bescheid vom 23. Februar 1983 setzte die Beklagte das Übergangsgeld mit 90 vH des Nettolohnes des Klägers unter Anrechnung der Verletztenrente fest. Unter dem 19. Dezember 1983 teilte sie dem Kläger mit, daß aufgrund des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 (HBegleitG) das Übergangsgeld auf 75 vH zu kürzen sei. Durch Bescheid vom 10. Januar 1984 senkte sie das Übergangsgeld nur um 5 vH auf 85 vH des Nettolohnes.

Der Kläger hat Klage erhoben und geltend gemacht, die Kürzung laufender Leistungen verletze Art 14 des Grundgesetzes (GG).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Januar 1986), da die bei einer sogenannten unechten Rückwirkung vorzunehmende Interessenabwägung auch unter Beachtung des Sozialstaatsprinzips ergebe, daß der Kläger durch die Leistungsminderung nicht in eine so wesentlich ungünstigere Lage gerate, die er aus eigener Kraft nicht mehr bewältigen könne.

Mit der auf fristgerechten Antrag des Klägers und mit Einwilligung der Beklagten durch Beschluß des SG vom 23. Juli 1986 zugelassenen Revision macht der Kläger weiterhin geltend, die Kürzung des laufenden Übergangsgeldes sei verfassungswidrig. Es sei im Hinblick auf Art 14 GG ein bedeutsamer Unterschied, ob lediglich in eine Anwartschaft auf eine bestimmte Versicherungsleistung der sozialen Sicherheit vermindernd eingegriffen werde, oder ob eine bereits bewilligte Leistung gekürzt werde. Bei der Anwartschaft handele es sich um eine Rechtsposition vor dem Eintritt des Versicherungsfalles. Demgegenüber handele es sich bei der laufenden Zahlung aufgrund eines bindend gewordenen Verwaltungsaktes um die Konkretisierung des durch die Anwartschaft begründeten Rechts. Der Leistungsbezieher habe somit gegenüber dem Besitzer einer Anwartschaft eine viel stärkere Rechtsposition. Alle vorherigen Gesetze, soweit sie Leistungsverschlechterungen vorsahen, hätten künftige Leistungsfälle betroffen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hätte sich folglich nur mit dem Eigentumsschutz von Versicherungsanwartschaften zu befassen gehabt. Daraus erkläre sich die vom BVerfG herausgearbeitete Theorie von der Kernbestandsgarantie. Auf die Zulässigkeit der Kürzung laufender Geldleistungen lasse sich diese Theorie jedoch nicht anwenden. Daraus folge, daß nur in ganz besonderen Notsituationen die Gesetzgebung kürzend in laufende Geldleistungen der Sozialversicherung eingreifen dürfe. Für die gesetzliche Unfallversicherung habe jedoch eine solche Notsituation nicht bestanden. Der Kläger hätte aus verständlichen Gründen die einmal begonnene und schon überwiegend durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme nicht einfach abbrechen und damit den Leistungsbezug beenden können. Folglich hätte er darauf vertrauen dürfen, daß während der Dauer der Umschulung keine Kürzung des Übergangsgeldes eintreten werde.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1983 in der Fassung des Bescheides vom 10. Januar 1984 aufzuheben, hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Die Beklagte beantragt, die Revision und den Antrag auf Vorlage der Sache an das Bundesverfassungsgericht zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Das Übergangsgeld des Klägers war für die Zeit seit dem 1. Januar 1984 nach § 568 Abs 2 und 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Art 1 Nr 19 HBegleitG vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) um 5 vH zu kürzen. Der Bescheid vom 19. Dezember 1983 idF des Bescheides vom 10. Januar 1984 entspricht dem geänderten Gesetz. Das wird auch von der Revision nicht in Zweifel gezogen. Sie macht vielmehr allein geltend, daß die Gesetzesänderung verfassungswidrig sei. Das ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der Senat anschließt, nicht der Fall.

Durch das HBegleitG 1984 (aaO) wurden außer dem Übergangsgeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung eine Reihe von Geldleistungen ua in der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gekürzt, und zwar jeweils auch dann, wenn im Zeitpunkt des Inkrafttretens des HBegleitG 1984 am 1. Januar 1984 bereits ein Anspruch auf die jeweilige Leistung bestand. So wurden insbesondere das bei berufsfördernden Maßnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlende Übergangsgeld nach § 1241b Abs 1 RVO, § 18b Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 40b Abs 1 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG- (s Art 1 Nr 28, Art 2 Nr 5 und Art 3 Nr 7 HBegleitG 1984) und das Teilnehmern an Maßnahmen der beruflichen Fortbildung zu zahlende Unterhaltsgeld nach § 44 AFG und das Übergangsgeld nach § 59 AFG (s Art 17 Nr 3 und 8 HBegleitG 1984) sowie das Arbeitslosengeld herabgesetzt (s § 111 AFG iVm § 242b Abs 1 AFG). Diese Leistungskürzungen gelten ebenfalls auch für Ansprüche, die vor dem 1. Januar 1984 entstanden sind, jedoch hier beschränkt auf eine Minderung um fünf Prozentpunkte (s Art 2 § 5a Abs 4 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -ArVNG-, Art 2 § 6a Abs 4 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG-, Art 2 § 3c Abs 4 des Knappschaftsrentenversicherung-Neuregelungsgesetzes -KnVNG-; § 242b Abs 1 AFG). Vor allem gegen diese sogenannte unechte - aber hier umfangmäßig beschränkte (siehe oben) - Rückwirkung der Leistungskürzungen, wie sie § 568 Abs 8 RVO für den zu entscheidenden Fall festlegt, richten sich die verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers.

Der 11b Senat des BSG hat hierzu bereits entschieden, daß die Kürzung des Unterhaltsgeldes und des Übergangsgeldes iS des AFG durch das HBegleitG 1984 auch für Ansprüche, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes entstanden sind, nicht verfassungswidrig ist (SozR 4100 § 242b Nr 1; Urteil vom 21. August 1986 - 11b RAr 14/86 -). Der 7. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 18. Februar 1987 (7 RAr 34/85) die Kürzung des ebenfalls dem Eigentumsschutz des Art 14 GG unterliegenden Anspruchs auf Arbeitslosengeld (BVerfGE 72, 9, 19) auch insoweit nicht als verfassungswidrig angesehen, als das neue Recht schon für Ansprüche gilt, die vor dem 1. Januar 1984 entstanden sind. Nach dem Urteil des 3. Senats des BSG vom 10. März 1987 (3 RK 3/86) ist die Herabsetzung des Höchstbetrages des Mutterschaftsgeldes durch das HBegleitG 1984 auch für alle bereits eingetretenen Leistungsfälle ab 1. Januar 1984 ebenfalls nicht verfassungswidrig. In allen diesen Fällen wurde durch das HBegleitG 1984 nicht nur in Anwartschaften sondern - was die Revision als entscheidend ansieht - in bereits eingetretene Leistungsfälle eingegriffen.

Aus den im wesentlichen gleichen Gründen, die der 11., 7. und 3. Senat angeführt haben und die zum Teil die gleichfalls vom erkennenden Senat geteilten Bedenken gegen diese Regelungen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes erkennen lassen, ist auch die Kürzung insbesondere des Übergangsgeldes nach § 568 RVO durch das HBegleitG 1984 vom 1. Januar 1984 an auch für bereits eingetretene Leistungsfälle doch nicht verfassungswidrig. Der Senat verweist nach eigener eingehender Prüfung auf die Begründungen in den angeführten Urteilen (s auch BVerfGE 60, 16, 43). Dabei geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, daß Eingriffe in Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung den gleichen verfassungsrechtlichen Schranken unterliegen wie Eingriffe in Leistungen der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Der Senat übersieht auch nicht, daß die Urteile des 11. und 7. Senats Kürzungen betreffen, die sich auf Leistungen für ledige Berechtigte beschränkten. Dem Gesetzgeber ist es jedoch verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich verwehrt, auch die Leistungen verheirateter Versicherter mit Kindern entsprechend zu kürzen, wie auch die Entscheidung des 3. Senats vom 10. März 1987 (aaO) zeigt. Hinsichtlich des in Art 6 GG begründeten zusätzlichen Schutzes der Familie käme eine Verfassungswidrigkeit allerdings ua dann in Betracht, wenn die für Versicherte mit Familienangehörigen getroffene Regelung dem Schutzbedürfnis der Familie unter keinem sachlichen Gesichtspunkt gerecht würde. Diese Voraussetzung ist jedoch im vorliegenden Fall nicht gegeben, da den Versicherten mit Familienangehörigen weiterhin ein entsprechend höheres Übergangsgeld als Ledigen verbleibt und die Existenz der Familie nicht gefährdet ist. Der 1. Senat des BVerfG - 2. Kammer - hat in dem Beschluß vom 30. Oktober 1986 (SozR 2200 § 1262 Nr 37) den Wegfall des Kinderzuschusses der gesetzlichen Rentenversicherung für verfassungsgemäß erklärt. Zwar betrifft dieser Wegfall nicht Versicherte, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des HBegleitG 1984 Anspruch auf Kinderzuschuß hatten, aber eine - für die Prüfung des vorliegenden Streitfalls hier unter dem Gesichtspunkt des Art 6 GG zu erwähnende - gewisse unechte Rückwirkung - und diese für einen wesentlich längeren Zeitraum und einen erheblich höheren Betrag als er im Rahmen des § 568 RVO in Betracht kommt - hat auch das HBegleitG 1984 hinsichtlich des Wegfalls des Kinderzuschusses enthalten, da es Versicherten mit Kindern nicht in allen Fällen einen Vertrauensschutz gewährt (s ua BSG SozR 2200 § 1262 Nr 31). Auch vom Umfang der Leistungskürzung aus beurteilt liegt die Herabsetzung des laufenden Übergangsgeldes für Versicherte mit Familienangehörigen, wie bereits dargelegt, noch im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen, zumal da es sich im Vergleich zu Renten und Kinderzuschüssen auch in der Regel um Leistungen für nur relativ kurze Zeiträume handelt.

Die Kürzung des laufenden Übergangsgeldes ab 1. Januar 1984 nach § 568 Abs 2 und 8 RVO ist auch nicht abweichend von den in den angeführten Urteilen des BSG dargelegten Gründen deshalb - wie die Revision meint - verfassungswidrig, weil die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung auch im Jahre 1984 keine mit den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung, Rentenversicherung sowie der Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung vergleichbaren Finanzierungsschwierigkeiten hatten. Im Rahmen der hier maßgebenden verfassungsrechtlichen Abwägung des Vertrauensschutzes und der öffentlichen Interessen an Leistungskürzungen muß der Gesetzgeber sich nicht auf jeweils einzelne Sozialleistungsbereiche beschränken, in denen die Finanznot unbedingt zu Leistungskürzungen zwingt. Um zB die finanzielle Belastung durch Beiträge zur Sozialversicherung insgesamt im tragbaren Rahmen zu halten und die Leistungen in einzelnen Versicherungszweigen nicht noch stärker kürzen zu müssen, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, Sozialversicherungszweige in die Kürzungen mit einzubeziehen, in denen keine zwingende Notwendigkeit besteht, wenn durch diese Kürzungen die Beitragsbelastung in diesem Bereich gesenkt und auch damit in anderen Bereichen tragbar gehalten wird. Ob es im Interesse des Vertrauens in die Sozialversicherung und das Handeln des Gesetzgebers gerade bei relativ kurzen Geldleistungen besser oder zumindest vertretbar gewesen wäre, bereits laufende Leistungen von den Kürzungen auszunehmen und ob die finanziellen Engpässe in den anderen Bereichen der Sozialversicherung außerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung auch ohne Einbeziehung der Leistungskürzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung noch ausgleichbar gewesen wären, fällt in den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, der - wie dargelegt - im verfassungsrechtlichen Rahmen nach der Rechtsprechung des BSG nicht überschritten wurde. Dies gilt auch für die Entscheidung, ob es rechtssystematisch gerechtfertigt oder sogar geboten gewesen wäre, Entschädigungsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung überhaupt nicht entsprechend oder wenigstens geringer zu kürzen. Daß die Unternehmer durch die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen entlastet werden, zwingt - entgegen der Auffassung der Revision - ebenfalls verfassungsrechtlich zu keiner anderen Entscheidung. Aus der Kürzung einzelner Leistungen, vor allem solcher von regelmäßig nur relativ kurzer Dauer, darf schon deshalb nicht auf eine verfassungswidrige Entlastung der Unfallversicherung geschlossen werden, weil diese in wesentlichen Bereichen weiterhin über das hinausgehen, was zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen entsprechen würde.

Da der Senat im Anschluß an die aufgezeigte Rechtsprechung des BSG davon ausgeht, daß § 568 Abs 2 und 8 RVO nicht verfassungswidrig ist, kommt eine Vorlage an das BVerfG nicht in Betracht und die Revision ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666196

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