Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
Bei der Erforschung des Sachverhalts bestimmt das Gericht allein im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die es für die Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet. Sein Ermessen wird allerdings durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Dementsprechend kann es ohne Antrag Beweise erheben oder auch von der Erhebung weiterer Beweise, die ein Beteiligter beantragt hat, absehen. Es kommt darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen als ausreichend ansehen darf oder ob es sich zu weiteren Ermittlungen veranlasst sehen muss. Es hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall eine weitere Beweiserhebung erforderlich ist (vgl BSG vom 1.3.1956 - 8 RV 41/54 = BSGE 2, 236).
Normenkette
SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 13.10.1961; Aktenzeichen L 4b Kr 1907/58) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Oktober 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog auf Grund des württembergischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) durch Bescheid vom 21. März 1949 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. wegen Narbe am rechten Oberschenkel, Ekzem am linken Unterschenkel, Krampfanfällen, Kopfschmerzen, Hirnleistungsschwäche und totalen Zahnverlustes. Der Rentengewährung lagen das versorgungsärztliche Gutachten des Vertragsarztes vom 7. Januar 1947 und die Gutachten der Zentralkliniken in G vom 17., 18. und 24. Januar 1949 sowie vom 8. Februar 1949 zugrunde. Die Rente wurde nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ohne ärztliche Untersuchung unter Beibehaltung der Bezeichnung der Schädigungsfolgen und der Rentenhöhe umanerkannt . Da sich später herausstellte, daß der Kläger bei der Rentengewährung falsche Angaben gemacht hatte, erließ das Versorgungsamt (VersorgA), gestützt auf das Gutachten der Nervenabteilung der L-Klinik H vom 17. Juli 1953 und die versorgungsärztliche Stellungnahme des Regierungsmedizinalrats Dr. G vom 25. Oktober 1955 den Berichtigungsbescheid vom 7. Februar 1956, hob den ursprünglichen Bescheid über die Anerkennung und den Umanerkennungsbescheid insoweit auf, als in ihnen die Schädigungsfolgen bezeichnet und die Höhe der MdE festgestellt waren; zu Unrecht seien bis dahin Krampfanfälle, Kopfschmerzen, Hirnleistungsschwäche und totaler Zahnverlust anerkannt gewesen. Als Schädigungsfolgen - MdE unter 25 v. H. - wurden anerkannt "Narbe an der Stirn, Narbe am rechten Oberschenkel, Ekzem am linken Unterschenkel". Die zu Unrecht gezahlten Rentenbeträge wurden zurückgefordert. Der Widerspruch und die Klage blieben erfolglos.
Der Kläger hat Berufung eingelegt und sodann beim VersorgA die Wiedergewährung der Rente beantragt, weil sich das anerkannte Ekzem verschlimmert habe. Nach Untersuchung durch den Vertragsarzt Dr. J am 3. Juni 1958 lehnte das VersorgA die Gewährung von Rente durch den Bescheid vom 15. Juli 1958 ab, weil in den anerkannten Schädigungsfolgen keine Verschlimmerung eingetreten sei und die vom Kläger vorgebrachten Hautschäden nicht auf schädigende Einflüsse im Sinne des § 1 BVG bezogen werden könnten, sondern Teilerscheinungen einer konstitutionell bedingten Krampfaderbildung mit Hauternährungsstörungen seien.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 13. Oktober 1961 das Urteil des Sozialgerichts (SG) sowie den Bescheid vom 7. Februar 1956 dahin abgeändert, daß dem Kläger ab 1. Februar 1947 Rente nach einer MdE um 30 v. H. zustehe. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. In den Gründen hat es ausgeführt, der Berichtigungsbescheid sei, soweit er die Krampfanfälle, die Hirnleistungsschwäche und den Zahnverlust betreffe, zutreffend. Die MdE betrage jedoch für die anerkannt gebliebenen Schädigungsfolgen in Gestalt des Ekzems 30 v. H. Die versorgungsärztliche Untersuchung im Juni 1958 habe keinen Befund ergeben, der gegenüber den früheren Befunden und der Einschätzung der MdE mit 30 v. H. eine Besserung ergebe. Wenn der Gutachter im Jahre 1958 das Krampfaderleiden nicht mehr als Schädigungsfolge angesehen habe, so handele es sich nur um eine andere medizinische Beurteilung eines gleichgebliebenen Zustandes, die eine Herabsetzung der MdE nicht rechtfertige.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Oktober 1960 (muß heißen 1961) aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Oktober 1957 im vollen Umfange zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil aufzuheben und die Sache an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine unzureichende Sachaufklärung und eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung, weil das Berufungsgericht hätte aufklären müssen, inwieweit die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch den anerkannten Teil des varicösen Symptomkomplexes eingeschränkt werde. Dafür habe das Gutachten aus dem Jahre 1949 zusammen mit dem aus dem Jahre 1958 nicht ausgereicht.
Der Kläger ist in dem Revisionsverfahren nicht vertreten.
Der Beklagte hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist zwar vom LSG nicht zugelassen worden (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Es ist aber statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt worden ist und vorliegt (BSG 1, 150).
Der Berichtigungsbescheid ist in der Hauptsache, nämlich hinsichtlich der früher anerkannt gewesenen Krampfanfälle, nicht mehr im Streit, weil er insoweit durch das Urteil des LSG bestätigt worden ist und der Kläger hiergegen ein Rechtsmittel nicht eingelegt hat. Streitig ist nur noch die Höhe der MdE durch das nach dem Berichtigungsbescheid anerkannt gebliebene Ekzem am linken Unterschenkel. Insoweit hat der Beklagte u. a. die Rüge einer unzureichenden Sachaufklärung zu Recht erhoben.
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Hierbei ist es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Demnach bestimmt es allein im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die es für die Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet. Sein Ermessen wird allerdings durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Dementsprechend kann es ohne Antrag Beweise erheben oder auch von der Erhebung weiterer Beweise, die ein Beteiligter beantragt hat, absehen. Es kommt darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen als ausreichend ansehen darf oder ob es sich zu weiteren Ermittlungen veranlaßt sehen muß. Es hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall eine weitere Beweiserhebung erforderlich ist (BSG 2, 236 ff, 238).
Zur Beurteilung des Ekzems am linken Unterschenkel des Klägers standen dem Berufungsgericht die kurzen Äußerungen des Facharztes für Hautkrankheiten Dr. L vom 17. Januar 1949 und des Vertragsarztes vom 7. Januar 1947 sowie das Gutachten des Dr. J vom 3. Juni 1958 zur Verfügung.
Der Vertragsarzt hat am 7. Januar 1947 am Unterschenkel des Klägers (gemeint ist offenbar der linke) ein ausgedehntes empfindliches Ekzem beschrieben und dieses - mit dem Zusatz "alte KDB" - als Schädigungsfolge bezeichnet; die Höhe der Gesamt-MdE hat er mit 80 v. H. eingeschätzt, ohne anzugeben, inwieweit jedes einzelne der drei von ihm angenommenen Schädigungsleiden die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Der Facharzt Dr. L erwähnt in seiner Stellungnahme ein Ekzem nicht ausdrücklich, sondern beschreibt einen varicösen Symptomkomplex am linken Unterschenkel und schätzt die MdE von seiten des Beines auf 30 v. H. ein. Er hat noch ausgeführt, daß sich als unterhaltende Schädigung die Varicen auswirken. Der Sachverständige Dr. J schließlich hat in seinem Gutachten vom 3. Juni 1958 das chronische Ekzem des Klägers am linken Bein als ein Symptom, als Teilbefund eines varicösen Symptomkomplexes, angesehen; es handele sich um ein Stauungsekzem, dessen Hartnäckigkeit durch die Fortdauer der Ursache, nämlich durch das Krampfaderleiden, erklärt werde. Das Krampfaderleiden mit allen seinen Folgen sei aber nicht Schädigungsfolge.
Auch in dem Gutachten der Chirurgischen Station der Zentralkliniken in Göppingen vom 8. Februar 1949 ist sowohl von einer ausgedehnten Varicenbildung als auch von einem Ekzem am linken Bein die Rede, während der Gutachter Dr. G in seinem Gutachten vom 18. Januar 1949 einen Befund an den Beinen des Klägers gar nicht beschrieben hat. Trotzdem hat er unter den Krankheitsbezeichnungen das "Ekzem am linken Unterschenkel" aufgenommen, vielleicht im Hinblick auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 7. Januar 1947. Hautärztlich hat Dr. G die MdE - ebenso wie Dr. L - mit 30 v. H. geschätzt, ohne aber die von Dr. L in erster Linie und von der Chirurgischen Abteilung der Zentralkliniken in G ebenfalls beschriebenen Krampfadern gesondert zu behandeln.
Alle diese ärztlichen Unterlagen erlauben somit keinen eindeutigen Schluß darüber, ob und inwieweit das Ekzem allein oder zusammen mit dem - nicht als Schädigungsfolge anerkannten - varicösen Komplex die Erwerbsfähigkeit des Klägers mindert.
Das bedeutet, daß für das LSG der medizinische Sachverhalt im Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht ausreichend geklärt war. Es hätte erkennen müssen, daß die ihm vorliegenden ärztlichen Äußerungen im Befunde weder übereinstimmten noch sich gegenseitig ergänzten. Insbesondere hätte es hinsichtlich der MdE des Klägers den varicösen Komplex nicht einfach mit dem Ekzem gleichstellen dürfen, sondern es hätte - durch ein weiteres ärztliches Gutachten - klären müssen, ob und inwieweit die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch das als Schädigungsfolge anerkannte Ekzem - ohne Berücksichtigung des varicösen Symptomkomplexes - überhaupt gemindert ist. Daran ändert nichts, daß das Gericht bei Festsetzung der MdE nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich nicht an die Schätzungen der Gutachter gebunden ist, weil es sich hierbei um tatsächliche Feststellungen handelt, für die die ärztlichen Gutachten nicht schlechthin verbindlich sind, sondern lediglich einen Anhalt bieten. Denn Voraussetzung für eine Schätzung der MdE nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung ist in jedem Falle, daß ausreichend gesicherte ärztliche Befunde vorliegen. Das aber war, wie schon ausgeführt, vorliegend nicht der Fall.
Da das LSG nach allem die Vorschrift des § 103 SGG verletzt hat, brauchte der Senat für die Statthaftigkeit der Revision des Beklagten nicht mehr zu prüfen, ob auch die weiter erhobene Rüge einer mangelhaften Beweiswürdigung durchgreift. Für die Statthaftigkeit genügt es, wenn eine der erhobenen Rügen Erfolg hat (BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Die somit statthafte Revision des Beklagten ist auch begründet. Denn es besteht die Möglichkeit, daß das Berufungsgericht anders entschieden hätte, wenn es die Verfahrensvorschrift des § 103 SGG nicht fehlerhaft angewandt hätte.
Mangels ausreichender Ermittlungen, die der erkennende Senat selbst nicht vornehmen kann, war deshalb das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen