Leitsatz (amtlich)
Eine erwerbsfähige Witwe unter 40 Jahren mit mindestens einem Kind iS des BVG § 41 Abs 1 Buchst c aF hat nach BVG § 40 aF nur dann Anspruch auf die ungekürzte Grundrente, wenn sie für dieses Kind tatsächlich sorgt.
Normenkette
BVG § 45 Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 1957-07-01, § 40 Fassung: 1955-01-19, § 41 Abs. 1 Buchst. c Fassung: 1955-01-19
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 10. Dezember 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin, S N, gehörte als Sonderführer einem Wehrmachtsverband an und ist am 19. Mai 1944 in dem Reservelazarett II in L an Fleckfieber verstorben. Aus der Ehe der Klägerin mit ihm ist der am 15. Dezember 1941 geborene Sohn D hervorgegangen; er erhält seit dem 1. Oktober 1950 Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Im Jahre 1946 mußte er auf Kosten der öffentlichen Fürsorge in einem Kinderheim untergebracht werden, weil die Klägerin sich um das Kind nicht kümmerte; außerdem wurde im Jahre 1948 das Jugendamt in F als Pfleger für das Kind bestellt. Seit dem 1. September 1955 trägt die Klägerin zum Unterhalt ihres Kindes mit einem Betrage von 50,- DM monatlich bei, den sie an die Sozialverwaltung der Stadt F zahlt. Bis dahin hatte sie weder Unterhalt gezahlt noch sich sonst um das Kind gekümmert.
Im Jahre 1955 beantragte die Klägerin (geboren am 4. April 1919) Versorgung nach dem BVG. Durch Bescheid vom 7. März 1957 bewilligte das Versorgungsamt W ihr vom 1. September 1955 an die volle Grundrente nach § 40 Satz 1 BVG, vom 1. Januar bis 31. August 1955 aber nur die gekürzte Grundrente nach § 40 Satz 2 BVG i. d. F. des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 19. Januar 1955 (BGBl I, 25) - BVG a. F. -, weil sie in dieser Zeit Unterhalt für ihr Kind nicht geleistet habe. Den Widerspruch der Klägerin wies das Landesversorgungsamt Hessen durch Bescheid vom 14. Juni 1957 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Wiesbaden hat durch Urteil vom 30. April 1958 die Klage abgewiesen, weil die Klägerin in der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1955 für ihr Kind nicht gesorgt habe und darum auch Anspruch auf die ungekürzte Grundrente nicht erheben könne. Durch Urteil vom 10. Dezember 1958 hat sich das Hessische Landessozialgericht (LSG) dieser Auffassung angeschlossen und die zugelassene Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Worte in § 40 Satz 2 BVG a. F. "für mindestens ein Kind zu sorgen hat" ließen verschiedene Auslegungen zu; es könne damit die bloße Verpflichtung, für das Kind zu sorgen, oder ein Zustand, nämlich die Erfüllung der Verpflichtung, gemeint sein. Sinnvoll sei jedoch allein die Auslegung des Gesetzes, die den Anspruch auf die ungekürzte Grundrente von der Erfüllung der Verpflichtung abhängig mache, da anderenfalls der Zusatz "zu sorgen hat" etwas Selbstverständliches zum Ausdruck bringe; denn jede Witwe sei verpflichtet, für ihr Kind zu sorgen. Zu dem gleichen Ergebnis führe die Erwägung, daß der Bezug der ungekürzten Grundrente in § 40 BVG a. F. an eine der dort genannten drei Voraussetzungen geknüpft sei, in denen angenommen werde, daß die Witwe in ihrer Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu bestreiten, eingeschränkt sei. Diese Voraussetzung sei bei einer Witwe, die sich um ihr Kind nicht kümmere, nicht erfüllt. Für diese Auslegung spreche auch die Rechtsentwicklung; so habe nach § 37 Abs. 2 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) i. d. F. vom 22. Juni 1923 (RGBl I, 513) nur die Witwe Anspruch auf die erhöhte Witwenrente gehabt, die "für ein Kind sorge", und nach § 7 des Hessischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte vom 8. April 1947 (GVBl 19) habe eine Witwe Rente nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung u. a. nur beanspruchen können, "solange sie ein waisengeldberechtigtes Kind, das das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, oder zwei waisengeldberechtigte Kinder unter 8 Jahren aufziehe." Wenngleich das Gesetz eine von den früheren Vorschriften abweichende Fassung erhalten habe, müsse doch mit den Verwaltungsvorschriften zu § 41 BVG angenommen werden, daß der frühere Rechtszustand habe fortgesetzt werden sollen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 31. Januar 1959 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 4. Februar 1959, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 9. Februar 1959, Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die erhöhte Witwenrente für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1955 zu zahlen.
Die Klägerin rügt die Verletzung des § 40 BVG a. F. Das LSG habe den Sinn der Vorschrift verkannt. Die Werte "zu sorgen hat" bezeichneten nicht einen Zustand, sondern drückten eine Verpflichtung, ein Sollen oder Müssen aus. Mit dem Satz "er hat zu essen", auf den sich das LSG u. a. beziehe, werde nicht ein Zustand, die Tatsache, daß jemand esse, bezeichnet, sondern nur angegeben, daß er die Möglichkeit hierzu habe. Im übrigen sei diese Sprachform grundsätzlich verschieden von der in § 40 BVG a. F. angewandten, durch die eine bloße Verpflichtung, für das Kind zu sorgen, zum Ausdruck gekommen sei. Es habe auch nicht jede Mutter, wie das LSG meine, die Verpflichtung, für ihr Kind zu sorgen; von der geisteskranken oder tuberkulösen, in einem Heim untergebrachten Mutter oder der sittlich verkommenen Mutter, der das Sorgerecht genommen sei, könne man nicht sagen, daß sie für ihr Kind zu sorgen habe, jedenfalls nicht, wenn sie so arm oder das Kind so reich sei, daß sie keine Unterhaltspflicht zu erfüllen habe. Der Anspruch auf die volle Grundrente nach § 40 BVG a. F. sei auch nicht an die Voraussetzung geknüpft, daß die Witwe durch das Kind in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei. Auf frühere Rechtsvorschriften könne die Auslegung eines Gesetzes nicht gestützt werden, wenn es wie hier von ihrem Sinn und Wortlaut abweiche. Ferner trägt die Klägerin vor, daß sie seit dem 1. September 1955 nicht nur laufend Unterhalt für das Kind gezahlt, sondern auch Tilgungsraten auf die in den früheren Jahren aufgelaufene Schuld geleistet habe. Die persönliche Pflege umfasse auch die Gewährung von Unterhalt und sei insoweit nachholbar. Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend; einen Antrag hat er, abgesehen von dem zu dem zunächst auch auf Bewilligung des Armenrechts gerichteten, nicht ausdrücklich gestellt.
II
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist daher zulässig.
Sie ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat § 40 BVG i. d. F. des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 19. Januar 1955 (BGBl I 25) - BVG a. F. - im Ergebnis richtig angewandt.
Nach § 40 Satz 1 BVG a. F. beträgt die Grundrente der Witwe 48,- DM monatlich; hat eine Witwe, die weder erwerbsunfähig ist noch für mindestens ein Kind i. S. des § 41 Abs. 1 Buchst. c BVG zu sorgen hat, das 40. Lebensjahr nicht vollendet, so beträgt die Grundrente gemäß § 40 Satz 2 BVG a. F. 24,- DM monatlich. Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen auf die Rechtsentwicklung - § 37 Abs. 2 RVG, § 7 Hess. KBLG - und auf die von ihm vorgenommene Interpretation des Wortlauts des § 40 Satz 2 BVG a. F. gestützt: Sinnvoll sei allein die Auslegung des Gesetzes, die den Anspruch auf die ungekürzte Grundrente von der Erfüllung der Verpflichtung abhängig mache. Nach der Auffassung des Senats führt jedoch eine bloße Wortlautauslegung des Gesetzes, wie sie das LSG vorgenommen hat, nicht zu einem hinreichend sicheren Ergebnis, besonders wenn - wie hier - in § 40 BVG a. F., der Gesetzestext wenig genau und - wenn man der Auslegung des LSG folgen will - auch ungewöhnlich ist.
Die Auslegung eines Gesetzes, hier also des § 40 BVG a. F., hat grundsätzlich über den bloßen Wortlaut hinaus den Inhalt der Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck zu ermitteln. Dieser Inhalt des Gesetzes ist maßgebend, mag er auch in seinem Wortlaut einen nur unvollkommenen Ausdruck gefunden haben (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, 14. Aufl., § 56 I am Ende u. IV; Nipperdey in NJW 1962, 321/322).
Im vorliegenden Fall läßt die Verweisung des § 40 Satz 2 BVG a. F. auf § 41 Abs. 1 c BVG und die Weiterverweisung dort auf den in § 45 Abs. 2 BVG näher abgegrenzten Personenkreis Schlußfolgerungen dahin zu, was unter den Worten "für mindestens ein Kind zu sorgen hat" zu verstehen ist. Zwar regelt § 45 Abs. 2 BVG unmittelbar nur, welche Personen als Kinder i. S. dieser Vorschrift anzusehen sind. Aber daraus, daß der in § 45 Abs. 2 BVG näher abgegrenzte Personenkreis nicht nur eheliche und uneheliche Kinder, sondern auch Stiefkinder und Pflegekinder umfaßt, ergibt sich zugleich, welche Anforderungen an die Voraussetzung, daß die Witwe "für mindestens ein Kind zu sorgen hat", zu stellen sind. Der damit umschriebene Pflichtenkreis braucht auch nicht notwendig Ausfluß des Personensorgerechts als eines Bestandteils der elterlichen Gewalt (§§ 1626, 1631 BGB) zu sein (a. A. LSG Berlin, Urteil vom 10. September 1954, SozSichRechtsp . 1954 Nr. 334). Denn die Witwe, die für ein Stiefkind oder ein Pflegekind zu sorgen hat, ist nicht schon deshalb auch Inhaberin des Personensorgerechts, ebensowenig ist sie als Stief- oder Pflegemutter gesetzlich verpflichtet, dem Kinde Unterhalt zu gewähren. Trotzdem hat auch die Stief- und Pflegemutter nach § 40 BVG a. F. gegebenenfalls Anspruch auf die volle Grundrente. Das aber bedeutet, daß die Worte in § 40 BVG a. F. "zu sorgen hat" i. S. einer tatsächlich erfüllten Übernahme der Sorge für mindestens ein Kind verstanden werden müssen. Gemeint sind "die der Mutter dem Kind gegenüber allgemein obliegenden Pflichten" (s. dazu auch Verwaltungsvorschriften zu § 41 BVG i. d. F. vom 31.8.1953 nebst Ergänzungen vom 1.6.1955 BAnz. Nr. 106).
Im übrigen ergibt sich aus der Begründung zum Entwurf des BVG, daß eine Witwe, die für mindestens ein Kind zu sorgen hat, u. a. deswegen eine Ausgleichsrente erhalten sollte, weil sie durch die "Pflege" des Kindes in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeengt sein kann (Deutscher Bundestag, 1. WP 1949, Drucks. Nr. 1333 S. 59). Auch in den Beratungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages ist zum Ausdruck gekommen, und zwar bei den Beratungen zum vorliegend auszulegenden § 40 BVG a. F., einer Witwe über 40 Jahren oder mit Kindern könne nicht zugemutet werden, eine Einschränkung der Witwengrundrente hinzunehmen; den anderen Witwen sei jedoch "noch etwas in Bezug auf Selbsthilfe zumutbar" (Deutscher Bundestag, 1. WP 1949, 26. Ausschuß - S. 112 (D) S. 113 (A). Die Witwe unter 40 Jahren mit einem Kind ist sonach der Witwe über 40 Jahren gleichgestellt worden, weil sie in der Regel ähnlich wie diese durch die Sorge für ihr Kind in ihrem Lebenskampf behindert ist; der Gesetzgeber hat zwar davon abgesehen, den Bezug der Rente davon abhängig zu machen, daß die Witwe in einem bestimmten Umfange durch die Sorge für mindestens ein Kind tatsächlich belastet ist. Daß aber bei der Witwe mit Kindern nur an eine solche gedacht sein kann, die auch tatsächlich für die Kinder sorgt, kann nicht zweifelhaft sein; denn nur sie, nicht auch diejenige, die nicht für ihre Kinder sorgt, ist - ähnlich wie die Witwe über 40 Jahren - in ihrem Lebenskampf behindert.
Nach allem ergibt sich, sowohl aus dem Sinn der Vorschrift des § 40 BVG a. F. wie auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, daß eine Witwe mit einem Kind, sofern sie das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, die ungekürzte Grundrente nicht schon wegen ihrer Verpflichtung dem Kind gegenüber erhalten soll, sondern deshalb, weil ihr Lebenskampf durch die tatsächliche Belastung mit diesen Verpflichtungen in aller Regel nicht unerheblich erschwert ist. Es genügt nicht, daß sie ein Kind hat, sie muß für dieses auch tatsächlich sorgen. Darum hat sie keinen Anspruch auf die ungekürzte Grundrente, solange sie sich um ihr Kind nicht kümmert.
Nach den Feststellungen des LSG, die mit der Revision nicht angegriffen und daher für das Bundessozialgericht bindend sind (§ 163 SGG), hat die Klägerin sich in der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1955 um ihr Kind nicht gekümmert. Sie hat seine Unterbringung und Erziehung völlig dem zum Pfleger bestellten Jugendamt überlassen und erstmals im September 1955 Zahlungen für das Kind geleistet. Das LSG hat daher der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1955 die ungekürzte Grundrente zu Recht versagt. Dabei ist unerheblich, daß die Klägerin nach dem 1. September 1955 Zahlungen auf ihre schon vor diesem Zeitpunkt bestehenden Unterhaltsverpflichtungen geleistet hat. Denn die Verpflichtung, für ein Kind zu sorgen, wird durch zahlreiche Einzelleistungen erfüllt, zu denen auch die Erfüllung der Unterhaltspflicht gerechnet werden kann, wenn sie Ausdruck des Willens ist, das persönliche Wohl des Kindes zu fördern. Losgelöst von der einheitlichen Verpflichtung, für das Kind zu sorgen, ist die Gewährung von Unterhalt für die Vergangenheit lediglich die Nachholung einer einzelnen Ersatzleistung, die zwar Schäden für die Zukunft abwenden, aber nicht als Erfüllung der Sorgepflicht in die Vergangenheit zurückwirken kann. Besonders gilt das, wenn die Verpflichtung, für ein Kind zu sorgen, im ganzen in einem bestimmten Zeitraum nicht erfüllt worden ist und die Mutter ihr Kind gänzlich vernachlässigt hat.
Hiernach hat der Beklagte mit Recht den Antrag der Klägerin auf Gewährung der ungekürzten Grundrente für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1955 abgelehnt. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG vom 30. April 1958 zurückgewiesen. Da weitere Feststellungen in der Sache nicht erforderlich sind, war die Revision nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen