Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Neufeststellung der Versorgungsbezüge nach § 62 Abs 1 BVG. ohne ärztliche Nachuntersuchung erlassener Umanerkennungsbescheid. wesentliche Änderung der Verhältnisse
Orientierungssatz
Der Senat hat für den besonderen Fall des ohne Nachuntersuchung erlassenen Umanerkennungsbescheides bereits entschieden (vgl BSG vom 21.1.1960 - 8 RV 549/58 = BSGE 11, 236), dass für die Frage, ob und seit wann eine wesentliche Änderung eingetreten ist, auf den Befund abgestellt werden muss, der dem Umanerkennungsbescheid vorhergehenden Bescheid zu Grunde gelegen hat.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1, § 86 Abs. 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.11.1958) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 17.10.1957) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 20. November 1958 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der am 18. April 1924 geborene Kläger wurde am 17. Januar 1945 durch Splitter einer Gewehrgranate verwundet. Als Folgen dieser Schädigung bezeichnete das versorgungsärztliche Gutachten des Reg. Medizinalrats Dr. H in D vom 29. Oktober 1946 "ausgedehnte Rippenfellschwarte links mit Schrumpfung und Lungenstecksplitter, verschiedene Weichteilnarben an beiden Händen, am linken Oberarm und an der rechten Gesäßbacke". Die Landesversicherungsanstalt Westfalen stellte durch Bescheid vom 13. November 1946 die in dem Gutachten vom 29. Oktober 1946 bezeichneten Gesundheitsschädigungen fest und bewertete im Bescheid vom 22. September 1947 die hierdurch entstandene Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 50 v. H. Das Versorgungsamt (VersorgA) D übernahm - ohne vorherige ärztliche Untersuchung des Klägers - durch Umanerkennungsbescheid vom 7. November 1951 die früheren Leidensbezeichnungen als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) sowie die MdE um 50 v. H. Auf Grund der angeordneten Nachuntersuchung erstattete der Lungenfacharzt Reg.-Medizinalrat Dr. G in D das Gutachten vom 31. Oktober 1955/24. April 1956, in dem auch röntgenologische, elektrokardiographische und spirometrische Zusatzgutachten berücksichtigt wurden. Er kam zu dem Ergebnis, daß in der Leidensbezeichnung einige Schäden noch nicht berücksichtigt worden seien, die MdE jedoch infolge Besserung der Atemfunktion nur noch mit 30 v. H. bewertet werden könne. Durch Bescheid vom 2. Juni 1956 stellte das VersorgA unter Änderung der Leidensbezeichnungen als Schädigungsfolgen fest: "Ausgedehnte Rippenfellschwarte links mit Schrumpfung und zwei Lungenstecksplitter. Feste Weichteilnarbe an beiden Händen, am linken Oberarm und an der linken Gesäßhälfte. Zahlreiche kleine Weichteilstecksplitter im Bereich der linken Schulter und der linken Achselhöhle. Geringe Rechtsverbiegung der oberen Brustwirbelsäule". In dem Bescheid wurde ferner die Rente mit Wirkung vom 1. August 1956 wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse nach § 62 Abs. 1 BVG nach einer MdE um 30 v. H. neu festgesetzt. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Bescheid vom 31. Juli 1956 zurück.
Im Klageverfahren hat der Kläger eine Bescheinigung des Dr. med. K L in D vom 27. August 1956 vorgelegt; darin ist ausgeführt, der Kläger befinde sich seit mehreren Jahren wegen seines Versorgungsleidens (Lungenstecksplitter) in seiner Behandlung und neige zu katarrhalischen Erkrankungen bei Witterungsumschlägen; außerdem bestehe bei ihm eine starke neurasthenische Disposition. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten der Lungenfachärzte Doz. Dr. med. habil. L K und Dr. W der Spezial-Lungenklinik in Hemer eingeholt. In ihren Gutachten vom 8. Februar 1957 haben diese eine wesentliche Änderung im Sinne einer Besserung gegenüber dem Befund von Oktober 1946 festgestellt; die Möglichkeit, daß die beiden intrapulmonal gelegenen Splitter zu größeren Umgebungsreaktionen führen könnten, sei wesentlich geringer als im Jahre 1946; auch in funktioneller Hinsicht sei eine Besserung eingetreten; die Lungenfunktion verbessere sich durch Gewöhnung an die veränderten Atembedingungen erfahrungsgemäß stetig in den ersten drei Jahren nach einer Verletzung. Die Anpassung des Organismus sei bei dem Kläger im Oktober 1946 mit Bestimmtheit noch nicht abgeschlossen gewesen. Eine MdE von 30 v. H. sei ausreichend, zumal die Funktionseinbusse in seinem Beruf als Konstrukteur oder Zeichner sich nicht erheblich auswirke. In dem Gutachten wurden Nachuntersuchungen im Abstand von zwei Jahren vorgeschlagen, da sich trotz des im Augenblick sehr günstigen Zustandes weitere sekundäre Folgen wie bronchiekatische Veränderungen im Bereich der Lunge und Rückwirkungen auf Herz und Kreislauf einstellen könnten. Das SG hat mit Urteil vom 17. Oktober 1957 die Bescheide vom 2. Juni 1956 und 31. Juli 1956 aufgehoben.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen hat durch Urteil vom 20. November 1958 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 3 BVG scheide wegen Ablaufs der darin bestimmten Frist von vier Jahren seit Inkrafttreten des BVG aus. Die Neufeststellung der Rente durch Bescheid vom 2. Juni 1956 (Widerspruchsbescheid vom 31.7.1956) sei rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 BVG nicht erfüllt gewesen seien. Unter einer "Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind", seien nur die Verhältnisse zur Zeit des Erlasses des maßgeblichen Verwaltungsakts zu verstehen. Darum könnten bei einer Neufeststellung nach § 62 BVG nur die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Umanerkennungsbescheides vorgelegen hätten, mit denen verglichen werden, die bei der Neufeststellung bestanden oder sich im Laufe des Streitverfahrens ergeben hätten. Das müsse auch dann gelten, wenn die Umanerkennung ohne ärztliche Nachuntersuchung erfolgt sei. Die Richtigkeit dieser Auffassung werde durch § 86 Abs. 3 BVG bestätigt; denn diese Vorschrift sei im wesentlichen überflüssig, wenn auf frühere Bescheide zurückgegriffen werden könne. Aus dem Gutachten der Lungenfachärzte Dr. A. und Dr. W. vom 8. Februar 1957 ergebe sich, daß die Besserung, soweit sie als wesentlich angesehen werden könne, vor November 1951 eingetreten sei; denn die Anpassung des Organismus an die veränderten Atembedingungen habe sich in den ersten drei Jahren nach der Verwundung vollzogen. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 12. Februar 1959 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 7. März 1959, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 10. März 1959, Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Dortmund vom 17. Oktober 1957 abzuändern und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
In der am 26. März 1959 eingegangenen Revisionsbegründungsschrift rügt er die Verletzung der §§ 62, 86 BVG, 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 24 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG). Er trägt vor: Das LSG habe zu Unrecht die Verhältnisse zur Zeit des Umanerkennungsbescheides zu Grunde gelegt. Da dieser Bescheid ohne vorherige Untersuchung des Klägers erlassen worden sei, hätten die Verhältnisse zur Zeit des Bescheides vom 22. September 1947 zum Vergleich herangezogen werden müssen. Maßgebend für diesen Bescheid sei der in dem Gutachten vom 29. Oktober 1946 dargelegte Leidenszustand, der auch dem Umanerkennungsbescheid zu Grunde liege. Da das Gesetz in § 86 Abs. 3 BVG die Umanerkennung ohne erneute Untersuchung, also ohne eine sachliche Überprüfung des Leidenszustandes, zugelassen habe, müsse für die Beurteilung einer wesentlichen Änderung nach § 62 BVG auf die Verhältnisse zurückgegriffen werden können, die zur Zeit des früheren, auf Grund medizinischer Befunde erlassenen Bescheides bestanden hätten.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und deshalb zulässig; sie ist auch begründet.
Das LSG hat festgestellt, die Besserung, soweit sie als wesentlich angesehen werden könne, sei vor dem Erlaß des Bescheides vom 7. November 1951 eingetreten. Gegen diese Feststellung sind Revisionsrügen nicht erhoben; das BSG ist darum an sie gebunden (§ 163 SGG). Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen einer Neufeststellung der Versorgungsbezüge nach § 62 Abs. 1 BVG jedoch verneint, weil der Umanerkennungsbescheid nur auf Grund einer Änderung der Verhältnisse, die nach seinem Erlaß eingetreten seien, habe zurückgenommen werden können. Dieser Auffassung kann für den Fall, daß wie hier der Umanerkennungsbescheid ohne vorherige ärztliche Nachuntersuchung erlassen worden ist, nicht zugestimmt werden.
Zwar kommt auch dem Umanerkennungsbescheid, der ohne ärztliche Nachuntersuchung erlassen worden ist - von den hier nicht in Betracht kommenden Einschränkungen des § 86 Abs. 3BVG abgesehen - volle Bindungswirkung zu. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, von welcher Beurteilungsgrundlage in diesem Fall bei der Anwendung des § 62 BVG auszugehen ist, und ob für die Frage einer wesentlichen Änderung die Verhältnisse zur Zeit des Umanerkennungsbescheides maßgebend sind, obgleich dieser Bescheid nicht auf einem neuen Untersuchungsergebnis beruht, sondern nur die nach früherem Recht und auf Grund früherer Unterlagen festgestellten Schädigungsfolgen übernommen hat. Die nach § 86 Abs. 3 BVG zugelassene Feststellung der Rente ohne Nachuntersuchung dient der reibungslosen Überleitung der Versorgungsbezüge alten Rechts auf den Rechtszustand nach dem BVG. Ohne diese Vorschrift wäre die Versorgungsverwaltung vor eine unlösbare Aufgabe gestellt worden. Diesem besonderen Sachverhalt muß bei der Prüfung, ob die Verhältnisse zur Zeit des Umanerkennungsbescheides oder die des nach früherem Recht erlassenen Bescheides maßgebend sind, Rechnung getragen werden; denn es kann nicht angenommen werden, daß das Gesetz die Möglichkeit einer Neufeststellung nach § 62 BVG unter Berücksichtigung des früheren Bescheides hat ausschließen wollen, wenn bereits bei dem ohne ärztliche Untersuchung erlassenen Umanerkennungsbescheid die sachlichen Voraussetzungen zur Gewährung von Versorgungsrente nicht mehr in dem der Feststellung zu Grunde liegenden Umfang gegeben waren. Weil das Gesetz den Versorgungsbehörden in § 86 Abs. 3 BVG sowohl eine sachliche Prüfung von Schädigungsfolgen und der Höhe der MdE freigestellt als auch - ohne zeitliche Begrenzung - die Übernahme einer früheren Beurteilung ohne erneute Sachprüfung gestattet hat, kann es in Fällen wie dem vorliegenden für die Frage, welcher Zeitpunkt für die Änderung der Verhältnisse nach § 62 BVG maßgebend ist, auch nur auf den nach früherem Recht erlassenen Bescheid, der sachlich den Inhalt des Umanerkennungsbescheides bestimmt hat, und seine Beurteilungsgrundlage ankommen. Der Senat hat darum für den besonderen Fall des ohne Nachuntersuchung erlassenen Umanerkennungsbescheides bereits entschieden (BSG 11, 237, 241), daß für die Frage, ob und seit wann eine wesentliche Änderung eingetreten ist, auf den Befund abgestellt werden muß, der dem dem Umanerkennungsbescheid vorhergehenden Bescheid zu Grunde gelegen hat. Er ist damit den Rechtsgrundsätzen gefolgt, die schon das Reichsversorgungsgericht zu § 57 RVG aufgestellt hatte (RVGE 5 S. 24, 27; 6, 117; vgl. auch BSG SozR § 62 Bl. Ca Nr. 12 sowie Urteil vom 22.3.1962 - 8 RV 1401/59 -). Die von dem Senat vertretene Auffassung läßt sich auch nicht, wie das LSG meint, durch den Hinweis entkräften, daß § 86 Abs. 3 BVG im wesentlichen überflüssig wäre, wenn die Neufeststellung der Versorgungsbezüge nach § 62 BVG in dem hier vertretenen Umfang gestattet wäre; denn § 86 Abs. 3 BVG schränkt weder die Anwendung des § 62 BVG ein, noch gibt diese Vorschrift Aufschluß darüber, wie § 62 BVG auszulegen ist, wenn der Umanerkennungsbescheid sich nicht auf eine erneute Untersuchung stützt. Auch das von dem LSG herangezogene Urteil des BSG vom 12. Februar 1958 (BSG 7, 8) steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen, weil dort bei der Umanerkennung Einkommen unberücksichtigt geblieben war. Da die Höhe des Einkommens bei Erlaß des Bescheides zu prüfen war, hat es sich in diesem Fall auch nicht "um eine Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind" gehandelt (vgl. auch BSG 11, 237, 241).
Hiernach verletzt das angefochtene Urteil die Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG. Das LSG hätte von den Verhältnissen ausgehen müssen, die zur Zeit des Bescheides vom 22. September 1947 bestanden haben; denn dieser Bescheid beruht auf dem Gutachten vom 29. Oktober 1946 und enthält die in dem Umanerkennungsbescheid übernommenen Leidensbezeichnungen und die MdE. Das LSG hätte feststellen müssen, ob und in welchem Umfang der Leidenszustand des Klägers sich seit dem 22. September 1947 gebessert hat. Das LSG hat diese Prüfung - von seinem Standpunkt aus zu Recht - nicht vorgenommen. Das BSG kann nicht selbst entscheiden, da die hierzu erforderlichen Feststellungen, insbesondere auch zur Höhe der MdE, fehlen. Das Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen