Leitsatz (redaktionell)

Gewährt das VersorgA einem Doppelunterschenkelamputierten , der nicht hilflos ist, auf Grund der geänderten BVGVwV § 35 Nr 8 Abs 1 vom 1953-08-01 ab die Pflegezulage, dann besteht für die Versorgungsbehörde keine Möglichkeit, durch Bescheid nach KOV- VfG § 40 Abs 1 später die Pflegezulage für die Zeit vom 1950-10-01 - 1953-07-31 zu gewähren.

Ein Bescheid nach dieser Vorschrift stellt eine Ermessensentscheidung dar; Voraussetzung für einen solchen Bescheid ist stets, daß das Gesetz die Gewährung der beantragten Leistung an sich gestattet.

Die Gewährung einer Pflegezulage an einen nicht hilflosen Doppelschenkelamputierten für die Zeit vom 1950-10-01 - 1953-07-31 läßt das Gesetz nicht zu.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1953-08-07; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02; BVGVwV § 35 Nr. 8 Abs. 1 Fassung: 1953-08-01

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 8. März 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Gemäß bindend gewordenem Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamts (VersorgA) S vom 29. August 1951 bezog der Kläger vom 1. Oktober 1950 an nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen "Verlustes beider Unterschenkel im mittleren Drittel nach Erfrierung" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. sowie einen Ersatz für Mehrverschleiß an Kleidern und Wäsche. Unter Hinweis auf die 2. Novelle zum BVG vom 7. August 1953 und die damit verbundene Änderung der Verwaltungsvorschrift (VerwV) Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG mit Wirkung vom 1. August 1953 an (bei der Neufassung der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG war deren bisheriger Satz 2 "der einfache Verlust beider Unterschenkel jedoch rechtfertigt die Gewährung der Pflegezulage nicht, es sei denn, daß der Zustand der Hüft- und Kniegelenke eine schwere Bewegungsbeschränkung bedingt" gestrichen worden) beantragte der Kläger am 21. August 1953 die Gewährung einer Pflegezulage, weil die Streichung des Satzes 2 der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG die Zahlung der Pflegezulage an Doppelunterschenkelamputierte in jedem Falle bedeute. Das VersorgA gab diesem Antrag insoweit statt, als es mit Bescheid vom 7. Januar 1954 dem Kläger vom 1. August 1953 an eine Pflegezulage in Höhe von DM 60.- monatlich bewilligte. Der Bescheid wurde bindend.

Am 19. Februar 1957 beantragte der Kläger die Erteilung eines neuen Bescheides (Zugunstenbescheid) nach § 40 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (VerwVG) und die Gewährung der Pflegezulage schon vom 1. Oktober 1950 an, weil eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) von grundsätzlicher Bedeutung (Urteil vom 24. August 1956 - BSG 3, 217) sowohl die Bescheiderteilung nach § 40 Abs. 2 VerwVG als auch die Gewährung der Pflegezulage für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Juli 1953 rechtfertige. Die Versorgungsbehörden lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 28. Mai 1957 ab, weil das BSG in dem angeführten Urteil zu der Frage, "ob Doppelunterschenkelamputierte auf Grund der Neufassung der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG im Zusammenhang mit der 2. Novelle zum BVG vom 7. August 1953 auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 schlechthin Anspruch auf die einfache Pflegezulage haben, keine grundsätzlichen Ausführungen gemacht habe". Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg; das Landesversorgungsamt Westfalen, Außenstelle Dortmund, hat ihn mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1957 zurückgewiesen und die vom VersorgA Soest im Bescheid vom 28. Mai 1957 vertretene Auffassung bestätigt. Im übrigen könne Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 nur gewährt werden, wenn in dieser Zeit Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG vorgelegen habe. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Schließlich stehe der Gewährung einer Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 noch die VerwV Nr. 8 zu § 40 VerwVG entgegen, nach der bei etwaiger Erteilung eines neuen Bescheids eine Rückwirkung in der Regel nicht über einen Zeitraum von 4 Jahren hinausgehen solle.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat mit Urteil vom 12. Dezember 1957 die Klage abgewiesen und entschieden, daß die in Anwendung des § 40 Abs. 2 VerwVG erteilten Bescheide vom 28. Mai 1957 und 29. Juli 1957 nicht rechtswidrig seien. Ebensowenig könne die Klage auf § 40 Abs. 1 VerwVG gestützt werden, da ein Ermessensmißbrauch oder Ermessensfehler der Verwaltungsbehörde bei der Verweigerung eines Zugunstenbescheides nicht erkennbar sei, es bestehe kein zwingender Grund für die Annahme, daß die Neufassung der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG rückwirkend Geltung vom 1. Oktober 1950 an haben solle. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen hat mit Urteil vom 8. März 1961 die auf § 40 Abs. 1 und 2 VerwVG gestützte Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Das in Frage stehende Urteil des BSG vom 24. August 1956 (BSG 3, 217) stehe der Auffassung des Beklagten, daß die Neufassung der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG erst vom 1. August 1953 an Anwendung finden könne, nicht entgegen, denn in dem dort entschiedenen Falle habe das BSG zu der Frage, ob die Verwaltungsvorschriften in ihrer Neufassung zur 2. Novelle zum BVG schon von einem früheren Zeitpunkt an als dem 1. August 1953 verbindlich seien, oder ob ihnen rückwirkende Kraft beizumessen sei, keine Stellung genommen und dies sogar ausdrücklich dahingestellt gelassen. Es habe zwar in dem damals von ihm zu entscheidenden Falle einem Doppelunterschenkelamputierten auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 die einfache Pflegezulage zuerkannt; das habe es jedoch nur deshalb getan, weil nach den für es bindenden tatsächlichen Feststellungen des Vordergerichts schon vor dem 1. August 1953 Hilflosigkeit des Beschädigten im Sinne des § 35 BVG vorgelegen habe und Hinderungsgründe besonderer Art, wie etwa das Fehlen eines Antrags oder die Rechtskraft einer früheren Entscheidung, der Gewährung der Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 nicht entgegengestanden hätten. Deshalb könne dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem Urteil des BSG vom 24. August 1956 um ein solches "von grundsätzlicher Bedeutung" im Sinne des § 40 Abs. 2 VerwVG (aF) gehandelt habe. "In der Auslegung der dem jetzt angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsauffassung liege jedenfalls eine andere Beurteilung - durch das BSG - nicht vor". Das habe zur Folge, daß die Bescheide der Versorgungsverwaltung vom 28. Mai 1957 und 29. Juli 1957 nicht rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien. § 40 Abs. 2 VerwVG sei nicht verletzt. Zu Unrecht berufe sich der Kläger auch, so hat das LSG weiter ausgeführt, auf die Vorschrift des § 40 Abs. 1 VerwVG, weil die Ablehnung des Antrages auf Gewährung von Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 keinen Ermessensmißbrauch darstelle. Denn Rechtswidrigkeit bei einer Ermessensentscheidung liege nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur dann vor, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder wenn von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei. Das sei vorliegend nicht der Fall. Die Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des BVG seien am 31. August 1953 geändert und ergänzt worden, ohne daß ein Hinweis vorhanden sei, von welchem Zeitpunkt an sie in ihrer Neufassung Gültigkeit haben sollten. Bei dieser Frage nach der zeitlichen Geltung dränge sich jedoch der Hinweis auf, daß sie im Zusammenhang mit der 2. Novelle zum BVG vom 7. August 1953 erlassen worden seien. Deshalb sei davon auszugehen, daß die - geänderten und neugefaßten - Verwaltungsvorschriften für die Verwaltungsbehörden im allgemeinen vom 1. August 1953 an verbindlich geworden seien. Bis zu diesem Zeitpunkt sei somit die Verwaltungsbehörde an die früheren Verwaltungsvorschriften, insbesondere auch an die VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG gebunden gewesen. Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG, die gegebenenfalls die Gewährung der Pflegezulage schon für die Zeit vor dem 1. August 1953 rechtfertigen könnte, liege beim Kläger für die streitige Zeit im übrigen nicht vor. Denn die Weichteildeckung und die Narbenverhältnisse an beiden Amputationsstümpfen seien gut, Knie- und Hüftgelenke beiderseits seien völlig frei beweglich, und der Gang mit den Prothesen sei ausreichend flott und sicher. Der Kläger sei nicht hilflos in dem Sinne, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne. Mit der Verneinung der Hilflosigkeit für die Zeit vor dem 1. August 1953 habe die Versorgungsbehörde mithin nicht nur die für diesen Zeitraum geltende VerwV befolgt, sondern sie habe auch dem Gesetz selbst (§ 35 BVG) Rechnung getragen. Von einem Ermessensfehler könne somit nicht die Rede sein. Schließlich stelle die Versagung der Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 auch keinen Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG) dar.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses ihm am 4. April 1961 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17. April 1961, eingegangen beim BSG am 18. April 1961, Revision eingelegt; der Schriftsatz enthält auch die Begründung der Revision. Der Kläger rügt mit ihr die Verletzung des § 40 Abs. 1 VerwVG und insoweit eine fehlerhafte Ermessenshandhabung im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG durch das LSG, schließlich auch die Verletzung der §§ 103, 128 SGG. Er trägt vor: Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sei die Ablehnung der Erteilung eines Zugunstenbescheids durch den Beklagten ermessensfehlerhaft. Denn die Neufassung der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG vom August 1953 sei eine Auslegungsregel zum Gesetz, die, da sachliche Bedenken gegen ihre Richtigkeit nicht bestünden, grundsätzlich auf das Inkrafttreten des BVG (1. Oktober 1950) zurückwirke, zumal nicht auch gleichzeitig eine Änderung des § 35 BVG - hinsichtlich des Begriffs der Hilflosigkeit - erfolgt sei. Die Auslegung des Gesetzes aber könne ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der - jeweiligen - Verwaltungsvorschriften nur nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgen. Wenn im übrigen das LSG den Anspruch auf die Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 aus der Erwägung heraus abgelehnt habe, daß bis zu diesem Zeitpunkt Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht bestanden habe, so gehe es an der Tatsache vorbei, daß bei gleichen Gesundheitsverhältnissen und unverändertem Gesetzesinhalt vom Beklagten die Pflegezulage vom 1. August 1953 an bewilligt worden sei. Verfahrensrechtlich sei, so rügt die Revision weiter, zu beanstanden, daß das Berufungsgericht keine tatsächlichen Feststellungen - gegebenenfalls mit Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen - darüber getroffen habe, daß die Schädigungsfolge des Klägers (Verlust beider Unterschenkel), die am 1. August 1953 Hilflosigkeit und damit Anspruch auf Pflegezulage bewirkt habe, in derselben Form schon vorher, und zwar seit dem 1. Oktober 1950, bestanden habe. Diese Verletzung des § 103 SGG stelle gleichzeitig einen Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG dar, denn wenn das LSG seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt hätte, dann hätte es schon aus dem Akteninhalt feststellen müssen, daß die Gesundheitsverhältnisse des Klägers vor und nach dem 1. August 1953 dieselben gewesen seien. Daraus habe dann denkgesetzlich gefolgert werden müssen, daß bei unverändertem Gesundheitszustand des Klägers Hilflosigkeit auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 anzunehmen sei.

Der Kläger beantragt,

1) das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Dortmund vom 12. Dezember 1957 sowie die Bescheide des Beklagten vom 28. Mai und 29. Juli 1957 aufzuheben und den Beklagten zur Erteilung eines anderweiten Bescheides zu verurteilen, durch den dem Kläger die einfache Pflegezulage auch für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum 31. Juli 1953 bewilligt wird,

2) hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist dabei auch auf das Urteil des 11. Senats des BSG vom 16. August 1961 - 11 RV 816/60 -, das die Rechtsauffassung des landessozialgerichtlichen Urteils bestätige.

Auf die Schriftsätze des Klägers vom 17. April und 8. September 1961 und die des Beklagten vom 18. Mai und 30. August 1961 wird verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des erkennenden Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet; das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen.

Der Kläger hat - anders als im Verwaltungsverfahren und in den Verfahren der ersten beiden Rechtszüge - in der Revisionsbegründungsschrift sein Begehren, durch Berichtigungsbescheid der Versorgungsbehörde in den Genuß der Pflegezulage auch schon für die Zeit vor dem 1. August 1953 zu kommen, nicht mehr auf die Vorschrift des § 40 Abs. 2 VerwVG gestützt, nach der auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn das BSG in "einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" (§ 40 Abs. 2 VerwVG aF) - "in ständiger Rechtsprechung" (§ 40 Abs. 2 VerwVG nF) - nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Ein solches Vorbringen hätte auch keinen Erfolg haben können, denn die - frühere - Berufung des Klägers auf das Urteil des BSG vom 24. August 1956 (BSG 3, 217) ging fehl. Zwar ist der Beklagte beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 VerwVG, ohne daß es etwa seinem Ermessen überlassen wäre, verpflichtet, einen neuen, dem Berechtigten günstigeren Bescheid zu erteilen. Diese Voraussetzungen liegen jedoch beim Kläger nicht vor. Dabei kann - in Anwendung des § 40 Abs. 2 VerwVG aF (vgl. BSG 15, 10) - dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem Urteil vom 24. August 1956 um eine "Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" handelt oder nicht. Denn wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, hat der 10. Senat des BSG in diesem Urteil über die Frage, ob die Verwaltungsbehörden verpflichtet sind, nach der geänderten VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG Doppelunterschenkelamputierten Pflegezulage rückwirkend vom 1. Oktober 1950 an zu gewähren, weder entschieden noch entscheiden wollen. Er hat in einem Verfahren, in dem der die Pflegezulage versagende Umanerkennungsbescheid angefochten war und somit der Anspruch auf Pflegezulage von vornherein auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 rechtshängig gewesen ist, lediglich entschieden, daß einem Doppelunterschenkelamputierten Pflegezulage auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 zu gewähren ist, wenn ihm die Pflegezulage für die Zeit vom 1. August 1953 an bewilligt worden ist und nach den für das BSG bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des Berufungsgerichts Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG auch schon vor dem 1. August 1953 vorgelegen hat. Um diese Rechtsfrage aber handelt es sich im vorliegenden Falle nicht (vgl. dazu auch BSG 15, 10, 11), so daß eine Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides an den Kläger nicht aus § 40 Abs. 2 VerwVG hergeleitet werden kann.

Es ist entgegen der Auffassung der Revision rechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte die Erteilung eines neuen Bescheids nach § 40 Abs. 1 VerwVG abgelehnt hat. Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Verwaltungsbehörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Dabei handelt es sich - anders als bei § 40 Abs. 2 VerwVG - um eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur daraufhin nachgeprüft werden kann, ob von der Verwaltungsbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Voraussetzung für einen neuen Bescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG - und damit für eine Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde überhaupt - ist jedoch stets, daß das Gesetz die Gewährung der beantragten Leistungen an sich gestattet (vgl. auch VerwV Nr. 2 zu § 40 VerwVG). Im vorliegenden Falle ist für die Handhabung des Verwaltungsermessens nach § 40 Abs. 1 VerwVG schon deshalb kein Raum, weil das Gesetz die Gewährung von Pflegezulage an den Kläger nicht zuläßt.

Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG aF hat der Beschädigte einen Anspruch auf Pflegezulage, solange er infolge seiner Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Hilfe bestehen kann. Hilflos in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und insbesondere auch des erkennenden Senats (vgl. BSG 8, 97, 99), wer für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG im ersten Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 Rechnung getragen: "Solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf, wird eine Pflegezulage ... gewährt". Ob ein solcher Zustand der Hilflosigkeit besteht, ist keine rein medizinische, sondern eine Tatfrage, die in jedem Falle unabhängig von der medizinischen Auffassung geprüft werden muß (BSG 8, 99).

Im vorliegenden Falle hat das LSG festgestellt, daß beim Kläger die Voraussetzungen zur Gewährung der Pflegezulage weder in der Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Juli 1953 vorgelegen haben, noch daß sie seit dem 1. August 1953 vorliegen. Die Weichteildeckung und Narbenverhältnisse an beiden Amputationsstümpfen seien gut, die Knie- und Hüftgelenke beiderseits völlig frei beweglich; der Gang mit den Prothesen sei ausreichend flott und sicher. Die Voraussetzungen der VerwV Nr. 8 Abs. 1 aF zu § 35 BVG seien deshalb nicht gegeben; ebensowenig könne von einer Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG, also des Gesetzes selbst, gesprochen werden. Durch die anerkannten Schädigungsfolgen sei der Kläger nicht so hilflos, daß er nicht ohne fremde Pflege (und Wartung) bestehen könne, für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bedürfe er nicht in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe. Gegen diese Feststellungen hat der Kläger Revisionsrügen nicht erhoben. In verfahrensrechtlicher Hinsicht rügt er lediglich, das LSG habe fehlerhaft keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, daß der Gesundheitszustand vor dem 1. August 1953 derselbe gewesen sei wie der nach dem 31. Juli 1953, d. h. in der Zeit, für die ihm die Pflegezulage bewilligt worden sei. Aus diesen unterlassenen, nach seiner Auffassung für die Urteilsfindung notwendigen tatsächlichen Feststellungen hätte sodann denkgesetzlich die einzig mögliche Folgerung gezogen werden können und müssen, daß - bei unverändertem Gesundheitszustand vom 1. Oktober 1950 an über den 31. Juli 1953 hinaus - Hilflosigkeit auch für die Zeit vor dem 1. August 1953 anzunehmen sei. Bei diesem Vorbringen übersieht die Revision, daß das Berufungsgericht die von ihr vermißten tatsächlichen Feststellungen doch getroffen hat; denn es hat ausdrücklich ausgeführt, daß Hilflosigkeit des Klägers im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG weder in der Zeit vor dem 1. August 1953 bestanden hat noch in der Zeit nach dem 31. Juli 1953 besteht; seine tatsächliche Feststellung, daß der Kläger für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens nicht in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe bedarf, erstreckt sich auf die Zeit vom 1. Oktober 1950 an über den 31. Juli 1953 hinaus bis zum Erlaß des angefochtenen Urteils. Das bedeutet, daß das Berufungsgericht für den gesamten Zeitraum die beim Kläger bestehenden Schädigungsfolgen als unverändert und gleichbleibend angesehen hat. Die Feststellung, daß der Kläger nicht hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG ist, ist deshalb für das BSG bindend (§ 163 SGG). Liegen somit die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Pflegezulage nicht vor, so war für den Beklagten auch kein Raum für eine Ermessensentscheidung nach § 40 Abs. 1 VerwVG. Daran ändert nichts der Umstand, daß das VersorgA dem Kläger - obwohl er nicht hilflos ist - die Pflegezulage seit dem 1. August 1953 gewährt; diese Gewährung beruht allein auf der geänderten VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG, wonach bei Doppelunterschenkelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen im allgemeinen die einfache Pflegezulage angemessen ist. Dabei bedarf es, wie der 11. Senat im Urteil vom 16. August 1961 (BSG 15, 10) zutreffend ausgeführt hat, auch keiner Entscheidung darüber, ob die VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG insoweit mit dem Gesetz in Einklang steht. Bedenken könnten bestehen, weil das Gesetz die Hilflosigkeit nur bei Blinden und bei erwerbsunfähigen Hirnverletzten allgemein und unwiderleglich vermutet, nicht aber bei Doppelunterschenkelamputierten wie dem Kläger. Sicherlich ist auch bei vielen Doppelunterschenkelamputierten Hilflosigkeit gegeben, es ist dies aber - wie gerade die hier vom LSG getroffenen Feststellungen beweisen - jedenfalls bei Doppelunterschenkelamputierten nicht allgemein der Fall. Überdies zwingen der Wortlaut der VerwV Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG und ihr Sinn die Verwaltung auch nicht, jedem Doppelunterschenkelamputierten ohne Prüfung der Hilflosigkeit Pflegezulage zu gewähren (BSG 15, 10). Die Frage, ob dem Kläger die Pflegezulage für die Zeit vom 1. August 1953 an zu Recht gewährt wird, ist jedoch nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens; hier war nur zu entscheiden, ob der Kläger, der nicht hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG ist, Pflegezulage für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Juli 1953 allein deshalb zu beanspruchen hat, weil sie - mag dies zu Recht oder zu Unrecht geschehen - seit dem 1. August 1953 gewährt wird. Diese Frage war zu verneinen (vgl. BSG 15, 10 ff).

Vom erkennenden Senat war auch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu bestätigen, daß die Versagung der Pflegezulage für die Zeit vor dem 1. August 1953 einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG nicht darstellt; daran ändert nichts, daß die Versorgungsverwaltung vom 1. August 1953 an allen Doppelunterschenkelamputierten, auch wenn sie möglicherweise nicht hilflos sind, die Pflegezulage gewährt. Denn auch der Kläger bezieht seit dem 1. August 1953 die Pflegezulage, obwohl er nach den Feststellungen des LSG von diesem Zeitpunkt an ebensowenig hilflos ist, wie er es vorher gewesen ist (vgl. auch BSG 15, 10, 14).

Nach alledem hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Die Revision ist deshalb unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324576

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