Leitsatz (redaktionell)
Der Kauf von Medikamenten ist auch auf Geschäftsreisen grundsätzlich den unversicherten persönlichen Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzurechnen; Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung wird aber dann anzuerkennen sein, wenn die Krankheit während der Geschäftsreise plötzlich eintritt und der Arbeitnehmer die zur raschen Besserung der Beschwerden erforderlichen Mittel besorgt, um seine Beschäftigung unverzüglich fortsetzen zu können.
Orientierungssatz
Das Aufsuchen der Apotheke durch einen an Verdauungsstörungen leidenden Reisevertreter zwecks Beschaffung eines Abführmittels stellt versicherungsrechtlich eine dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnende Betätigung dar, die er ohne zwingenden betriebsbezogenen Grund in die Arbeitszeit verlegt hat.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Januar 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der in Menden Kreis Iserlohn wohnhafte Kläger war bei einem Unternehmen der Papierverarbeitung als Reisevertreter im Gebiet A beschäftigt. Am Montag, dem 22. August 1966, trat er eine Geschäftsreise durch mehrere Städte seines Bezirks an, um Kunden aufzusuchen. Er nahm auf die morgens beginnende Fahrt seinen Sohn mit, der den Pkw steuerte. Gegen 11 Uhr befand sich der Kläger in N, wo er in der O.-straße ... geschäftlich verhandelte. Nach dem Verlassen dieses Hauses ging er in die in demselben Gebäude befindliche S.-apotheke und kaufte sich hier das Abführmittel Kräuter-Lax, das er wegen seiner seit 1956 bestehenden Verdauungsbeschwerden - Fermentschwäche, chronische Obstipation, starke Blähsucht - ständig benötigte; dieses Medikament war ihm am Samstag zuvor ausgegangen, und er hatte seit drei Tagen keine Verdauung gehabt. Beim Hinausgehen rutschte der Kläger innerhalb der Apotheke aus und erlitt eine Kniescheibenfraktur. Durch Bescheid vom 25. Januar 1967 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung mit der Begründung ab, der Unfallversicherungs(UV) Schutz sei für die Dauer des - ausschließlich der Eigenwirtschaft zuzurechnenden - Aufenthalts in der Apotheke unterbrochen gewesen.
Der Kläger hat zur Begründung seiner hiergegen erhobenen Klage geltend gemacht, das Abführmittel sei zur Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit für den restlichen Arbeitstag erforderlich gewesen; ein Zeitverlust sei durch die Besorgung nicht eingetreten, denn die Verkehrsampel an der Stelle, wo er über die Straße zu seinem Pkw gelangt wäre, habe gerade rot gezeigt, und während dieser Wartepause habe er das Medikament gekauft. Nach einer vom Kläger überreichten ärztlichen Bescheinigung muß er ständig ein Medikament einnehmen, ohne welches er infolge stenocardischer Beschwerden im gastrocardialen Symptomenkomplex nicht arbeitsfähig sei. Das Sozialgericht Dortmund hat durch Urteil vom 10. April 1967 die Klage abgewiesen: Der grundsätzlich den Privatinteressen dienende Kauf eines Medikaments sei nur ausnahmsweise versichert, wenn er unumgänglich sei und in der Absicht geschehe, die Arbeitsfähigkeit für den Rest des Tages zu erhalten. Der Kläger sei aber auch ohne Kräuter-Lax zur Fortsetzung seiner Tätigkeit imstande gewesen, denn er sei über das Wochenende ohne das Mittel ausgekommen, habe es auch am Montagmorgen nicht vor oder sofort nach Dienstantritt in seinem Wohnort gekauft und nur deshalb die S.-apotheke betreten, weil die Fußgängerampel gerade rot zeigte. Ohne die private Besorgung wäre der Kläger überhaupt nicht an die Unfallstelle gelangt.
Mit seiner Berufung hat der Kläger vorgetragen, am Unfalltag habe er schon gegen 9.00 Uhr erhebliche Leibschmerzen verspürt. Sein Sohn habe vergessen, ihm schon in W Kräuter-Lax zu besorgen. Beim Verlassen des Hauses O.-straße ... seien die Beschwerden so stark gewesen, daß er sich unverzüglich das Medikament habe besorgen müssen. Nur deshalb und nicht wegen der gerade auf rot geschalteten Ampel sei er in die S.-apotheke gegangen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 15. Januar 1968 die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Das Aufsuchen der Apotheke könne nicht als eine den UV-Schutz nicht beeinträchtigende rechtlich unwesentliche Unterbrechung der Betriebstätigkeit angesehen werden. Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit und Arbeitskraft gehörten grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich. Ein Ausnahmefall, in dem nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts UV-Schutz anerkannt werden könne (EuM 23, 166; 24, 324; 42, 385), liege hier nicht vor. Die vom Kläger behaupteten ganz erheblichen, die Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigenden Beschwerden rechtfertigten nicht die Annahme einer rechtlich-wesentlichen Betriebsbezogenheit; denn die Besorgung des Medikaments sei nicht erst während der Arbeitszeit zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit plötzlich erforderlich geworden; vielmehr sei es für den Kläger, der, um arbeitsfähig zu sein, täglich Kräuter-Lax einnehmen mußte, voraussehbar gewesen, daß er das Medikament am Unfalltag - einerlei ob er dann arbeitete oder nicht - brauchte, zumal da es ihm über das Wochenende ausgegangen war. Er habe also nur willkürlich den Zeitpunkt der Beschaffung des Medikaments in die Arbeitszeit verlegt, obwohl er wußte, daß ohne regelmäßige Einnahme des Mittels Beschwerden auftreten würden. Unter dem Gesichtspunkt einer geringfügigen Unterbrechung bleibe der UV-Schutz nur erhalten, solange sich der Beschäftigte im örtlichen Bereich der Straße aufhalte (BSG 20, 219; SozR Nr. 5 zu § 543 RVO aF). Demnach wäre der UV-Schutz erst nach dem Verlassen der Apotheke beim Betreten der Straße wieder aufgelebt. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 18. März 1968 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. April 1968 Revision eingelegt und sie am 16. Mai 1968 folgendermaßen begründet: Das LSG habe es rechtsirrtümlich auf ein - angeblich - fahrlässiges Verhalten des Klägers abgestellt. Selbst wenn es aber auf die Voraussehbarkeit ankäme, hätte das LSG seine Sachaufklärungspflicht verletzt; durch Beweiserhebung wäre festzustellen gewesen, daß die Leibschmerzen - unter Hinzutritt von Herzbeschwerden - plötzlich und unerwartet so stark wurden, daß der Kläger nach seiner Erfahrung mit einer so kritischen Situation nicht rechnen konnte. Durch sofortige Beschaffung und Einnahme des Medikaments habe er sich Linderung verschaffen müssen, um für die bevorstehenden Verhandlungen seine Arbeitskraft zu erhalten; von einer willkürlichen Wahl des Zeitpunkts könne keine Rede sein. Das LSG habe auch die erforderlichen Feststellungen unterlassen, ob der Kläger sich das Medikament außerhalb der Arbeitszeit besorgen konnte; als Reisevertreter, der die ganze Woche außerhalb seines Wohnsitzes unterwegs sei, könne er das nur während der Arbeitszeit erledigen, denn während seiner Freizeit - am späten Abend - hätten die Apotheken geschlossen. Eine Pflicht zur Vorratshaltung von Medikamenten bestehe nicht. Das Klagebegehren sei nach der Rechtsprechung (BSG 8, 48; 12, 254; 20, 219; Urt. vom 9. Dezember 1964, BG 1965, 196) begründet. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zur Rentengewährung wegen des Unfalles vom 22. August 1966 zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Revision.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Klägers ist statthaft gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie hat jedoch keinen Erfolg.
In dem Zeitpunkt, als er den streitigen Unfall erlitt, befand sich der Kläger auf einer Geschäftsreise. Während einer solchen Reise ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats der UV-Schutz nicht schon deshalb ohne weiteres gegeben, weil der Beschäftigte sich in einer fremden Stadt aufhalten muß; vielmehr kommt es darauf an, ob seine Betätigung jeweils mit dem Beschäftigungsverhältnis rechtlich wesentlich zusammenhängt (vgl. BSG 8, 48). Fehlt es bei einer zum Unfall führenden privaten Betätigung des Reisenden an diesem inneren Zusammenhang, so kann der UV-Schutz auch nicht deshalb bejaht werden, weil sie in örtlicher und zeitlicher Hinsicht den Gesamtablauf der Geschäftsreise nicht nachhaltig beeinflußt hat.
Mit Recht hat es das LSG somit als bedeutsam erachtet, daß die Unfallstelle sich eindeutig außerhalb des Weges befand, den der Kläger aus betrieblichen Gründen nach dem Kundenbesuch vom Hause O.-straße ... zu seinem auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellten Pkw zurücklegen mußte. Der Verkaufsraum der S-Apotheke war allerdings dieser Wegestrecke dicht benachbart, doch hätte der Kläger ihn nicht betreten, wenn er nicht beabsichtigt hätte, sich dort ein Medikament zu kaufen; dieser Kauf konnte nicht "im Vorbeigehen" erledigt werden, vielmehr war er dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger - wenn auch nur vorübergehend - sich aus dem Straßenbereich entfernte. Der UV-Schutz wäre also erst mit dem Verlassen der Apotheke wieder aufgelebt (vgl. SozR Nr. 5 zu § 543 RVO aF; BSG 20, 219, 222). Eine andere versicherungsrechtliche Beurteilung wäre nur möglich, wenn die Besorgung des Medikaments mit der Durchführung der Geschäftsreise wesentlich zusammengehangen hätte.
Dies hat das LSG mit zutreffenden Erwägungen verneint. Es geht mit Recht davon aus, daß Maßnahmen zur Erhaltung von Gesundheit und Arbeitskraft grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich gehören. Ausnahmen von diesem Grundsatz lassen sich rechtfertigen, wenn die Maßnahme dazu dient, die durch Gesundheitsstörungen erschwerte oder gefährdete Fortsetzung der Arbeit zu ermöglichen. So wird insbesondere der UV-Schutz anzuerkennen sein, wenn ein Geschäftsreisender - unterwegs von plötzlich einsetzenden Schmerzen, Kreislaufstörungen oder dergleichen überrascht - sich das zur raschen Behebung dieser Symptome erforderliche Mittel besorgt, um die geschäftlichen Verhandlungen unverzüglich fortsetzen zu können. Das Bestreben der Revision, die Lage, in der sich der Kläger am 22. August 1966 beim Eintritt des Unfalls befand, aus diesem Blickwinkel darzustellen, überzeugt nicht. Die Verdauungsstörungen, an denen der Kläger schon seit zehn Jahren litt, machten die regelmäßige Einnahme von Abführmitteln erforderlich; bei Beachtung dieser Therapie war er offenbar nicht gehindert, seinen Beruf als Reisevertreter auszuüben. Er wäre also insbesondere auch am Unfalltag nicht von den - in den Gründen des angefochtenen Urteils durchaus berücksichtigten - heftigen Beschwerden heimgesucht worden, wenn er an den vorangehenden Tagen die Tabletten eingenommen hätte, auf deren ständigen Gebrauch er seit langem angewiesen war. Daß er die letzte Packung Kräuter-Lax schon am Sonnabend verbraucht hatte, kann ihn nicht daran gehindert haben, sich noch vor Antritt der Geschäftsreise wieder damit zu versorgen; bei ihrem Vorbringen, während der Freizeit des Klägers hätten die Apotheken geschlossen, übersieht die Revision, daß in Städten von der Größe M (28.000 Einwohner) bei den Apotheken ein Sonntags- und Nachtdienst eingerichtet zu sein pflegt; es kann also kein ernstlicher Zweifel daran aufkommen, daß dem Kläger die Besorgung von Kräuter-Lax im Laufe des Wochenendes ohne weiteres möglich gewesen wäre. Damit aber tritt - wenn das Besorgen und Einnehmen des Abführmittels erst im Unfallzeitpunkt überhaupt geeignet gewesen sein sollte, die Beschwerden alsbald zu lindern - die betriebliche Veranlassung hierfür so weit in den Hintergrund, daß ein wesentlicher innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht mehr zu erkennen ist. Nach natürlicher Betrachtungsweise handelt es sich vielmehr beim Aufsuchen der S-Apotheke um eine gewohnheitsmäßige, dem persönlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnende Verrichtung, welche dieser ohne zwingenden betriebsbezogenen Grund in die Arbeitszeit verschoben hatte, statt sie zu einem beliebigen Zeitpunkt vor Antritt der Geschäftsfahrt zu erledigen. Diese Betrachtungsweise bedeutet - entgegen dem Revisionsvorbringen - keine unzulässige Handhabung des Verschuldensprinzips, denn sie stellt es nicht auf eine fahrlässige Herbeiführung des Unfallereignisses durch den Kläger ab.
Die Revision ist hiernach unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen