Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Minderung der Erwerbsfähigkeit eines Kaffeegroßrösters und Lebensmittelhändlers, bei dem ein Arbeitsunfall den Verlust des Geruchsvermögens sowie eine Änderung seines psychischen Zustandes zur Folge hatte.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1968 wird unter Aufhebung der Kostenentscheidung dahin geändert, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 24. Februar 1965 als unzulässig verworfen wird.
Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu 2/3 zu erstatten.
Gründe
I
Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch Unfallfolgen wegen des Verlustes des Geruchsvermögens gemäß § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) höher zu bewerten ist.
Der 1924 geborene Kläger wurde im Jahre 1941 nach Ablegung der Reifeprüfung Berufsoffizier. Nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1950 legte er eine 1 1/2-jährige kaufmännische Lehre zurück, welche er mit der Gehilfenprüfung abschloß. Alsdann arbeitete er im väterlichen Betrieb, einem Lebensmittelgeschäft und einer Kaffeegroßrösterei. Diesen übernahm er im Jahre 1957.
Am 3. April 1963 erlitt der Kläger auf einer Geschäftsfahrt einen schweren Verkehrsunfall. Wegen dessen Folgen bewilligte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 24. August 1964 vorläufige Rente von 30 v. H. der Vollrente. An diesem Grad der MdE hielt die Beklagte im Bescheid vom 7. Oktober 1964 fest, in welchem sie den Jahresarbeitsverdienst neu feststellte.
Mit der Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, daß seine Erwerbsfähigkeit wegen des Verlustes des Riech-und Geschmacksvermögens zu niedrig bewertet worden sei. Er habe wegen der Unfallfolgen das vom Vater übernommene Unternehmen nicht mehr auf derselben Höhe halten können. Der Gesamtumsatz des Groß- und Einzelhandels sei wesentlich zurückgegangen. Dies gelte insbesondere für den Umsatz aus der Rösterei und sei letztlich eine Folge des Verlustes des Riech- und Geschmacksvermögens. Er habe eine ausgeprägte Begabung für das Riechen und Schmecken des Kaffees besessen. Der Beruf eines Kaffeerösters und Kaffeegroßhändlers erfordere, daß der Betriebsinhaber täglich Geruchs- und Geschmacksproben des gerösteten und gemischten Kaffees nehme. Dieser sei nicht nur nach Herkunft und Ernte verschieden; er falle auch mit jeder versandten Partie unterschiedlich aus. Somit könnten niemals fest erprobte Mischungsverhältnisse angewandt werden. Es müßten vielmehr bei jedem Anbruch einer neuen Partie wiederum Geruchs- und Geschmacksproben entnommen werden, um das für den Handel unentbehrliche unveränderte Aroma der Mischung bei gleicher Preislage zu erhalten. Dazu seien Röstton und Röstgrad harmonisch abzustimmen, was ebenfalls eine besondere Erfahrung voraussetze.
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat durch Urteil vom 24. Februar 1965 die Beklagte- unter Änderung der Bescheide vom 24. August 1964 und 7. Oktober 1964 bei Klagabweisung im übrigen - verurteilt, vorläufige Rente von 50 v. H. der Vollrente zu gewähren.
Das SG ist der Auffassung, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens durch den Verlust des Riechvermögens und die Beeinträchtigung des Geschmackssinns nicht gemindert werde, sich jedoch die übrigen Unfallfolgen schwerwiegender auf die Erwerbsfähigkeit auswirkten als von der Beklagten angenommen. Nach den Angaben des Klägers und dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei der Umsatzrückgang im Kaffeehandel mit dem der übrigen vom Kläger verkauften Ware parallel verlaufen. Bereits dieser Umstand zeige, daß der Umsatzrückgang im Kaffeegeschäft auch auf unfallfremde Ursachen zurückzuführen sei; der Rückschlag im Kaffeegroßhandel sei eingetreten, weil die Bundeswehreinheiten inzwischen zentral beliefert würden und die Geschäftsverbindungen zu den schwimmenden Einheiten infolge mangelnder Kontaktpflege des Klägers verlorengegangen seien. § 581 Abs. 2 RVO komme dem Kläger im übrigen deshalb nicht zugute, weil der wirtschaftliche Nachteil, soweit er Unfallfolge sei, gering sei und durch sonstige Fähigkeiten des Klägers, deren Nutzung ihm zugemutet werden könne, ausgleichbar sei. Der Kläger sei infolge seiner hervorragenden Fähigkeiten im Lebensmittelgroß- und Einzelhandel imstande, die ihm auf dem Kaffeesektor erwachsenen wirtschaftlichen Nachteile auszugleichen.
Vor Zustellung des erstinstanzlichen Urteils stellte die Beklagte durch Bescheid vom 24. März 1965 vom 1. Mai 1965 an die Dauerrente unter Zugrundelegung einer mdE um 40 v. H. fest.
Gegen das Urteil des SG hat der Kläger Berufung beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) mit folgender Begründung eingelegt: Der Verlust des Geruchssinns und die Beeinträchtigung des Geschmacksvermögens hätten für ihn auch Nachteile im Feinkosthandel zur Folge. Er könne hier Reklamationen nicht mehr nachprüfen und habe Schwierigkeiten beim Wareneinkauf. Somit sei er außerstande, die Verluste in der Kaffeebranche anderweitig auszugleichen. Er habe seine beiden Einzelhandelsgeschäfte im Jahre 1966 verkauft und betreibe nur noch ein Lebensmittelgroßhandelsgeschäft mit Kaffeerösterei. In dieser beschäftige er den Angestellten Fürst als in jeder Hinsicht verantwortlichen Mann.
Durch Bescheid vom 7. August 1967 setzte die Beklagte die Dauerrente wegen Besserung der Unfallfolgen vom 1. Oktober 1967 an auf 30 v. H. herab.
Das Schleswig-Holsteinische LSG hat durch Urteil vom 10. Dezember 1968 die Entscheidung des SG sowie die Bescheide der Beklagten vom 24. August 1964, 7. Oktober 1964, 24. März 1965 und 7. August 1967 geändert. Es hat die Beklagte verurteilt, vorläufige Rente nach einer MdE um 55 v. H. bis zum 30. April 1965 sowie Dauerrente für die Zeit vom 1. Mai 1965 bis zum 30. September 1967 unter Zugrundelegung einer MdE um 60 v. H. und für die Zeit danach nach einer MdE um 50 v. H. zu gewähren.
Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt: Die vorläufige Rente sei zu niedrig festgesetzt. Durch die Prellung und Zerrung der Halswirbelsäule sowie die geringfügige Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 10 v. H., durch die geringfügige beiderseitige Innenohrschwerhörigkeit und die Gleichgewichtsstörung um 15 v. H., durch den Folgezustand nach Hirnquetschung mit Hirnleistungsschwäche und leichter organischer Wesensänderung sowie durch die Schädigung der Riechnerven, wodurch es zum Verlust des Riechvermögens und zu einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung gekommen sei, um 30 v. H. gemindert. Die gesamte MdE sei unter Zugrundelegung des Grundsatzes der abstrakten Schadensbemessung sowie unter Berücksichtigung des rein medizinischen Sachverhalts entgegen der Auffassung des SG zwar nur auf 45 v. H. zu schätzen. Dieser Grad der MdE sei jedoch nach Maßgabe des § 581 Abs. 2 RVO um 10 v. H. zu erhöhen. Der Kläger könne auf beiden Nasenhälften keine Geruchsqualitäten mehr wahrnehmen; er habe also den Geruchssinn verloren. Dagegen seien ihm die Geschmacksqualitäten, welche der Mensch unterscheide (sauer, salzig, bitter, süß), erhalten geblieben. Diese reichten aber für die Herstellung von Kaffeemischungen gleichbleibenden Aromas nicht aus. Die Duftqualitäten würden allein vom Geruchssinn wahrgenommen, den der Kläger aber nicht mehr besitze. Infolgedessen könne er seine besondere Begabung für die Auswahl, die gleichbleibende Zusammensetzung und das Rösten der von ihm hergestellten Kaffeemischung nicht mehr nutzen. Diese habe jedoch die Qualitätsgarantie für seinen bei der Kundschaft eingeführten "S-Kaffee" bedeutet. Dessen Qualität sei nach dem Unfall, da der Kläger nicht mehr wie früher die subtilen für die Kaffeequalität entscheidenden Maßnahmen habe wahrnehmen können, nicht mehr gleichbleibend gewesen; dies habe zu Beanstandungen geführt. Darauf, ob der Ausfall des Klägers in seiner Rösterei durch die Einstellung besonders begabter, auf den Charakter des S-Kaffees einzuspielender fremder Hilfskräfte wettgemacht werden könne, könne es nicht ankommen, weil nach § 581 Abs. 2 RVO nur der Ausgleich solcher infolge des Unfalls nicht mehr nutzbarer Kenntnisse und Erfahrungen maßgeblich sei, welcher durch andere Fähigkeiten des Verletzten erreichbar sei. Es genüge nicht, wenn es dem Verletzten gelinge, nach dem Unfallereignis infolge glücklicher Umstände bei der Erschließung der Kenntnisse und Erfahrungen anderer einen wirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Die Gründe für den Umsatzrückgang im Kaffeegeschäft seien daher unbeachtlich. Dem Kläger könne auch nicht zugemutet werden, einen Ausgleich durch Ausbau des Lebensmittelgroßhandelsgeschäfts zu suchen und seinen Kaffeegroßhandel nebst Rösterei zu vernachlässigen oder aufzugeben, weil es sich bei diesen um einen im Geschäftsbereich des Klägers alt eingeführten Wirtschafts- und Erwerbszweig handele, welcher - von den Kenntnissen und besonderen Erfahrungen des Klägers sowie dessen Begabung abhängig - im Gesamtunternehmen von Gewicht sei. Die Dauerrente sei unter Berücksichtigung dieser Umstände ebenfalls zu niedrig festgesetzt worden. Nach Würdigung der ärztlichen Gutachten sei die gesamte MdE nunmehr mit 50 v. H. zu bewerten, weil - bei im übrigen unverändertem Folgezustand - eine gewisse Verschlechterung des psychischen Erscheinungsbildes eingetreten sei, welches sich in affektiver Abstumpfung und Gleichgültigkeit, deutlicher Ermüdbarkeit und Konzentrationsschwäche sowie vor allem in einer Verminderung des Antriebs äußere. Unter besonderer Berücksichtigung der im Falle des Klägers nach § 581 Abs. 2 RVO maßgeblichen Umstände sei sonach eine Gesamt-MdE von 60 v. H. angemessen. Der Bescheid vom 7. August 1967 sei ebenfalls rechtswidrig, weil eine Besserung der Unfallfolgen nicht in dem von der Beklagten zugrunde gelegten Ausmaß, sondern allein durch Wegfall der Gleichgewichtsstörungen und der Beschwerden im Schultergelenk eingetreten sei. Die Dauerrente hätte daher nur auf 50 v. H. der Vollrente herabgesetzt werden dürfen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
Sie wende sich allein dagegen, daß das Berufungsgericht bei der Schätzung des Grades der MdE § 581 Abs. 2 RVO wegen des Verlustes des Geruchssinns für anwendbar gehalten habe. Das LSG gehe davon aus, daß der Kläger infolge des Unfalls eine besondere Begabung nicht mehr nutzen könne. § 581 Abs. 2 RVO stelle jedoch nicht darauf, sondern auf den Verlust von besonderen Kenntnissen und Erfahrungen ab. Geruchs- und Geschmackssinn seien angeborene Anlagen und Eigenschaften, welche man nicht erst im Laufe des Berufslebens erwerben könne. Im übrigen habe das Berufungsgericht eine entsprechende tatsächliche Feststellung im Falle des Klägers nicht getroffen. Der Kläger sei wohl von Kindheit an mit den besonderen Bedürfnissen der väterlichen Kaffeerösterei vertraut gewesen, obwohl er zunächst einen anderen Beruf, nämlich den eines Berufsoffiziers, ausgeübt habe. Nach seinen Berufswechsel habe er mit dem Eintritt in das väterliche Geschäft eine angeborene Eigenschaft ausgenutzt. § 581 Abs. 2 RVO sei aber auch deshalb nicht anwendbar, weil der Kläger nach dem Unfall die bei ihm vorhandene besondere berufliche Fähigkeit zur Betriebsführung und zum Personaleinsatz dazu verwendet habe, den Angestellten Fürst auszubilden und ihn an seiner Stelle in der Kaffeerösterei einzusetzen. Vom Kläger sei ferner, da er den Beruf des Lebensmittelkaufmanns erlernt habe und einen Lebensmittelgroßhandel betreibe, zu verlangen, daß er seine vielfältige unternehmerische Befähigung dazu nutze, auf andere aus seiner Lebensstellung sich bietende Möglichkeiten auszuweichen und damit etwaige durch Unfallfolgen eingetretene Nachteile auszugleichen. Mit Rücksicht darauf, daß allein der Kläger das Urteil des SG angefochten habe, könne im Revisionsverfahren allerdings nur die Herabsetzung der Dauerrente um 10 v. H., dagegen der vorläufigen Rente lediglich um 5 v. H. begehrt werden.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Fähigkeit, Kaffee am Geruch nach 15 Qualitätsmerkmalen zu unterscheiden, was von Kaffeeröstern und -probierern verlangt werde, falle niemandem in den Schoß, sondern müsse trotz aller Begabung erlernt werden. Er habe sich erst durch Ausbildung, nämlich durch Besuch mehrerer Kurse in einem kaffeetechnischen Labor, und Differenzierung seiner natürlichen Gaben seine durch den Unfall verlorengegangene Sensualität angeeignet, wie dies auch bei Lebensmittelprüfern der Fall sei, und diese beruflich genutzt. Ihr Verlust könne durch eine Ersatzkraft nicht ausgeglichen werden. Die Aufgabe des Kaffeehandels, welcher das Hauptgeschäft gewesen sei, sei nicht zumutbar. Die Intensivierung der kaufmännischen Fähigkeiten auf anderen Gebieten sei durch Unfallfolgen - Hirnleistungsschwäche mit negativer Wesensveränderung und Verminderung der Schaffenskraft - unmöglich gemacht worden. Inzwischen habe er einen völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlitten und Konkursantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene LSG-Urteil dahin abzuändern, daß der Beklagten auferlegt wird, dem Kläger eine vorläufige Rente für die Zeit vom 20. Mai 1963 bis zum 30. April 1965 in Höhe von 50 v. H., des weiteren eine Dauerrente für die Zeit vom 1. Mai 1965 bis zum 30. September 1967 in Höhe von gleichfalls 50 v. H. und für die daran anschließende Zeit in Höhe von 40 v. H. zu gewähren, hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision hatte nur zum Teil Erfolg.
Das Rechtsmittel der Beklagten ist insoweit begründet, als das Berufungsgericht nicht in der Sache hätte entscheiden dürfen, soweit die vorläufige Rente streitig ist. Die Frage der Zulässigkeit der Berufung ist bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfen (BSG 1, 126, 128). Die - nur vom Kläger eingelegte - Berufung war, soweit es um die Rechtmäßigkeit der Bescheide vom 24. August 1964 und 7. Oktober 1964 ging, nach § 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Ihre Zulässigkeit ergibt sich nicht aus § 150 SGG. Einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Erstgerichts hat der Kläger nicht gerügt, so daß seine Berufung nicht nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig ist. Die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG sind nicht gegeben; das Berufungsgericht hat die MdE lediglich anders bewertet als das SG.
Über die Bescheide vom 24. März 1965 und 7. August 1967, durch welche die Dauerrente erstmals festgestellt bzw. geändert worden ist, hat das LSG zu Recht mitentschieden. Diese sind nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens des Berufungsgerichts geworden. Dies trifft auch auf jenen, die Dauerrente erstmals feststellenden Bescheid zu, obwohl er zu einem Zeitpunkt ergangen ist, in dem das erstinstanzliche Urteil zwar verkündet, aber noch nicht zugestellt gewesen ist. Obwohl die Sache bei Erlaß dieses Bescheides mangels Einlegung eines Rechtsmittels beim Berufungsgericht noch nicht angefallen war, ist es aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit, welcher § 96 SGG nach seiner Entstehungsgeschichte insbesondere dienen soll, geboten, mit der Einlegung der Berufung den Bescheid vom 24. März 1965 als Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG anzusehen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15.8.1969, Band I, S. 242 g ff; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., Stand März 1970, Anm. 2 b zu § 96 SGG, S. II/54; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Stand März 1970, Randnr. 8 zu § 96 SGG).
Der Anwendung des § 96 SGG auf die Bescheide vom 24. März 1965 und 7. August 1967 steht nicht entgegen, daß die Berufung nach § 145 Nr. 3 SGG ausgeschlossen ist (BSG 4, 24, 26; 5, 158, 162; 18, 84, 85). Da diese Verwaltungsakte, wie das LSG mit Recht entschieden hat, nicht kraft Berufung, sondern durch Klage Gegenstand des Verfahrens vor dem Berufungsgericht geworden sind (BSG 18, 231, 234 ff; Brackmann, aaO, S. 242 t mit umfangreichen Nachweisen), stellt sich hier die Frage nicht, ob insoweit die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist (BSG 18, 231, 235).
Der Auffassung des Berufungsgerichts, daß die Beklagte die Dauerrente zu niedrig festgesetzt habe, weil beim Kläger der Verlust des Geruchssinns sich auf seine ihm nach dem Unfall verbliebene Fähigkeit zum Erwerbs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens besonders nachteilig ausgewirkt habe, ist im Ergebnis zuzustimmen.
Die Revision stellt nicht in Abrede, daß der Kläger vor dem Unfall ein ausgeprägtes Geruchsvermögen besessen und dieses für seine im Rahmen seiner Kaffeerösterei ausgeübte Tätigkeit eines Kaffeeprüfers bewußt genutzt hat. Mit ihrer nicht näher begründeten Meinung, es handele sich insoweit lediglich um die Ausnutzung einer angeborenen Begabung, verkennt sie, daß ein derartiges, über das Normalmaß weit hinausgehendes Unterscheidungsvermögen erst nach entsprechender Schulung und langjähriger beruflicher Erfahrung erworben wird, um den an einen Kaffeeprüfer zu stellenden Anforderungen, gleichgültig ob dieser Beruf in abhängiger Stellung oder selbständig ausgeübt wird, gerecht zu werden. Diese Fähigkeit ist dem Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts durch den Unfall verlorengegangen. Der Verlust der Geruchsempfindung hatte in diesem Fall nicht lediglich eine Einschränkung in der Ausübung des Berufs zur Folge, sondern zwang zu dessen Aufgabe. Dies würde allerdings nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats für die Anwendbarkeit des § 581 Abs. 2 RVO nicht ohne weiteres genügen (BSG 23, 253, 256). Als wesentliches Merkmal für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE nach dieser Vorschrift zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat der Senat vielmehr insbesondere das Alter des Verletzten (BSG 4, 294, 299; SozEntsch. III/2, BSG IV, RVO § 559 a Nr. 6), die Dauer der Ausbildung (SozEntsch. aaO, Nr. 7) sowie vor allem auch die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit (BSG 4, 294, 298; SozEntsch aaO, Nr. 6) und auch den Umstand bezeichnet, ob die bisher verrichtete Beschäftigung eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (SozEntsch aaO, Nr. 7; Breithaupt 1957, 1008, 1015). Der Kläger hat die übliche kaufmännische Lehre für den Lebensmitteleinzelhandel zurückgelegt. Den Beruf eines Lebensmittelkaufmanns hat er rund 10 Jahre lang ausgeübt. Daneben hat er die Fähigkeit entwickelt, die verschiedenen Kaffeesorten zu unterscheiden und ein ständig gleichbleibendes Aroma der von ihm hergestellten und im Handel unter einem besonderen Namen vertriebenen Kaffeemischung zu gewährleisten; von dieser Fähigkeit hat der Kläger im Erwerbsleben ebenfalls etwa 10 Jahre lang Gebrauch gemacht. Ihr Verlust durch Unfallfolgen würde sich beim Kläger, würden bei ihm nicht zusätzliche besondere ungünstige Verhältnisse vorliegen, unter Berücksichtigung des Umstandes, daß er den Beruf des Lebensmittelkaufmanns erlernt und diesen auch ausgeübt hat, normalerweise nicht spezifisch im Sinne der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 23, 253, 255) ausgewirkt haben, zumal da der Kläger den Unfall mit 39 Jahren, also in einem Alter erlitten hat, in welchem eine berufliche Anpassung zumutbar ist (vgl. BSG 4, 294, 298; SozEntsch. aaO, Nr. 6). Eine solche ist dem Kläger jedoch, wie sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt, nurmehr in sehr eingeschränktem Maße möglich, da sich bei ihm infolge des Unfalls eine affektive Abstumpfung und Gleichgültigkeit, eine deutliche Ermüdbarkeit und Konzentrationsschwäche sowie vor allem eine Verminderung der Antriebskraft entwickelt haben. Infolge dieser auf den Unfall zurückzuführenden Krankheitserscheinungen wirkt sich der unfallbedingte Verlust der vom Kläger in jahrelanger Praxis sich angeeigneten Fähigkeiten eines Kaffeeprüfers spezifisch auf seine ihm nach dem Unfall noch verbliebene Fähigkeit aus, auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse, Kenntnisse und Fähigkeiten einen angemessenen Verdienst zu erzielen. Unter diesen besonders gelagerten Umständen trifft die Auffassung des LSG im Ergebnis zu, daß beim Kläger eine unbillige Härte im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO vorliegt. Dies hat das Berufungsgericht bei der Bewertung der MdE mit Recht angemessen und nicht etwa ausschlaggebend berücksichtigt (BSG 4, 294, 299). Das Maß der Angemessenheit, dem das LSG durch einen "Zuschlag" von etwa 10 v. H. Rechnung getragen hat, läßt angesichts der im vorliegenden Fall vorhandenen Gegebenheiten keine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen für die Ausübung des richterlichen Ermessens erkennen (BSG 4, 147, 149).
Entgegen der Meinung der Revision steht der Anwendbarkeit des § 581 Abs. 2 RVO nicht entgegen, daß der Kläger nach dem Unfall versucht hat, durch eine Ersatzkraft die ihm verlorengegangene Fähigkeit des Kaffeeprüfens auszugleichen. Wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat, kommt es begrifflich auf die Erwerbsfähigkeit des "Verletzten" an. Maßgeblich ist sonach die dem Versicherten nach einem Arbeitsunfall verbliebene Fähigkeit, durch eigene Arbeitsleistung einen Erwerb zu erzielen (s. auch Siefart, Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete des Versicherungswesens, 3. Aufl., 1908, S. 187). § 581 RVO macht insoweit zwischen Unternehmern und lohnabhängig Beschäftigten keinen Unterschied.
Die Revision der Beklagten ist sonach unbegründet, soweit der Rechtsstreit um die Höhe der Dauerrente geführt wird.
Das angefochtene Urteil war somit dahin zu ändern, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG, welches allein über die vorläufige Rente entschieden hat, als unzulässig zu verwerfen war. Im übrigen war die Revision zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten nach § 193 SGG war mit Rücksicht auf das teilweise Obsiegen der Beklagten in der Revision, aber auch im Hinblick darauf, daß in den Vorinstanzen den Prozeßanträgen des Klägers nicht in vollem Umfang entsprochen worden ist, neu zu treffen. Es erschien gerechtfertigt, daß die Beklagte dem Kläger 2/3 seiner ihm in allen Rechtszügen erwachsenen außergerichtlichen Kosten erstattet.
Fundstellen