Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf dem Weg zur Esseneinnahme bei auswärtiger Beschäftigung
Orientierungssatz
Ebenso wie es einem Beschäftigten ohne Beeinträchtigung seines Versicherungsschutzes freisteht, während der Arbeitspause eine außerhalb des Betriebes liegende Gaststätte aufzusuchen, wobei ihm die Wahl der Gaststätte freisteht, der Versicherungsschutz nur dann beeinträchtigt wird, wenn die Gaststätte unverhältnismäßig weit von der Arbeitsstätte entfernt ist (vgl BSG 1977-04-26 8 RU 76/76 = SozR 2200 § 550 Nr 28) bleibt es auch dem "auswärts Beschäftigten" unbenommen, unter den zur Verfügung stehenden Gaststätten zu wählen. Nicht mehr versichert ist der Beschäftigte freilich dann, wenn eine Gaststätte aufgesucht wird, die von der Unterkunft unverhältnismäßig weit entfernt ist, obwohl in der näheren Umgebung gleichwertige Gaststätten zur Einnahme angemessener Mahlzeiten zur Verfügung stehen. Ebenso bestünde kein Versicherungsschutz, wenn der Beschäftigte eine bestimmte Gaststätte aufsucht, ohne daß die Einnahme der üblichen Mahlzeit dafür der wesentliche Grund ist.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist ein Witwenrentenanspruch der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der Ehemann der Klägerin (R) hatte mit dieser zusammen seinen Wohnsitz in Berlin. Er war in dem Unternehmen AEG in Berlin beschäftigt. Im Juli 1975 befand er sich zum Montageeinsatz auf einer Baustelle seines Beschäftigungsunternehmens in der Nähe von Langenprozelten bei Lohr am Main. Er hatte in dem 6 km entfernten Ruppertshütten ein Schlafzimmer ohne Kochmöglichkeit gemietet. Am 29. Juli 1975 verließ er nach beendeter Arbeit (19.00 Uhr) zwischen 19.00 Uhr und 19.50 Uhr die Baustelle, fuhr zu seiner Unterkunft, wo sich die Klägerin zu Besuch aufhielt, holte diese ab und fuhr mit ihr - an der Baustelle vorüber - in das hiervon 4 km entfernt in entgegengesetzter Richtung liegende Langenprozelten. Dort nahmen beide das Abendessen ein. Auf dem Rückweg verunglückten beide mit dem Pkw des R kurz vor Ruppertshütten gegen 21.50 Uhr. R wurde dabei tödlich verletzt. Ob er zur Unfallzeit Alkohol im Blut hatte, wurde nicht festgestellt.
Die Beklagte lehnte es ab, den Unfall zu entschädigen, weil R sich auf dem Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Verrichtung befunden habe. Durch den etwa zweistündigen nichtbetriebsbedingten Aufenthalt in der Gaststätte sei im übrigen der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gelöst worden (Bescheid vom 24. Juni 1976).
Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Februar 1978). Der Weg, auf dem R verunglückt sei, sei seiner privaten Sphäre zuzurechnen. Der Heimweg von der Arbeitsstätte sei beendet gewesen, als er seine Unterkunft in Ruppertshütten erreicht gehabt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat das Urteil des SG und den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes eine Witwenrente zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 27. Februar 1979).
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO). R habe erkennbar bereits die "Feierabendbeschäftigung" begonnen. Er sei mit seiner Ehefrau, der Klägerin, zum Abendessen gefahren und habe sich damit rein persönlichen Belangen gewidmet. Im übrigen sei auch die zurückgelegte Wegstrecke von insgesamt 16 km zu lang, um noch einen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit bejahen zu können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin
vom 27. Februar 1979 aufzuheben und die
Berufung der Klägerin gegen das Urteil des
Sozialgerichts Berlin vom 22. Februar 1978
zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Der Ehemann der Klägerin (R) ist an den Folgen eines Arbeitsunfalles verstorben, so daß die Klägerin Anspruch auf die beantragte Witwenrente hat (§ 589 Abs 1, § 590 Abs 1 und 2 RVO).
Mit Recht hat das LSG einen Arbeitsunfall des Versicherten nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO bejaht. Der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinem Urteil vom 23. Juni 1977 (SozR 2200 § 548 Nr 33) aufgrund der von der Rechtsprechung des BSG entwickelten und im Schrifttum übereinstimmend vertretenen Grundsätze zum Versicherungsschutz bei betriebsbedingtem Aufenthalt außerhalb des Wohnortes entschieden, in diesen Fällen bestehe Versicherungsschutz auf dem Weg zur Einnahme einer Mahlzeit, wenn eine nicht unverhältnismäßig weit entfernte Gaststätte aufgesucht werde. Diese Rechtsauffassung wird von dem erkennenden Senat geteilt. Auch die Beklagte zieht sie mit ihrer Revision nicht in Zweifel. Sie meint nur, der hier zu beurteilende Sachverhalt werde nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht mehr von dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz erfaßt. Dem ist nicht zuzustimmen. R war, als er tödlich verunglückte, versichert.
Er ist allerdings nicht auf einem nach § 550 Abs 1 RVO versicherten Weg von oder zu dem Ort der Beschäftigung verunglückt. Dieser Weg war beendet, als er am Unfalltag nach Verlassen der Betriebsstätte seine Unterkunft in Ruppertshütten erreicht hatte. Spätere, dem privaten Bereich zuzurechnende Verrichtungen, wozu auch die Einnahme von Mahlzeiten gehört und die Wege dorthin und zurück, sind grundsätzlich nicht versichert. Befindet sich ein Beschäftigter aber außerhalb des räumlichen Bereichs, innerhalb dessen er sich täglich von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte und zurückbegibt, dh etwa wie hier "auf Montage", so erstreckt sich der Unfallversicherungsschutz auch auf bestimmte dem privaten Bereich zuzurechnende Verrichtungen (BSG, aaO, mit zahlreichen Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum). Voraussetzung ist, daß die jeweilige Verrichtung noch dem Dienstgeschäft zuzurechnen ist. Das ist der Fall, wenn die Verrichtung mit dem Aufenthalt an dem fremden Ort notwendigerweise verbunden ist. Es muß sich also um Verrichtungen handeln, denen sich der Reisende bei normalem Lebenslauf unter den jeweiligen örtlichen Verhältnissen nicht entziehen kann, wobei der Kreis solcher Verrichtungen nicht zu eng und der Gesamtsituation angepaßt zu ziehen ist. Diese Grenze ist dann überschritten, wenn für die Verrichtung kein durch den dienstlichen Aufenthalt bedingter oder notwendiger Anlaß besteht (BSGE 39, 180, 182, 183). Nimmt ein Beschäftigter, der sich beschäftigungsbedingt an einem "fremden Ort" aufhalten muß, seine Mahlzeiten in einer Gaststätte ein, so sind die Wege von der Unterkunft dorthin und zurück auch dann versichert, wenn er in der Unterkunft selbst, etwa in einem Hotel, die Möglichkeit hat zu essen (BSG, aaO). Bei R war das nicht so. Er war vielmehr gezwungen, außerhalb seiner Unterkunft seine warmen Mahlzeiten einzunehmen. Auf solchen Wegen ist der Versicherte nur dann nicht versichert, wenn sie überwiegend aus privaten - eigenwirtschaftlichen - Gründen angetreten werden. Ebenso wie es einem Beschäftigten ohne Beeinträchtigung seines Versicherungsschutzes freisteht, während der Arbeitspause eine außerhalb des Betriebes liegende Gaststätte aufzusuchen, wobei ihm die Wahl der Gaststätte freisteht, der Versicherungsschutz nur dann beeinträchtigt wird, wenn die Gaststätte unverhältnismäßig weit von der Arbeitsstätte entfernt ist (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 28) bleibt es auch dem "auswärts Beschäftigten" unbenommen, unter den zur Verfügung stehenden Gaststätten zu wählen. Nicht mehr versichert ist der Beschäftigte freilich dann, wenn eine Gaststätte aufgesucht wird, die von der Unterkunft unverhältnismäßig weit entfernt ist, obwohl in der näheren Umgebung gleichwertige Gaststätten zur Einnahme angemessener Mahlzeiten zur Verfügung stehen. Ebenso bestünde kein Versicherungsschutz, wenn der Beschäftigte eine bestimmte Gaststätte aufsucht, ohne daß die Einnahme der üblichen Mahlzeit dafür der wesentliche Grund ist. Ein derartiger, den Versicherungsschutz ausschließender Sachverhalt ist hier jedoch nicht festgestellt. Sowohl R als auch seine Arbeitskollegen pflegten häufig in Langenprozelten zu essen. R hat die Gaststätte also nicht ausgesucht, "um mit seiner Ehefrau zu essen". Er aß dort auch, wenn sie nicht zu Besuch war.
Auch die Entfernung von der Unterkunft bis Langenprozelten von etwa 10 km kann, wenn ein Pkw benutzt wird, nicht als unverhältnismäßig weit bezeichnet werden. Gerade bei einem längeren dienstlichen Aufenthalt außerhalb des häuslichen Wohnbereichs kann es einem Beschäftigten nicht verwehrt werden, gelegentlich oder auch regelmäßig eine solche Strecke zurückzulegen, selbst wenn es möglich ist, in der einen oder anderen näher gelegenen Gaststätte eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Das gilt insbesondere dann, wenn, wie hier nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG, solche Möglichkeiten nur gering waren und die dort angebotenen Speisen die auf der Baustelle Beschäftigten nicht zufrieden stellten.
Selbst wenn die Beklagte mit ihrem Vorbringen auch eine Verletzung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) insoweit hätte rügen wollen, das LSG habe zu Unrecht angenommen, R habe in Ruppertshütten nicht zu Abend essen können, würde eine solche Rüge nicht durchgreifen, weil es darauf nicht ankommt.
Schließlich ergibt sich aus den Feststellungen des LSG nicht, daß R, als er verunglückte, sich von der betrieblichen Beschäftigung "gelöst" hatte. Es ist allerdings nicht festgestellt, wie lange R und die Klägerin sich in der Gaststätte in Langenprozelten aufgehalten haben. Eine endgültige Lösung, die zum Verlust des Versicherungsschutzes auf dem Rückweg geführt hätte, könnte allenfalls angenommen werden, wenn dieser Aufenthalt sich auf mehr als 2 Stunden erstreckt hätte (vgl aber BSG Urteil vom 29. April 1980 - 2 RU 95/79 -). Bei einem nach § 550 Abs 1 RVO geschützten Weg von oder zur Arbeitsstätte tritt nämlich eine endgültige Lösung infolge einer eingeschobenen privaten Verrichtung erst dann ein, wenn diese Verrichtung mehr als 2 Stunden in Anspruch nimmt (BSG SozR 2200 § 550 Nr 27). Da die Arbeitszeit des R jedoch um 19.00 Uhr beendet war und er einige Zeit zum Waschen und Umkleiden benötigte, lagen zwischen dem Verlassen der Arbeitsstelle und dem Unfall etwa 2 1/2 Stunden. R und die Klägerin haben sich danach jedenfalls weniger als 2 Stunden in der Gaststätte aufgehalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen