Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungspflicht von Vorstandsmitgliedern "großer" Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Vertrauensschutz. Bestandsschutz
Orientierungssatz
Die sinngemäße Anwendung des § 3 Abs 1a AVG und des Art 2 § 5b AnVNG auf die Vorstandsmitglieder von "großen" VVaG (vgl BSG vom 27.3.1980 12 RAr 1/79 = SozR 2400 § 3 Nr 4) - mit der durch den Rechtsprechungsgang bedingten, über das Ende des in Art 2 § 5b AnVNG genannten Zeitraums hinausreichenden Verzögerung -, erfordert, daß auch die in der zuletzt genannten Vorschrift enthaltene Befristung (31.12.1979) auf einen angemessenen Zeitpunkt nach dem Bekanntwerden des Urteils des BSG verschoben wird.
Normenkette
AVG § 3 Abs 1a Fassung: 1969-07-28; AnVNG Art 2 § 5b Fassung: 1969-07-28
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Vorstandsmitglied eines "großen" Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit (VVaG) in entsprechender Anwendung des Art 2 § 5 b Satz 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für die Zeit nach dem 31. Dezember 1980 als versicherungspflichtig nach dem Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zu gelten hat.
Der am 15. Januar 1931 geborene Kläger ist seit 1976 Mitglied des Vorstands des Beigeladenen zu 1), einer in der Rechtsform eines VVaG betriebenen Pensionseinrichtung, deren Geschäftsgebiet die Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Landes Berlin umfaßt und die vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen unter den "großen" VVaG geführt wird. Vom 1. September 1976 an entrichtete die Beigeladene zu 1) für den Kläger Beiträge zur Angestelltenversicherung und zur Bundesanstalt für Arbeit (BA) an die Beklagte als Einzugsstelle.
Nachdem die Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger im November 1980 übereingekommen waren, dem Urteil des Senats vom 27. März 1980 - 12 RAr 1/79 - (SozR 2400 § 3 Nr 4: § 3 Abs 1 a AVG, wonach Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft nicht zu den Angestellten gehören, entsprechend anzuwenden auf Vorstandsmitglieder "großer" VVaG) mit Wirkung vom 1. Januar 1981 zu folgen (vgl BKK 1981, 118), beantragte der Kläger am 23. Dezember 1980 bei der Beklagten, ab 1. Januar 1981 als Pflichtversicherter Angestellter in der Angestelltenversicherung versichert zu bleiben. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Januar 1981 unter Bezugnahme auf das genannte Urteil des Senats und die Empfehlung der Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. April 1981; Urteil des Sozialgerichts -SG- Bayreuth vom 12. Mai 1982).
Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1981 abgeändert und festgestellt, daß der Kläger auch ab 1. Januar 1981 in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungspflichtig ist. Soweit die Beitragspflicht zur BA im Streit stand, ist die Berufung zurückgewiesen worden (Urteil vom 22. März 1984). Das LSG hat die weiterbestehende Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung damit begründet, daß der Kläger die bis zum 31. Dezember 1980 in der Annahme seiner Versicherungspflicht entrichteten Beiträge nicht zurückgefordert habe und sie für den Fall seines Verbleibens in der gesetzlichen Rentenversicherung auch nicht zurückfordern wolle. Ihm müsse in entsprechender Anwendung des Art 2 § 5 b Satz 2 AnVNG das "Wahlrecht", ob er in Zukunft rentenversicherungspflichtig oder versicherungsfrei bleiben wolle, eingeräumt werden; nachdem er sich für das erste entschieden habe, gelte er auch für Zeiten nach dem 31. Dezember 1980, in denen er Vorstandsmitglied des Beigeladenen zu 1) sei, als versicherungspflichtig in der Angestelltenversicherung.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beigeladene zu 2) eine unzutreffende analoge Anwendung des Art 2 § 5 b AnVNG. Nach ihrer Auffassung liegt eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke nicht vor. Sinn und Zweck dieser Vorschrift sei es gewesen, Vorstandsmitgliedern wegen des rückwirkenden Inkrafttretens des § 3 Abs 1 a AVG idF des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 28. Juli 1969 (3. RVÄndG) Gelegenheit zur Fortsetzung der Pflichtversicherung zu geben. Die Regelung sei insbesondere deshalb erforderlich gewesen, weil es seinerzeit keinen anderen Weg gegeben habe, dem betroffenen Personenkreis die Entrichtung von Pflichtbeiträgen zu ermöglichen. Eine Schutzbedürftigkeit bezüglich der Fortdauer der Versicherungspflicht, wie sie für Beschäftigte im Jahre 1969 bestanden habe, lasse sich für den im Jahre 1976 zum Vorstandsmitglied eines "großen" VVaG bestellten Kläger nicht herleiten, denn bei Bekanntwerden des BSG-Urteils vom 27. März 1980 habe die Pflichtversicherung auf der Grundlage des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG fortgeführt werden können, der es auch Vorstandsmitgliedern iS von § 3 Abs 1 a AVG ermögliche, die Pflichtversicherung aufzunehmen. In Anerkennung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs habe sie, die Beigeladene zu 2), den betroffenen Vorstandsmitgliedern von "großen" VVaG, für die bislang in der Annahme von Versicherungspflicht nach § 2 Abs 1 Nr 1 AVG Beiträge entrichtet worden seien, das Recht eingeräumt, auf Antrag ihre bisherige Versicherung als Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG fortzusetzen, auch wenn der Beginn der Selbständigkeit (= Bestellung zum Vorstandsmitglied) länger als zwei Jahre zurückgelegen habe. Eine analoge Anwendung des Art 2 § 5 b AnVNG komme nur für Vorstandsmitglieder mit Pflichtbeiträgen in der Zeit vom 1. Januar 1968 bis 31. Juli 1969 in Frage. Der Kläger sei mit Schreiben der Beigeladenen zu 2) vom 18. Dezember 1980 über die neu entstandene Rechtslage aufgeklärt worden und habe daraufhin die Aufnahme in die Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG mit Wirkung vom 1. Januar 1981 beantragt, die ihm mit Bescheid vom 14. Mai 1981 auch bewilligt worden sei. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb der Kläger gegenüber anderen Berufskollegen (auch denen einer Aktiengesellschaft), die wie er eine Vorstandstätigkeit nach dem 31. Juli 1969 aufgenommen hätten, bessergestellt werden solle, da für diese ebenfalls nur die Möglichkeit der Antragspflichtversicherung nach Ablauf der in Art 2 § 5 b Satz 1 AnVNG enthaltenen Frist gegeben gewesen sei.
Die Beigeladene zu 2) beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfange zurückzuweisen.
Der Kläger und der Beigeladene zu 1) beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie machen geltend, daß der Kläger auf die Rückzahlung der Beiträge für die Vergangenheit ausdrücklich verzichtet habe. Damit entfalle die Begründung der Revision, die lediglich auf die Möglichkeit der Pflichtversicherung als Selbständiger abstelle und das Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG) nicht berücksichtige. Es gehe um die Rechtsfrage, ob und inwieweit Vertrauensschutz beim Übergang von der Pflichtversicherung für Angestellte auf die Pflichtversicherung für Selbständige zuzubilligen sei. Das Ziel des Klägers sei es, die Pflichtversicherung als Angestellter, die er jahrelang innegehabt habe, zu behalten. Die Pflichtversicherung als Selbständiger habe den Nachteil, daß er aus versteuertem Einkommen wesentlich mehr Beiträge zu entrichten habe. Auch gehe es um die Frage, ob der Kläger als Vorstandsmitglied eines nur formell größeren VVaG, der wirtschaftlich jedoch ein kleiner sei, als pflichtversicherter Angestellter betrachtet werden müsse.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 3) haben sich zur Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beigeladenen zu 2) ist unbegründet.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger als Vorstandsmitglied des Beigeladenen zu 1) unter den Personenkreis des § 3 Abs 1 a AVG fällt, ohne daß es auf die tatsächliche Größe und wirtschaftliche Bedeutung des als "großer" VVaG eingestuften Beigeladenen zu 1) ankommt (vgl dazu das schon genannte Urteil des Senats vom 27. März 1980 aaO S 4 f). Damit gehört der Kläger - wie die Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften - nicht zu den Angestellten iS des AVG. Gleichwohl gilt er, wie das LSG zu Recht entschieden hat, über den 31. Dezember 1980 hinaus als versicherungspflichtig nach § 2 Abs 1 Nr 1 AVG (Art 2 § 5 b Satz 2 AnVNG).
Der - vom LSG in Ausfüllung einer Gesetzeslücke analog angewendete - Art 2 § 5 b AnVNG wurde durch Art 2 § 2 Nr 3 des 3. RVÄndG vom 28. Juli 1969 (BGBl I 956, 966) rückwirkend zum 1. Januar 1968 in das AnVNG eingefügt, und zwar zugleich mit der Einfügung des § 3 Abs 1 a in das AVG (Art 1 § 2 Nr 2 des 3. RVÄndG, vgl auch die entsprechenden Regelungen für die Knappschaftsversicherung in Art 1 § 3 Nr 1 und Art 2 § 3 Nr 3 des 3. RVÄndG). Im Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (18. Ausschuß), der die genannten Vorschriften in den Gesetzesentwurf zum 3. RVÄndG aufgenommen hatte, ist zur Begründung des Art 2 § 5 b AnVNG ausgeführt: "Um die Vorstandsmitglieder zu schützen, die im Vertrauen auf den bisherigen Gesetzeswortlaut meinten, vom 1. Januar 1968 an versicherungspflichtig zu sein, und demgemäß Pflichtbeiträge entrichteten, ist die Möglichkeit vorgesehen, auch in Zukunft versicherungspflichtig zu bleiben" (Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode, zu Drucks V/4474 S 7). In dieser Begründung kommt der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck klar zum Ausdruck, nämlich das Vertrauen des Personenkreises, der von der rückwirkenden Gesetzesänderung bzw "Klarstellung" (nur um eine solche soll es sich nach der Einzelbegründung zu der Vorschrift handeln, aaO S 17) betroffen wird, auf seine - im guten Glauben - innegehabte Rechtsposition zu schützen.
Artikel 2 § 5 b AnVNG setzt eine Beitragsentrichtung zwischen dem 1. Januar 1968 und dem 31. Juli 1969 voraus und markiert damit den von der Gesetzesänderung erfaßten Zeitraum. Dabei ist der 31. Juli 1969 der Zeitpunkt, von dem ab den betroffenen Personen ihre neue versicherungsrechtliche Einordnung bekannt sein konnte. Diese war aber nur für die in § 3 Abs 1 a AVG ausdrücklich bezeichneten Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften genügend erkennbar, nicht dagegen für Vorstandsmitglieder von "großen" VVaG, die erst später durch die Rechtsprechung des Senats als auch unter die Vorschrift fallend erachtet wurden.
Es deutet nichts darauf hin, daß der vom Gesetzgeber mit Art 2 § 5 b AnVNG bezweckte Vertrauensschutz bei Vorstandsmitgliedern "großer" VVaG anders hätte geregelt werden sollen, wenn auch dieser Personenkreis schon in § 3 Abs 1 a AVG ausdrücklich aufgeführt worden wäre. Der Senat hält es deshalb für geboten, nach der durch sein Urteil vom 27. März 1980 erfolgten Klarstellung der Rechtslage dem genannten Personenkreis den gleichen Vertrauensschutz zuzubilligen wie den in Art 2 § 5 b AnVNG genannten Personen. Da indes der maßgebliche Zeitpunkt, von dem ab ihr Vertrauen auf ihre bisherige versicherungsrechtliche Einstufung nicht mehr schützenswert war, frühestens der des Bekanntwerdens der Entscheidung vom 27. März 1980 sein kann, muß sich die Anwendung des Art 2 § 5 b AnVNG in Fällen der vorliegenden Art dem Gesetzeszweck entsprechend an diesem Datum orientieren. Im übrigen erfordert die sinngemäße Anwendung des § 3 Abs 1 a AVG und des Art 2 § 5 b AnVNG auf die Vorstandsmitglieder von "großen" VVaG - mit der durch den Rechtsprechungsgang bedingten, über das Ende des in Art 2 § 5 b AnVNG genannten Zeitraums hinausreichenden Verzögerung -, daß auch die in der zuletzt genannten Vorschrift enthaltene Befristung (31. Dezember 1979) auf einen angemessenen Zeitpunkt nach dem Bekanntwerden des Urteils des Senats verschoben wird.
Damit wird allerdings den durch die Rechtsprechung des Senats nachträglich erfaßten Personen ein Vertrauensschutz eingeräumt, der, weil er die von ihnen bisher als versicherungspflichtig angesehene Beschäftigung auch in Zukunft als versicherungspflichtig "gelten" läßt, über den sonst in der Sozialversicherung üblichen, im allgemeinen nur die Vergangenheit umfassenden Bestandsschutz hinausgeht. Die Notwendigkeit eines solchen außerordentlichen Bestandsschutzes hat aber der Gesetzgeber bereits in Satz 2 des Art 2 § 5 b AnVNG bejaht.
Der Anwendung des Art 2 § 5 b AnVNG steht nicht entgegen, daß der Kläger bei Aufnahme seiner Vorstandstätigkeit im Jahre 1976 - im Gegensatz zu den bei Erlaß des 3. RVÄndG durch § 3 Abs 1 a AVG betroffenen Vorstandsmitgliedern - die Möglichkeit hatte, eine Pflichtversicherung für Selbständige nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 zu beantragen. Diese Versicherungsform trägt seinem Bedürfnis nach Vertrauensschutz nicht voll Rechnung. Sie verleiht dem Kläger beitragsrechtlich eine wirtschaftlich wesentlich schlechtere Position, weil sie ihm allein die ganze Beitragslast aufbürdet, während bei der Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 1 AVG der Versicherte nur die Hälfte des Beitrags zu tragen hat (§ 119 Abs 1 Satz 1, § 120 Satz 2 AVG). Artikel 2 § 5 b AnVNG wäre deshalb, selbst wenn die Antragspflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG bei Erlaß des 3. RVÄndG schon bestanden hätte, nicht entbehrlich gewesen. Demgemäß durfte sich die Beigeladene zu 2) nicht damit begnügen, dem Kläger im Wege des Herstellungsanspruchs die Möglichkeit der Pflichtversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 11 AVG einzuräumen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen