Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Beratungspflicht. Nachentrichtungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsträger ist im Rahmen des Nachentrichtungsverfahrens ohne konkreten Anlaß nicht verpflichtet, die vorliegenden Versicherungsunterlagen auf die Richtigkeit der Eintragungen zu überprüfen.
Leitsatz (redaktionell)
Der Antrag auf Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG hat rechtsgestaltende Wirkung insofern, als durch ihn ein Nachentrichtungsrecht dem Grunde nach erst eröffnet wird (materiell-rechtliche Funktion); außerdem setzt der Antrag ein Verwaltungsverfahren in Gang, das der Konkretisierung des Antrags dient und mit dem Nachentrichtungsbescheid abgeschlossen wird. Nach Eintritt der Bindung des Nachentrichtungsbescheids können Zahl und Klasse der Beiträge grundsätzlich nicht mehr geändert werden. Dem Versicherten kann entgegen der Bindungswirkung des Konkretisierungsbescheids nicht gestattet werden, die Nachentrichtungszeiträume zu verschieben oder weitere, vom Bescheid nicht umfaßte Zeiten zu belegen. Dies wäre vor allem mit der zeitlichen Begrenzung der außerordentlichen Nachentrichtung nicht vereinbar. Ein nachfolgendes Änderungsbegehren - zB Erstreckung der Nachentrichtung auf weitere Belegungszeiträume - stellt einen neuen selbständigen Nachentrichtungsantrag dar, der rechtswirksam nur innerhalb der am 31.12.1975 abgelaufenen Antragsfrist gestellt werden konnte.
Orientierungssatz
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG besteht in Fällen der Beitragsnachentrichtung nach Bindung des Nachentrichtungsbescheides stets ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nur dann, wenn der Versicherungsträger die sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebende Nebenpflicht zur individuellen Beratung verletzt hat (vgl BSG 18.12.1975 12 RJ 88/75 = BSGE 41, 126, 127).
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; SGB 1 § 14
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.12.1983; Aktenzeichen L 13 An 88/82) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 05.05.1982; Aktenzeichen S 5 An 74/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten (AV) nach Art 2 § 49 Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für die Zeit vom 1. April 1961 bis 31. Dezember 1967 nachzuentrichten.
Der am 4. Oktober 1931 geborene Kläger ist auf seinen Antrag seit dem 1. Dezember 1974 als Selbständiger gemäß § 2 Abs 1 Nr 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) pflichtversichert. Nach den Eintragungen in der am 29. Januar 1959 ausgestellten und am 3O. Juni 1972 aufgerechneten Versicherungskarte Nr 1 war er vom Dezember 1958 bis Ende 1962 bei der Firma V versicherungspflichtig beschäftigt. Auch in der am 8. August 1972 ausgestellten und am 20. September 1972 aufgerechneten Versicherungskarte Nr 2 sind von derselben Firma durchgehend für die Jahre 1963 bis 1967 unter der Jahresarbeitsverdienstgrenze (§ 5 AVG aF) liegende Bruttoentgelte eingetragen, die jährlich zwischen 12.000,-- DM (1963) bis 16.800,-- DM (1967) betrugen.
Am 23. Dezember 1975 stellte der Kläger bei der Beklagten Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, den er am 24. Januar 1977 auf den Zeitraum der Jahre 1968 bis 1973 mit den Höchstbeiträgen im Gesamtbetrag von 23.760,-- DM konkretisierte. Mit Bescheid vom 17. Februar 1977 gestattete die Beklagte die Beitragsnachentrichtung in dem beantragten Umfang.
Im Rahmen einer 1979 eingeleiteten Kontenaufbereitung stellte die Beklagte fest, daß für den Kläger für die Zeit vom 1. April 1961 bis 31. Dezember 1967 keine AV-Beiträge abgeführt wurden. Sie strich deshalb die Entgelteintragungen für die Jahre 1962 bis 1967 und berichtigte sie für das Jahr 1961 entsprechend (Bescheid vom 7. März 1980). Auf den Widerspruch vom 28. März 1980, mit dem der Kläger begehrte, ihm die Möglichkeit zu geben, die fehlenden Beiträge nachzuentrichten, lehnte die Beklagte am 24. April 1980 mit einem weiteren Bescheid diesen Antrag ab. Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch und die Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. August 1980; Urteil des Sozialgerichts -SG- Dortmund vom 5. Mai 1982).
Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die - auf die Beitragsnachentrichtung beschränkte - Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 6. Dezember 1983). Es hat einen über den bindenden Bescheid vom 17. Februar 1977 hinausgehenden Anspruch auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG verneint, weil der neue Antrag erst nach Ablauf der Antragsfrist gestellt worden sei und wegen der Versäumung einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich nicht gewährt werden könne. Der Kläger könne sein Nachentrichtungsbegehren auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Anläßlich seines völlig klaren und vorbehaltlosen Nachentrichtungsantrages vom 23. Dezember 1975 habe die Beklagte keinen Grund für eine Beratung gehabt. Sie sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Versicherungskarten Nr 1 und 2 schon vor der Bearbeitung des Nachentrichtungsantrages aufzubereiten. Auch habe sie den Bescheid vom 17. Februar 1977 nicht nach § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zurückzunehmen. Bei diesem Bescheid handele es sich nach wie vor um einen begünstigenden Verwaltungsakt. Außerdem habe die Beklagte mit seinem Erlaß weder das Recht unrichtig angewandt noch sei sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG. Er trägt vor, unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck dieser Vorschrift beinhalte auch ein nach Zeit und Höhe konkretisierter Nachentrichtungsantrag das weitere Begehren des Versicherten, sein Versicherungsverhältnis insgesamt zu klären und ihm sodann die bestmögliche Nachentrichtungsmöglichkeit anzubieten. Der Versicherte selbst habe im Regelfall nicht die geringste Möglichkeit zu überprüfen, ob sein Versicherungsverhältnis in Ordnung sei oder nicht. Die Prüfungsverpflichtung der Beklagten ergebe sich daraus, daß sein guter Glaube an die Richtigkeit der konkret in den bisherigen Versicherungskarten aufgeführten Versicherungszeiten geschützt werden müsse.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. April 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. August 1980 zu verpflichten, den Bescheid vom 17. Februar 1977 abzuändern und ihm zusätzlich die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen für die Zeit vom 1. April 1961 bis 31. Dezember 1967 zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Die Beklagte und die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß der Kläger nicht berechtigt ist, über das mit Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 1977 festgestellte Nachentrichtungsrecht hinaus freiwillig Beiträge auch für die Zeit vom 1. April 1961 bis 31. Dezember 1967 nachzuentrichten. Dem steht die Bindung des genannten Bescheides entgegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zu den Sondervorschriften über die Nachentrichtung von Beiträgen in Art 2 § 49a AnVNG und Art 2 § 51a des Arbeiterversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) endet die Befugnis des Nachentrichtungsberechtigten, Anzahl und Klasse der Beiträge zu wählen, grundsätzlich mit der Bindungswirkung des Bescheides, den der Versicherungsträger auf den Nachentrichtungsantrag hin erteilt (BSGE 50, 16 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 36 mwN). Der Antrag auf Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG hat rechtsgestaltende Wirkung insofern, als durch ihn ein Nachentrichtungsrecht dem Grunde nach erst eröffnet wird (materiell-rechtliche Funktion); außerdem setzt der Antrag ein Verwaltungsverfahren in Gang, das der Konkretisierung des Antrages dient und mit dem Nachentrichtungsbescheid abgeschlossen wird. Nach Eintritt der Bindung des Nachentrichtungsbescheides können Zahl und Klasse der Beiträge grundsätzlich nicht mehr geändert werden. Da der Kläger den auf seinen Antrag vom 23. Dezember 1975 ergangenen und seinem eigenen Belegungsangebot vom 24. Januar 1977 entsprechenden Nachentrichtungsbescheid vom 17. Februar 1977 nicht angefochten hat, ist er mithin an den in diesem Bescheid festgestellten zeitlichen Umfang der Nachentrichtung gebunden, vgl hierzu Urteil des Senats vom 28. April 1982 - 12 RK 74/80 - (DAngVers 1982, 359). Wie der Senat dort ausgeführt hat, kann dem Versicherten entgegen der Bindungswirkung des Konkretisierungsbescheides nicht gestattet werden, die Nachentrichtungszeiträume zu verschieben oder weitere, vom Bescheid nicht umfaßte Zeiten zu belegen. Dies wäre vor allem mit der zeitlichen Begrenzung der außerordentlichen Nachentrichtung nicht vereinbar. Da hiernach mit dem Eintritt der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides vom 17. Februar 1977 das durch den Belegungsantrag des Klägers konkretisierte Gestaltungsrecht verbraucht war, stellt sein nachfolgendes Änderungsbegehren - Erstreckung der Nachentrichtung auf weitere Belegungszeiträume - einen neuen selbständigen Nachentrichtungsantrag dar, der rechtswirksam nur innerhalb der am 31. Dezember 1975 abgelaufenen Antragsfrist gestellt werden konnte. Der weitere Antrag des Klägers ist aber erst im März 1980, also lange nach Fristablauf, gestellt worden.
Die vom Kläger begehrte Nachentrichtung für die von dem bindenden Bescheid vom 17. Februar 1977 nicht umfaßten Zeiten läßt sich auch nicht damit begründen, daß die Beklagte wegen Verletzung von Beratungs- oder Belehrungspflichten zur nachträglichen Zulassung verpflichtet wäre. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts besteht in Fällen dieser Art ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nur dann, wenn der Versicherungsträger die sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebende Nebenpflicht zur individuellen Beratung verletzt hat (BSGE 41, 126, 127 mwN). Das Verwaltungshandeln der Beklagten aufgrund des Nachentrichtungsantrages des Klägers vom 23. Dezember 1975 läßt aber keine Umstände erkennen, die als Verletzung der ihr obliegenden Betreuungs- und Beratungspflicht gewertet werden könnten. Das Belegungsangebot des Klägers vom 24. Januar 1977 war, wie das LSG zutreffend betont, klar und eindeutig. Es umfaßte auch die gesamte damals für die Beklagte ersichtliche belegungsfähige Beitragslücke. Entgegen der Auffassung des Klägers war die Beklagte im Rahmen des Nachentrichtungsverfahrens nicht verpflichtet, die Versicherungskarten Nr 1 und 2 darauf zu überprüfen, ob den Eintragungen entsprechend auch Beiträge abgeführt worden sind. Eine allgemeine Verpflichtung hierzu wäre - entgegen der in § 145 Abs 2 AVG vorgesehenen Berechtigung zur Beanstandung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte - in Anbetracht der damals in großen Massen anstehenden Nachentrichtungsanträge mit den Erfordernissen eines geordneten und zügigen Geschäftsablaufs nicht vereinbar gewesen. Der Beklagten bot sich aber damals auch kein konkreter Anlaß, die Richtigkeit der Eintragungen zu bezweifeln und eine durch eine etwaige Manipulation des Arbeitgebers verdeckte Beitragslücke zu vermuten. Selbst wenn also in dem konkretisierten Nachentrichtungsantrag, wie der Kläger meint, das weitere Begehren zu erblicken wäre, das Versicherungsverhältnis insgesamt zu klären und ihn sodann über die bestmögliche Nachentrichtung zu informieren, war die Beklagte ohne konkrete Verdachtsmomente nicht verpflichtet, die Versicherungskarten zu überprüfen. Da die für die streitige Zeit von 1961 bis 1967 eingetragenen Arbeitsentgelte unterhalb der bis zum 31. Dezember 1967 geltenden Jahresarbeitsverdienstgrenze (§ 5 AVG aF) lagen, konnte die Beklagte davon ausgehen, daß für den Kläger in dieser Zeit Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung bestanden hatte und insoweit eine Nachentrichtungsmöglichkeit nicht gegeben war. Das Argument des Klägers, der Versicherte habe im Regelfall keine Möglichkeit, sein Versicherungsverhältnis zu überprüfen, greift hiergegen nicht durch. Der Kläger konnte durchaus schon mit seinem Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen auch die Überprüfung seiner Versicherungskarten beantragen. Ob er erkannt hat, daß die in den Versicherungskarten eingetragenen Jahresarbeitsentgelte wesentlich niedriger waren als die in den von ihm dem SG übersandten Steuerunterlagen angegebenen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (Bl 16 - 20 SG-Akte), und ob er hieraus den Schluß hätte ziehen können, er sei wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei, kann dahinstehen. Ein Herstellungsanspruch käme nämlich nur dann in Betracht, wenn ein der Beklagten zuzurechnender Fehler vorläge. Das ist aber, wie bereits ausgeführt, nicht der Fall, weil für die Beklagte kein Anlaß bestand, an der Richtigkeit der Eintragungen zu zweifeln und sie deshalb ohne besonderen Antrag des Klägers nicht gehalten war, von Amts wegen die Versicherungskarten zu überprüfen.
Die Revision des Klägers kann sonach keinen Erfolg haben und ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen