Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 12.10.1988; Aktenzeichen L 4 Kr 44/87) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Oktober 1988 – L 4 Kr 44/87 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Beklagte ihren Rückgriffsanspruch gegen den Kläger (§ 1542 der Reichsversicherungsordnung -RVO-, § 116 des Sozialgesetzbuchs/Verwaltungsverfahren -SGB-X-) nach § 76 Abs 2 Nr 3 des Sozialgesetzbuchs – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) zu erlassen hat.
Der Kläger verschuldete am 24. Februar 1983 einen Verkehrsunfall, bei dem eine Versicherte der Beklagten erheblich verletzt wurde. Aufgrund des rechtskräftigen Versäumnisurteils des Landgerichts Oldenburg vom 24. Juli 1985 ist der Kläger verpflichtet, der Beklagten die ihr aus Anlaß des Unfalls entstandenen Aufwendungen in Höhe von 25.837,24 DM nebst Zinsen zu ersetzen. Unter Berufung auf seine schlechte wirtschaftliche Lage beantragte der Kläger im Januar 1986 den Erlaß der Regreßforderung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. März 1986 ab, verzichtete aber auf die sofortige Einziehung und auf die Verzinsung für die Dauer der Stundung. Den hiergegen eingelegten Widerspruch leitete die Beklagte mit Zustimmung des Klägers als Klage an das Sozialgericht (SG) weiter. Das SG hob den Bescheid der Beklagten auf, wies jedoch die auf Verurteilung zur Erteilung eines neuen Bescheides gerichtete Klage ab (Urteil vom 6. Mai 1987). Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers zurück (Urteil vom 12. Oktober 1988). Das LSG hielt den Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit insoweit für gegeben, als die Beklagte einen Verwaltungsakt erlassen habe. Dieser sei aufzuheben gewesen, weil das von dem Verwaltungsakt geregelte Rechtsverhältnis nicht dem öffentlichen Recht, sondern dem bürgerlichen Recht zuzuordnen sei. Deswegen sei auch der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf Erlaß der Regreßforderung nicht gegeben.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs -BGH- (Hinweis auf BGHZ 88, 296), wonach eine Stundung oder ein Erlaß der Regreßforderung einen Verwaltungsakt des Sozialversicherungsträgers voraussetze, dessen Rechtmäßigkeit nicht von den ordentlichen Gerichten überprüft werden könne. Es liege im vorliegenden Fall eine besondere Härte vor, die einen Erlaß der Regreßforderung nach § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV erfordere.
Der Kläger beantragt,
- die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten – IV -52/83 ast – vom 13. März 1986 aufzuheben;
- die Beklagte zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Zu Unrecht hat das LSG den Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit verneint. Über den vom Kläger begehrten Erlaß der Regreßforderung ist nach § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV zu entscheiden, der hierzu ergehende Verwaltungsakt unterliegt der sozialgerichtlichen Nachprüfung. Hierzu führt der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem in einem gleichgelagerten Fall ergangenen Urteil vom 13. Juni 1989 (2 RU 32/88), dem sich der erkennende Senat anschließt, aus:
Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich oder bürgerlich-rechtlich ist, richtet sich, wenn – wie hier – eine ausdrückliche Rechtswegzuweisung fehlt, nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird (GmS-OGB SozR 1500 § 51 Nrn 2 und 47, BSG SozR 1500 § 51 Nr 49). Das Revisionsgericht prüft die Voraussetzungen selbständig und ohne Bindung an die Auffassung des Berufungsgerichts (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 187m).
Die Prüfung, ob das dem Klageanspruch zugrundeliegende Rechtsverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur ist, kann im zu entscheidenden Fall nicht deshalb unterbleiben, weil die Beklagte einen Verwaltungsakt erlassen hat. Zwar betrifft eine Klage, mit der die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wird, insoweit immer eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, als die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts zu überprüfen ist. Selbst dann, wenn ein Sozialversicherungsträger hoheitlich regelnd in ein Privatrechtsverhältnis eingreift, liegt ein Verwaltungsakt vor, über dessen Rechtmäßigkeit die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als die gemäß § 51 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuständigen Gerichte zu entscheiden haben (vgl BSGE 15, 14, 15; 24, 190, 191; 25, 268, 269; 40, 96, 97; BSG SozR Nr 61 zu § 51 SGG, SozR 1500 § 51 Nr 49; Brackmann aaO S 187n mwN). Die Entscheidung hat sich jedoch in diesen Fällen auf die Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts zu beschränken, und der Rechtsstreit ist ggf – wenn ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch im Streit ist – auf Antrag an das zuständige Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu verweisen (§ 52 SGG; vgl BSG SozR 1500 § 51 Nr 49; Brackmann aaO S 187n I). Mit ihrem Bescheid vom 13. März 1986 hat die Beklagte indes nicht ein zwischen ihr und dem Kläger bestehendes Privatrechtsverhältnis geregelt, sondern im Gegenteil über die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV entschieden. Die Rechtmäßigkeit des Bescheides entscheidet sich deshalb zunächst danach, ob das Rechtsverhältnis, aus dem der Kläger seinen Klageanspruch herleitet, öffentlich-rechtlicher oder bürgerlich-rechtlicher Natur ist.
Nach dem allein maßgebenden tatsächlichen Vorbringen des Klägers (GmS-OGB SozR 1500 § 51 Nr 47 mwN) begehrt er von der Beklagten den Erlaß der gegen ihn gerichteten Schadensersatzforderung, soweit diese kraft Gesetzes (§ 1542 RVO, § 116 Abs 1 SGB X) vom verletzten Versicherten auf die Beklagte übergegangen ist. Für die Annahme einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit ist nicht ausreichend, daß sich der Kläger auf eine dem öffentlichen Recht zugehörige Rechtsnorm (§ 76 Abs 2 SGB IV) als Anspruchsgrundlage beruft (vgl GmS-OGB aaO, Brackmann aaO S 187m II). Vielmehr kommt es regelmäßig darauf an, ob die Beteiligten zueinander in einem hoheitlichen Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen und sich der Träger hoheitlicher Gewalt der besonderen Rechtssätze des öffentlichen Rechts bedient (GmS-OGB SozR 1500 § 51 Nr 39). Doch ist von einem Gleichordnungsverhältnis nicht ohne weiteres auf eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit zu schließen, denn auch dem öffentlichen Recht ist eine gleichgeordnete Beziehung zwischen Berechtigtem und Verpflichtetem nicht fremd (GmS-OGB aaO). Zu prüfen ist dann, durch welche Rechtssätze der Sachverhalt entscheidend geprägt wird und welche Rechtssätze für die Beurteilung des Klageanspruchs in Anspruch genommen werden können (BGHZ 49, 282, 285; BGH NJW 1985, 2756). Von einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis ist auszugehen, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt aufgrund eines nur ihm eingeräumten oder auferlegten Sonderrechts handelt. Hierzu gehören Rechtssätze, wenn und soweit sie einen Träger öffentlicher Gewalt als solchen berechtigen oder verpflichten (Brackmann aaO S 187m, 187m I mwN). Von Bedeutung ist schließlich der Gesichtspunkt, daß jeweils die Gerichte anzurufen sind und zu entscheiden haben, die durch besondere Sachnähe und Sachkunde dazu berufen sind (BGHZ 67, 81, 87; Brackmann aaO).
Kläger und Beklagte stehen mit Blick auf den Klageanspruch ebensowenig in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander wie der Kläger und der verletzte Versicherte. Dessen bürgerlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch gegen den Kläger ging aufgrund der in § 116 Abs 1 SGB X angeordneten Legalzession auf die Beklagte über. Mit dem Übergang des Anspruchs änderte sich nicht seine Rechtsnatur (Brackmann aaO S 187u, 187u I). Auch als Regreßanspruch der Beklagten bleibt der Anspruch aus unerlaubter Handlung (§ 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-, § 7 des Straßenverkehrsgesetzes -StVG-) ein bürgerlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch, für dessen Durchsetzung der Rechtsweg zu den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit eröffnet ist (§ 13 des Gerichtsverfassungsgesetz -GVG-). Dieser Schadensersatzanspruch ist jedoch nicht Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits. Der Kläger greift die Forderung im sozialgerichtlichen Verfahren weder dem Grunde noch der Höhe nach an. Sein Klageanspruch ist auch nicht darauf gerichtet, die Vollstreckung aus dem von der Beklagten erwirkten Titel für unzulässig zu erklären (§ 767 der Zivilprozeßordnung -ZPO-). Er wendet nicht ein, die Schadensersatzforderung sei durch Erlaßvertrag (§ 397 BGB) erloschen oder ihre Einziehung treuwidrig (§ 242 BGB). Vielmehr macht er einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Entscheidung darüber geltend, ob der gegen ihn gerichtete bürgerlich-rechtliche Anspruch erlassen wird. Ob ein solcher öffentlich-rechtlicher Anspruch besteht, hängt im zu entscheidenden Fall allein von der Auslegung einer Rechtsnorm des öffentlichen Rechts (§ 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV) ab. Streitig ist dabei, ob diese Vorschrift eine „außenrechtliche” Verpflichtung der Beklagten begründet, auf Antrag über eine Veränderung der Schadensersatzforderung zu entscheiden mit der Folge, daß diese Entscheidung sozialgerichtlich überprüfbar ist, oder ob § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV die öffentlich-rechtliche Befugnis zum Forderungserlaß nur „innenrechtlich”, dh verwaltungsintern, regelt (so, jedoch speziell für das Verhältnis von § 59 der Bundeshaushaltsordnung -BHO- zu § 227 der Abgabenordnung -AO-, BVerwG Sammlung Buchholz 451.533 AFoG Nr 7) mit der Folge, daß ein Erlaß nur nach Maßgabe bürgerlich-rechtlicher Vorschriften begehrt werden könnte. Entgegen der Auffassung des LSG und im Ergebnis übereinstimmend mit der Rechtsmeinung des BGH (vgl BGHZ 88, 296, 301; NJW 1988, 1267) trifft ersteres zu.
Nicht entscheidend ist dabei, ob der Erlaß möglicherweise durch Abschluß eines privatrechtlichen Vertrages (§ 397 BGB) durchgeführt werden kann oder ob der Erlaß selbst durch Verwaltungsakt zu regeln ist (so Schroeter in: SGB-SozVers-GesKomm § 76 SGB IV Anm 5). Denn daß ein angestrebter Vertrag dem bürgerlichen Recht angehört, schließt es nicht aus, daß sich aus öffentlichem Recht ein „Anspruch” auf den Abschluß eines solchen Vertrages ergeben kann (BSG SozR 1500 § 51 Nr 49).
§ 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV gewährt dem einzelnen einen Anspruch auf Entscheidung über den Forderungserlaß (vgl auch Hauck/Haines, SGB IV, § 76 RdNr 4; Meydam in GK SGB IV, § 76 RdNr 4; Schroeter aaO § 76 SGB IV Anm 4; für § 76 Abs 2 Nr 1 SGB IV vgl BSG SozR 2100 § 76 Nr 1). Danach „darf” der Versicherungsträger Ansprüche, zu denen auch bürgerlich-rechtliche Ansprüche gehören (vgl Brandts/Wirth, Haushaltsrecht der Sozialversicherung, 210 § 76 RdNr 4), „nur” erlassen, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles für den Anspruchsgegner eine besondere Härte bedeuten würde. Gesetzessystematisch gehört § 76 SGB IV zu den Vorschriften des Haushalts- und Rechnungswesens der Sozialversicherungsträger. Die Entstehungsgeschichte ergibt (vgl die Begründung zum Regierungsentwurf des SGB IV BT-Drucks 7/4122, S 37), daß mit dieser Vorschrift für die Träger der Sozialversicherung eine den §§ 19 Abs 1, 31 Abs 2 Haushaltsgrundsätzegesetz -HGrG-, § 59 Abs 1 BHO ähnliche haushaltsrechtliche Regelung geschaffen werden sollte. Hieraus ist nicht zu folgern, daß § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV den Sozialversicherungsträgern lediglich eine verwaltungsinterne, gerichtlich nicht überprüfbare Befugnis einräumt. Zum einen wird zu § 59 BHO vertreten, daß auch nach dieser Bestimmung ein subjektives öffentliches Recht auf fehlerfreie Verwaltungsentscheidung über die Veränderung von Forderungen besteht (vgl Patzig, Haushaltsrecht des Bundes und der Länder, C 59/5 und 9; Johannes, Recht im Amt 1980, S 71, 73). Zum anderen unterscheiden sich § 76 SGB IV und § 59 BHO im Wortlaut: Ein dem § 59 Abs 2 BHO vergleichbarer Einwilligungsvorbehalt und eine dem § 59 Abs 3 BHO entsprechende Subsidiaritätsklausel, durch die der Anwendungsbereich dieser Bestimmung wesentlich eingeengt wird (Patzig aaO C 59/4 Anm 2), fehlen in § 76 SGB IV.
Der Gesichtspunkt der Verfahrenswirtschaftlichkeit ist nicht geeignet, ein bestehendes subjektives öffentliches Recht auf eine fehlerfreie Verwaltungsentscheidung zu versagen. Zu verkennen ist nicht, daß es im Regreß des Sozialversicherungsträgers gegen den „deckungslosen” Kraftfahrzeugführer uU zu zwei Prozessen vor Gerichten unterschiedlicher Gerichtsbarkeit kommen kann (vgl im einzelnen Hüffner, Versicherungsrecht 1984, 197, 200). Dies folgt jedoch aus dem Gesetz und ist hinzunehmen. Im übrigen ist in Fällen wie dem zu entscheidenden ein Anspruch des Sozialversicherungsträgers gegen den „kranken” Haftpflichtversicherer künftig nicht mehr ausgeschlossen. Mit Wirkung vom 1. Juli 1988 wurde § 3 Nr 6 des Pflichtversicherungsgesetzes (PflVG) durch das Erste Gesetz zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes (vom 22. März 1988 BGBl I S 358) geändert. Besitzt der ersatzpflichtige Versicherungsnehmer des Haftpflichtversicherers keine Fahrerlaubnis für das Fahrzeug, das er zum Unfallzeitpunkt geführt hat, kann der Versicherer, soweit er deshalb dem ersatzpflichtigen Versicherungsnehmer gegenüber von der Leistung frei ist, dem Geschädigten nicht mehr entgegenhalten, dieser könne Ersatz von einem anderen Schadensversicherer oder einem Sozialversicherer erlangen (anders noch die bis zum 1. Juli 1988 geltende sog Subsidiaritätsklausel des § 3 Nr 6 PflVG aF iVm § 158c Abs 4 VVG; BGHZ 88, 296, 298).
Die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen und damit einer Uneinheitlichkeit der Rechtsanwendung besteht ebenfalls nicht. Die Entscheidung im Rahmen des § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV, deren Kontrolle der Sozialgerichtsbarkeit auch aufgrund ihrer größeren Sachnähe obliegt, ist inhaltlich nicht identisch mit dem die übergegangene Forderung betreffenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB).
Das LSG hat – aufgrund seiner Rechtsauffassung folgerichtig – nicht geprüft, ob die Ablehnung des Forderungserlasses durch die Beklagte rechtmäßig ist. Das BSG kann dies nach den von der Rechtsauffassung des LSG geprägten tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) nicht entscheiden. Vielmehr muß das Berufungsgericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch treffen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen