Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 31.05.1961) |
SG Mannheim (Urteil vom 07.07.1959) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Mai 1961 wird mit Ausnahme des Ausspruchs zu 4) aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 7. Juli 1959 wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlußberufung der Klägerin wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin auch Sterbegeld zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Ehemann der Klägerin, der Kraftfahrzeugmeister Karl O. (O.), verunglückte am 18. Februar 1958, dem Fastnachtsdienstag, tödlich durch einen Verkehrsunfall. Er war bei der Firma Daimler-Benz-AG – Niederlassung Mannheim – beschäftigt. Am Unfalltag nahm er an einer nachmittags in der Werkskantine veranstalteten betrieblichen Fastnachtsfeier teil. Einigen Teilnehmern dieser Veranstaltung, die gegen 17.30 Uhr beendet war, stellte der Betriebsratsvorsitzende Sch. für die Keimfahrt seinen Privatkraftwagen zur Verfügung. In diesem von dem Kraftfahrzeugschlosser B. gesteuerten Wagen, einem Mercedes 170 S. traten außer Sch. die Betriebssekretärin Sophie F. der Angestellte M. mit seiner Frau nebst fünfjährigem Sohn und O. die Fahrt an. Zunächst sollte die Sekretärin F. an der Omnibushaltestelle in Seckenheim zur Weiterfahrt nach ihrer Wohnung in Rheinau abgesetzt werden; Schr. und die Familie M. wären in ihrem Wohnort Ilvesheim ausgestiegen; Böhl, der ebenfalls in Ilvesheim zu Hause war, sollte sodann O. über Feudenheim nach seiner Wohnung in Mannheim-Neckarstadt fahren und den Wagen nach Ilvesheim zu Sch. zurückbringen. Auf der Seckenheimer Landstraße fuhr der noch voll besetzte Wagen gegen einen Baum. Dabei wurde O. tödlich verletzt. Durch Bescheid vom 11. November 1958 lehnte die Beklagte die Ansprüche der Klägerin auf Hinterbliebenenrente und Sterbegeld ab, weil ihr Ehemann auf der Fahrt in entgegengesetzter Richtung zu seinem üblichen Keimweg verunglückt sei und deshalb ein zur Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung verpflichtender Wegeunfall nicht vorliege.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Mannheim nach Beweiserhebung über den Zweck der Unfallfahrt die Beklagte am 7. Juli 1959 entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Klägerin zur Gewährung der Hinterbliebenenrente verurteilt.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin im Wege der Anschlußberufung beantragt, die Beklagte auch zur Zahlung des gesetzlichen Sterbegeldes zu verurteilen. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Ergänzung der Beweiserhebung über die näheren Umstände der Unfallfahrt durch Urteil vom 31. Mai 1961 auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen und die Anschlußberufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Auch die auf die Zuerkennung des Anspruchs auf Sterbegeld gerichtete Anschlußberufung sei zulässig, da durch sie der Klagantrag nur erweitert worden sei. Der Anspruch auf Hinterbliebenenentschädigung sei indessen nicht begründet. Zwar habe es sich bei der Fastnachtsfeier um eine Betriebsgemeinschaftsveranstaltung gehandelt; O. habe aber auf der anschließenden Heimfahrt nicht unter Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestanden. Bei der Fahrt, die im Personenkraftwagen des Betriebsratsvorsitzenden Sch. auf der Seckenheimer Landstraße in zunächst entgegengesetzter Richtung zu seiner Wohnung in Mannheim-Neckarstadt über Seckenheim, Ilvesheim und Feudenheim führen sollte, habe es sich um einen erheblichen Umweg gehandelt, der nicht durch die vorangegangene versicherte Tätigkeit veranlaßt gewesen sei. Dieser Weg wäre viermal so lang gewesen wie die direkte Verbindung zwischen der Arbeitsstätte und der Wohnung. Für diesen Umweg lasse sich auch nach allgemeiner Verkehrsanschauung, insbesondere unter Berücksichtigung der Verkehrsmittel, die für die Zurücklegung des zum Unfall führenden Heimweges für O. in Betracht kamen, und der dadurch bedingten Wahl des Weges, der Versicherungsschutz nicht rechtfertigen. Der durch die Mitfahrt in dem Kraftwagen verlängerte Weg sei für O. weder notwendig noch zweckmäßig gewesen. Das Ziel, möglichst schnell und sicher nach Hause zu gelangen, hätte er auch mit der Straßenbahn erreichen können. Durch Alkoholgenuß sei O. nicht gehindert gewesen, dieses Verkehrsmittel zu benutzen. Er hätte sich von Sch. auch zur nächsten Straßenbahnhaltestelle fahren lassen, überdies auch bestimmen können, daß die gemeinschaftliche Fahrt zunächst nach seiner Wohnung und von dort weiter nach Ilvesheim ging. Jedenfalls sei er nicht auf den großen Umweg über Ilvesheim angewiesen gewesen. Wegen der Straßen- und Verkehrsverhältnisse wäre der Umweg in dem Kraftwagen nicht veranlaßt und ebensowenig aus betrieblichen Gründen, etwa daß O. infolge Trunkenheit besonderer Fürsorge bedurft hätte, erforderlich gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Klägerin mittels eines am 9. August 1961 abgesandten Einschreibebriefes zugestellt worden. Sie hat dagegen am 6. September 1961 Revision eingelegt und sie wie folgt begründet: Es sei unrichtig, daß O. zum Antritt des verlängerten Heimweges nicht durch Umstände veranlaßt worden sei, die in seiner versicherten Tätigkeit begründet gewesen seien. O. habe den Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung nicht üblicherweise mit der Straßenbahn, sondern mit seinem eigenen Kraftwagen zurückgelegt. Es sei gang und gäbe gewesen, daß sich die Arbeitskameraden gegenseitig in ihren Kraftfahrzeugen mitgenommen hätten, auch wenn damit Umwege verbunden gewesen seien. Da O. am Unfalltag seinen Kraftwagen nicht bei sich gehabt habe, sei es verständlich, daß er die Gelegenheit, im Kraftwagen Schipperts mitgenommen zu werden, nicht ausgeschlagen habe. Außerdem sei seine Beteiligung an der gemeinschaftlichen Heimfahrt geboten gewesen, weil er erheblich unter Alkoholeinfluß gestanden habe. Die Fahrtroute habe sich aus der Notwendigkeit ergeben, baldmöglichst den überbesetzten Wagen zu entlasten. An dem Umweg über Ilvesheim habe O. kein persönliches Interesse gehabt; er habe nur nach Hause gelangen wollen. Die Mitnahme O' s. in dem Kraftwagen des Betriebsratsvorsitzenden sei im übrigen als ein Akt betrieblicher Fürsorge zu werten und habe daher mit seiner betrieblichen Tätigkeit im inneren Zusammenhang gestanden.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils im Ergebnis bei und führt aus: Unter den gegebenen Umständen hätte die Fahrt zweckmäßigerweise über Mannheim-Neckarstadt nach Ilvesheim führen müssen. Es sei kein vernünftiger Grund zu erkennen, der es rechtfertigen könnte, O. den Versicherungsschutz nach § 543 RVO auf der Fahrt über Ilvesheim zuzubilligen, da er in einem öffentlichen Verkehrsmittel auf direktem Wege hätte nach Hause gelangen können. Unter dem Gesichtspunkt der Betriebsfürsorge könne der Versicherungsschutz nicht bejaht werden, da O. sich nicht aus betrieblichen Gründen in den Zustand der Trunkenheit hätte zu versetzen brauchen; im übrigen habe ein solcher Zustand bei ihm auch nicht bestanden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Das Rechtsmittel hatte auch Erfolg.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Teilnahme des Kraftfahrzeugmeister Karl O. an der von den Betriebsangehörigen der Firma Daimler-Benz-AG – Niederlassung Mannheim – am 18. Februar 1958 veranstalteten Fastnachtsfeier einer versicherten Tätigkeit gleichzuerachten ist. Es hat jedoch zu Unrecht verneint, daß O. auf dem Heimweg von dieser Veranstaltung unter Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF stand. Nach den in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen befand sich O. im Zeitpunkt des Unfalls auf der Fahrt von der Arbeitsstätte zu seiner Wohnung, allerdings nicht auf dem kürzesten Weg dorthin, sondern auf einem Uniweg, der sich durch die Gelegenheit ergab, gemeinsam mit anderen Betriebsangehörigen im Personenkraftwagen des Betriebsratsvorsitzenden des Unternehmens mitgenommen zu werden. Dieser Weg war rund viermal so lang wie die kürzeste Verbindung zwischen der Arbeitsstätte und der Wohnung O' s., nach der Örtlichen Ausdehnung also ein großer Umweg. Solche Umwege sind im Gegensatz zu unbedeutenden kleinen, nach der Rechtsprechung für den Versicherungsschutz unschädlichen Abweichungen von der kürzesten Wegstrecke nur versichert, wenn sie unter Berücksichtigung aller nach der Verkehrsanschauung in Betracht zu ziehenden Umstände trotz der Länge noch als rechtlich unerheblich angesehen werden können (vgl. BSG 4, 219, 222; SozR RVO § 543 Bl. Aa 26 Nr. 33). Umstände dieser Art. sind im vorliegenden Streitfall nach den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht vorhanden. O. wäre weder durch den Faschingstrubel noch durch das schneefeuchte Wetter gehindert gewesen, auf dem direkten Wege durch das Stadtinnere zu seiner Wohnung zu gelangen. Die Benutzung der Straßenbahn wäre ihm möglich gewesen; er hätte bis zur nächsten, nur 400 m von der Arbeitsstätte entfernten Haltestelle trotz Schneematsches zu Fuß gehen können. Der Weg, den O. eingeschlagen hat, war daher als ein erheblicher Umweg anzusehen.
Gleichwohl war der Unfall, der O. auf diesem Umweg zustieß, ein unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehender Wegeunfall. Auch bei einer erheblichen Abweichung des Versicherten von dem kürzesten Weg zur Wohnung kann der nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen dem Heimweg und der versicherten Tätigkeit gegeben sein, wenn der Umweg wesentlich durch betriebliche Umstände bedingt ist. Diese Voraussetzung ist nach der Auffassung des erkennenden Senats in dem vorliegenden Streitfall gegeben. Wohl ist, wie in dem angefochtenen Urteil unter Hinweis auf die in SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 17 Nr. 21 veröffentlichte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 6. April 1960 zutreffend ausgeführt ist, die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf einen erheblichen Umweg nicht schon dadurch gerechtfertigt, daß der Versicherte mit der Zurücklegung des Umweges keine andere Absicht verfolgte, als nach Hause zu gelangen. Ebensowenig ist aber der Versicherungsschutz für einen solchen Umweg im Gegensatz zu der Auffassung des LSG ohne weiteres zu verneinen, weil es der Versicherte unterlassen hat, die kürzestmögliche und ihm zumutbare Vorkehrsverbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zu benutzen. Der Versicherte ist bei der Zurücklegung des Weges nach und von der Arbeitsstätte in der Wahl des Verkehrsmittels frei. Es ist ihm daher zuzugestehen, daß er einen der Art. des in Anspruch genommenen Verkehrsmittels entsprechenden weiteren Weg benutzt, es sei denn, daß dieser Weg erheblich zeitraubender ist oder hierfür Beweggründe maßgebend sind, die seinem privaten Lebensbereich zugerechnet werden müssen. Dies ist bei der Zurücklegung des im vorliegenden Streitfall zu beurteilenden Umweges nicht der Fall. Zwar mag bei der Wahrnehmung der Gelegenheit, mit dem Kraftwagen seines Arbeitskameraden Schippert nach Hause gefahren zu werden, für O. auch die persönliche Bequemlichkeit eine Rolle gespielt haben. Daran jedoch, daß die Fahrt auf dem weiten Wege über Ilvesheim nach seiner Wohnung führen sollte, war er nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht aus einem privaten Grunde interessiert. Diesen Umweg nahm er nur in Kauf, weil die Fahrtroute durch die Zahl und Zusammensetzung der Fahrtteilnehmer vorgezeichnet war. Der Kraftwagen war überbesetzt; schon in Seckenheim wäre eine erwachsene Person ausgestiegen, die anderen hätten ihn bis auf O. und den Fahrer in Ilvesheim verlassen. Bei allen diesen Wageninsassen handelte es sich um Beschäftigte und Familienangehörige eines solchen, die dem Unternehmen angehörten oder wenigstens verbunden waren. Für sie, außer O. und den Fahrer, war der unfallbringende Weg der kürzeste Heimweg, bei dessen Zurücklegung der überbesetzte Wagen auch baldmöglichst hätte entlastet werden können. Es lag daher nicht nur im Sinne einer vernünftigen Gestaltung der gemeinschaftlichen Heimfahrt, an der O. – wie oben dargelegt ist – ohne Schaden für seinen Versicherungsschutz überhaupt teilnehmen durfte, sondern wesentlich auch im betrieblichen Interesse, daß die Fahrt mit ihm in der eingeschlagenen Richtung angetreten wurde. Im Gegensatz zur Meinung des LSG wäre es mit der hervorgehobenen Stellung O' s. als Kraftfahrzeugmeister in dem Unternehmen nicht vereinbar gewesen, hätte er sich als erster nach Hause fahren lassen und den anderen Fahrtteilnehmern zugemutet, in dem überbesetzten Wegen bis Ilvesheim eine mehr als doppelt so lange Fahrt wie auf dem für sie direkten Weg dorthin zurückzulegen. Diese den Umweg für O. rechtfertigenden Umstände waren nach Auffassung des erkennenden Senats in einen so erheblichen Maße betriebsbezogen, daß der ursächliche Zusammenhang im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF als gegeben anzusehen ist. Dem unternehmensfremden Umstand, daß der Kraftwagen bei Antritt der Fahrt überbesetzt war, konnte bei dieser Beurteilung der Rechtslage keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden.
Die Beklagte ist daher zur Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung an die Klägerin verpflichtet; dazu gehört auch das gesetzliche Sterbegeld. Im erstinstanzlichen Urteil ist nur über den Anspruch auf Hinterbliebenenrente entschieden worden; die Klägerin hatte laut Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem SG auch nur diesen Anspruch geltend gemacht. Sie hat jedoch ihre Klage im Wege der zulässigen Anschlußberufung auf den Sterbegeldanspruch in zulässiger Weise erweitert. Hierüber hat das LSG, das ihren Anspruch auf Hinterbliebenenentschädigung mangels Anerkennung eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat, im negativen Sinne mitentschieden. Nachdem nunmehr ihre Revision gegen das Berufungsurteil Erfolg hatte, war die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die gesetzlichen Hinterbliebenenansprüche ohne Einschränkung zu gewähren.
Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben, die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung der Klägerin die Beklagte verurteilt werden, der Klägerin auch Sterbegeld zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Schmitt, Hunger
Fundstellen