Leitsatz (amtlich)

Bei Unternehmern, die freiwillig bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, ist der Berechnung des Verletztengeldes nicht der Grundlohn nach dieser Versicherung sondern gemäß RVO § 561 Abs 3 der 360. Teil des Jahresarbeitsverdienstes zugrunde zu legen.

 

Normenkette

RVO § 561 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, Abs. 3 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob das Verletztengeld des Klägers, eines Unternehmers, nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 oder nach § 561 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu berechnen ist.

Der Kläger ist selbständiger Unternehmer eines Gartenbaubetriebes und bei der beklagten Berufsgenossenschaft nach einem Jahresarbeitsverdienst (JAV) von insgesamt 36000 DM versichert. Außerdem ist er bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Landkreis B freiwillig nach einem Grundlohn von 10 DM weiterversichert. Wegen der Folgen eines am 24. März 1969 erlittenen Arbeitsunfalls war er vom 25. März bis 20. April 1969 arbeitsunfähig. Für diesen Zeitraum gewährte ihm die Beklagte Verletztengeld gemäß §§ 560 ff RVO, das sie nach einem Grundlohn von 10 DM täglich berechnete.

Den Antrag des Klägers, das Verletztengeld nach einem JAV von 36000 DM zu berechnen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Juni 1969 ab. Zur Begründung führte sie aus, das Verletztengeld sei nicht nach § 561 Abs. 3 RVO, sondern nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO zu berechnen, weshalb der Grundlohn in der freiwilligen Krankenversicherung maßgebend sei. Auf die Klage hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung des dem Kläger zustehenden Verletztengeldes von einem JAV von 36000 DM auszugehen (Urteil vom 4. Februar 1970).

Das Landessozialgericht (LSG) hat die - zugelassene - Berufung zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, daß die Berechnung des Verletztengeldes nach § 561 Abs. 3 RVO zu erfolgen habe; denn die Berechnung nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO i. V. m. § 182 Abs. 6 und § 180 Abs. 1 Satz 3 RVO gelte - wie sich auch aus der Gesetzesvorgeschichte ergebe - nur für Arbeitnehmer, nicht jedoch für selbständige Unternehmer, die lediglich freiwillig weiterversichert sind.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, die Begründung des Sozialpolitischen Ausschusses des Bundestages zu dieser Vorschrift, eine Trennung zwischen Pflicht- und freiwillig Versicherten sei nicht erforderlich, spreche für die Einbeziehung auch der freiwillig krankenversicherten Unternehmer in die Grundlohnregelung nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO. Deshalb sei die Berechnung des Verletztengeldes, obwohl sie im vorliegenden Fall "ausgesprochen unbillig" sei, zu Recht erfolgt.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist unbegründet.

Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, daß das dem Kläger zustehende Verletztengeld nicht nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO, sondern nach § 561 Abs. 3 RVO unter Zugrundelegung eines JAV's von 36000 DM zu berechnen ist.

Nach der letztgenannten Bestimmung ist bei den "übrigen" gegen Arbeitsunfall Versicherten - d. h. bei den Personen, auf die die Regelungen des § 561 Abs. 1 und 2 RVO keine Anwendung finden - der Berechnung des Verletztengeldes der 360. Teil des JAV zugrunde zu legen. Diesem Personenkreis ist der Kläger zuzurechnen.

Zwar verweist § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO hinsichtlich der Berechnung des Verletztengeldes für die bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen - also auch für die freiwillig Versicherten - auf § 182 Abs. 6 RVO, und nach dieser Vorschrift, die die Berechnung des Krankengeldes für diejenigen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung enthält, deren Regellohnberechnung in § 182 Abs. 5 RVO nicht geregelt ist - dazu gehören insbesondere die Arbeiter, deren Entgelt nach Monaten bemessen ist, ferner die freiwillig oder pflichtversicherten Angestellten -, ist der Grundlohn (§ 180 RVO) der gesetzlichen Krankenversicherung für die Berechnung des Verletztengeldes heranzuziehen. Diese Bestimmung findet jedoch auf selbständige Unternehmer, die lediglich freiwillig bei der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, keine Anwendung.

Der Zweck der Regelung in § 561 RVO war, die Vorschriften der Unfallversicherung an die entsprechenden Regelungen der Krankenversicherung inhaltlich anzugleichen (vgl. BT-Drucks. IV/120 S. 56). Eine pauschale Angleichung ist jedoch nicht erfolgt, vielmehr hat der Gesetzgeber den Besonderheiten der Unfallversicherung vor allem bei der Frage des Höchstarbeitsverdienstes Rechnung getragen. Aber aus der generellen Verweisung auf die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung folgt, wie das LSG zutreffend erkannt hat, daß der Gesetzgeber insoweit in erster Linie an Arbeitnehmer bzw. an die Bezieher von Arbeitsentgelt gedacht hat, ohne Rücksicht darauf, ob diese Arbeitnehmer pflicht- oder freiwillig versichert sind, wie etwa die höher verdienenden Angestellten (vgl. § 165 Abs. 5 RVO). In diesen Fällen soll das Verletztengeld nach dem Grundlohn (§ 182 Abs. 6, § 180 RVO) der gesetzlichen Krankenversicherung berechnet werden, um so dem letztgenannten Personenkreis eine ihrem wirklichen Arbeitsverdienst entsprechende Bemessungsgrundlage für das Verletztengeld zu schaffen (siehe Dörner/Jegust, BG 1963, 153, 159 linke Spalte). Der Unternehmer hingegen bezieht kein Arbeitsentgelt im eigentlichen Sinn und läßt sich rechtssystematisch nicht in den Kreis der von der Vorschrift des § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO erfaßten Personen einordnen (vgl. LSG Bremen, Breithaupt 1968, 389 = DOK 1968, 162 sowie ZfS 1968, 27).

Nun ist zwar die ursprüngliche Fassung des § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO, die zunächst ausschließlich für die bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung Pflicht versicherten gelten sollte, auf Veranlassung des Sozialpolitischen Ausschusses des Bundestags geändert und auch auf die freiwillig versicherten Personen ausgedehnt worden (vgl. BT-Drucks. IV/938 - neu - S. 9), und der Ausschuß hat dazu ausgeführt, er halte eine Trennung zwischen pflicht- und freiwillig versicherten Personen nicht für erforderlich, für beide Kategorien von Versicherten solle die Art der Berechnung des Verletztengeldes in Abs. 1 abschließend geregelt sein. Diese Begründung spricht - entgegen der Auffassung der Revision - nicht für die Einbeziehung auch der freiwillig krankenversicherten Unternehmer in die Grundlohnregelung nach § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO. Die Änderung hatte lediglich den Zweck, die sozialrechtlichen Vorteile der genannten Bestimmung auf einen größeren Personenkreis und damit auch auf diejenigen zu erstrecken, die einen Grundlohn nicht haben (vgl. BT-Drucks. aaO). Nun haben zwar Arbeitgeber auch keinen Grundlohn; unter "Personenkreis" i. S. d. BT-Drucks. aaO kann aber sinngemäß nur der Kreis der nicht selbständig tätigen Personen verstanden werden, zumal sich - wie bereits dargelegt - § 561 Abs. 1 Nr. 2 RVO nur auf Arbeitnehmer bezieht. Dies ergibt sich auch aus der Rechtsnatur einer Unternehmerversicherung, wie Stork (SozVers. 1970, 299, 300, linke Spalte) zutreffend hervorgehoben hat. Die Unternehmerversicherung unterscheidet sich in der gesetzlichen Unfallversicherung von der Arbeitnehmerversicherung. Die erstgenannte Versicherung ist eine auf versicherungsrechtlicher Basis aufgebaute Eigenhilfe der Unternehmer gleicher Berufssparten. Sie haben grundsätzlich das Recht, die Höhe des JAV für die Entschädigungsberechnung für sich und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten selbst zu bestimmen und zahlen auch entsprechende Beiträge (vgl. § 632 RVO). Die Arbeitnehmerversicherung hingegen legt bei der Entschädigung die tatsächlichen Einkommensverhältnisse zugrunde. Es kommt noch hinzu, daß auch der Sinn des Verletztengeldes die vom Senat vertretene Auffassung stützt. Das Verletztengeld übt eine Lohnersatzfunktion aus, d. h., es soll einen unfallbedingten Einnahmeausfall ausgleichen. Dieser Sinn würde aber, wenn es für die Berechnung des Verletztengeldes immer auf den Grundlohn der gesetzlichen Krankenversicherung ankäme, bei der Unternehmerversicherung vereitelt. Der Unternehmer würde insbesondere dadurch, daß er sich bei der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig weiterversichert hat, im Verhältnis zu demjenigen, der sich bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert, schlechter gestellt werden, obgleich diese Versicherung der der freiwilligen Versicherung bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung weitgehend entspricht (vgl. § 381 Abs. 4 RVO). Daß dies der Sinn der vorgenannten Änderungen durch den Sozialpolitischen Ausschuß sein soll, ist weder ersichtlich noch erlaubt der Gesetzeswortlaut eine dahingehende Auslegung. Nach alledem war das Verletztengeld des Klägers nach § 561 Abs. 3 RVO zu berechnen und demgemäß die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668725

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge