Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhaltenbleiben der Mitgliedschaft. Wiederaufleben der Mitgliedschaft

 

Leitsatz (redaktionell)

Nach RVO § 311 aF iVm dem "Verbesserungserlaß" vom 1943-11-02 (AN 1943, 485) idF vor der Neuregelung durch RehaAnglG § 21 Nr 21 mit Wirkung ab 1974-10-01 (RehaAnglG § 45 Abs 1) blieb die Mitgliedschaft Arbeitsunfähiger während des Krankengeldanspruchs nur erhalten. Eine tatsächliche Krankengeldzahlung nach Beendigung der Dreijahresfrist des RVO § 183 Abs 2 S 1 brachte die - nicht freiwillig fortgesetzte - Mitgliedschaft nicht wieder zur Entstehung.

 

Orientierungssatz

Die Wiederaufnahme der Krankengeldzahlung wegen Ablauf des Drei-Jahres-Zeitraumes bringt eine erloschene Mitgliedschaft nicht wieder zur Entstehung; denn nicht jede tatsächliche Krankengeldzahlung erhält die Mitgliedschaft und begründet damit den Anspruch auf Krankenpflege.

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1961-07-12, Abs. 1 S. 2 Fassung: 1961-07-12, § 311 Fassung: 1924-12-15; RAMErl 1943-11-02 Abschn. 1 Nr. 6; RehaAnglG § 21 Nr. 21 Fassung: 1974-08-07, § 45 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

SG Münster (Entscheidung vom 29.04.1977; Aktenzeichen S 8 J 144/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29. April 1977 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 726,42 DM zu zahlen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt oder die beigeladene Innungskrankenkasse die Kosten der ambulanten Behandlung des tbc-kranken S. in der Zeit vom 27. Mai 1971 bis zum 31. Dezember 1972 zu tragen hat.

S. ist seit Mai 1968 wegen Tbc arbeitsunfähig. Für die Zeit vom 27. Mai 1968 bis 21. Juni 1970 zahlte die Beigeladene Krankengeld. Sie gewährte auch ambulante Heilbehandlung - Krankenpflege - in dieser Zeit und im Anschluß daran gemäß § 183 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch weitere 26 Wochen bis zum 20. Dezember 1970. Die mit dem Ende des Krankengeldbezugs beendete Mitgliedschaft bei der Beigeladenen setzte S. nicht fort. Die Beklagte zahlte Übergangsgeld vom 22. Juni 1970 an und gewährte vom 21. Dezember 1970 an ambulante Heilbehandlung.

Nach Beendigung der Dreijahresfrist (§ 183 Abs 2 Satz 1 RVO) zahlte die Beigeladene wieder für 78 Wochen Krankengeld. In dieser Zeit - vom 27. Mai 1971 bis zum 31. Dezember 1972 - lehnte die Beklagte die Gewährung von ambulanter Heilbehandlung ab, weil sie der Auffassung ist, die Beigeladene sei auch dafür wieder zuständig geworden. Der Kläger, der die Kosten der ambulanten Heilbehandlung gemäß § 59 Abs 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vorläufig in Höhe von 726,42 DM übernahm, verlangt den Ersatz dieser Kosten von der Beklagten, hilfsweise von der Beigeladenen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beigeladene verurteilt. Nach dem Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalls sei für die krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche allein entscheidend, daß ihre Voraussetzungen zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles vorgelegen hätten. Das gelte auch für die Mitgliedschaft. Auch diese müsse zur Zeit des Versicherungsfalles, nicht aber zur Zeit der Leistungsgewährung vorliegen. Es wäre auch widersinnig, dem Versicherten zwar Krankengeld zu gewähren, ihm aber die Hilfen zu versagen, die zur Bekämpfung der Krankheit erforderlich seien.

Die Beigeladene hat mit Zustimmung der übrigen Beteiligten die in dem angefochtenen Urteil zugelassene Sprungrevision eingelegt. Der von dem SG zitierte Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalles möge zutreffen. Damit könne aber nicht die zeitliche Leistungsbeschränkung, wie sie für die Krankenpflege in § 183 Abs 1 Satz 2 RVO ausdrücklich festgelegt sei, überschritten werden. Krankenpflege ende hiernach 26 Wochen nach Ausscheiden aus der Mitgliedschaft. Wenn der Krankengeldanspruch nach § 183 Abs 2 Satz 1 RVO wieder auflebe, so gelte dies nur für diesen Anspruch. Schließlich ergebe sich aus dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Oktober 1977 - 3 RK 35/75 -, daß der Krankengeldanspruch entgegen der bisherigen Meinung der Beteiligten und des SG nicht wieder auflebe, wenn - wie hier - der Kranke nicht mehr Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Sie beantragt,

das Urteil des SG vom 29. April 1977 aufzuheben.

Einen weiteren Sachantrag - Klageabweisung oder Verurteilung der Beklagten - stellt sie nicht.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, aus dem Urteil des Senats vom 5. Oktober 1977 ergebe sich, daß Krankengeld nur in Verbindung mit der primären Leistung, Krankenpflege, gewährt werden könne. Die in diesem Urteil weiter vertretene Meinung, keine der beiden Leistungen - Krankengeld und Krankenpflege - dürften ohne Mitgliedschaft gezahlt werden, könne nur für die Zukunft Geltung beanspruchen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

hilfsweise,

unter Aufhebung des von der Beigeladenen angefochtenen Urteils des SG die Beklagte zum Ersatz von 726,42 DM zu verurteilen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beigeladenen ist zulässig und in dem Sinne begründet, daß an ihrer Stelle die Beklagte zur Zahlung von 726,42 DM zu verurteilen ist.

Die Beigeladene stellt zwar nur den Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und unterläßt es, die Klageabweisung oder die Verurteilung der Beklagten zu beantragen. Dadurch ist der Senat aber nicht gehindert, über den gegen die Beklagte gerichteten Anspruch zu entscheiden. Der Zweck der den Sozialgerichten gegebenen Möglichkeit, auch einen Beigeladenen zu verurteilen (§ 175 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), gebietet, auch die Rechtsmittelgerichte in die Lage zu versetzen, unabhängig davon, ob der Beklagte oder der Beigeladene das Rechtsmittel eingelegt hat, über alle in Betracht kommenden Ansprüche zu entscheiden (BSGE 9, 67, 69). Legt - wie hier - nur der nach § 75 Abs 5 SGG verurteilte Beigeladene Revision ein, so ist auch der gegen den Beklagten gerichtete Anspruch Streitgegenstand. Einer Anschlußrevision des Klägers bedurfte es nicht.

Die beigeladene Kasse ist nicht die verpflichtete Stelle im Sinne des § 59 Abs 2 Satz 2 BSHG. Denn der Kranke hatte in der Zeit, für die die Beigeladene in Anspruch genommen wird, keinen Anspruch auf Krankenpflege.

Entgegen der Meinung des SG könnte dieser Anspruch nur gegeben sein, wenn der Kranke in dieser Zeit Mitglied der Beklagten gewesen wäre oder wenn diese Zeit von der Frist für nachgehende Ansprüche nach § 182 Abs 1 Satz 2 RVO erfaßt wäre.

Wie der Senat in seinem Urteil vom 5. Oktober 1977 - 3 RK 35/75 - in SozR 2200 § 183 Nr 11 entschieden und im einzelnen begründet hat, ist für die Entstehung und die Wiederentstehung von Leistungsansprüchen in der gesetzlichen Krankenversicherung als allgemeine versicherungsrechtliche Voraussetzung die Mitgliedschaft bei dem betreffenden Träger der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegt. Das Prinzip der Einheit des Versicherungsfalles ändert an dieser Erkenntnis nichts. Dieses Prinzip kann als Begründung der Auffassung angeführt werden, daß noch in der sich an die Mitgliedschaft anschließenden Frist für nachgehende Ansprüche einzelne Leistungsansprüche entstehen können, wenn nur der Versicherungsfall vor Beendigung der Mitgliedschaft eingetreten ist (vgl BSGE 26, 57).

In der streitigen Zeit war aber sowohl die Mitgliedschaft des Kranken beendet, als auch die 26-Wochen-Frist für nachgehende Ansprüche nach § 183 Abs 1 Satz 2 RVO abgelaufen. Seine Mitgliedschaft, die sich auf sein Beschäftigungsverhältnis gründete (§ 165 Abs 1 Nr 1 RVO), ist während der Arbeitsunfähigkeit nur solange aufrecht erhalten geblieben, wie die Kasse ihm Krankengeld zu gewähren hatte. Das war nach den Feststellungen des SG die Zeit bis zum 21. Juni 1970. Die Beendigung der Mitgliedschaft folgt aus Abschn I Ziff 6 Buchst a des Erlasses des Reichsarbeitsministers - Verbesserungserlaß - vom 2. November 1943 (RABl II = AN 485). Diese Vorschrift, die bis zum Inkrafttreten des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) am 1. Oktober 1974 galt (vgl § 43 Nr 2 RehaAnglG), lautete: "Arbeitsunfähige bleiben Mitglieder, solange die Kasse ihnen Krankengeld zu gewähren hat oder Krankengeld oder Krankenhauspflege gewährt".

Die tatsächliche Zahlung von Krankengeld brachte die Mitgliedschaft des Kranken nicht wieder zur Entstehung. Das folgt schon daraus, daß nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Verbesserungserlasses die Mitgliedschaft selbst bei einer Zahlungspflicht der Kasse nur erhalten bleibt und nicht eine beendete Mitgliedschaft wieder begründet wird (s.a. v. Wulffen, BKK 1978, 157, 159 FN 25). Der Hinweis in Abschn I Ziff 6 Buchst a des Verbesserungserlasses auf die mitgliedschaftserhaltene Wirkung auch der tatsächlichen Krankengeldzahlung ist in Verbindung mit Abschn I Nr 2 Buchst a des Verbesserungserlasses zu sehen. Hiernach ist Krankengeld zwar grundsätzlich nur für 26 Wochen zu gewähren. Nach Satz 3 dieser Vorschrift "kann" allerdings unter bestimmten Voraussetzungen für eine längere Zeit Krankengeld gewährt werden. Eine solche auf einer Entscheidung nach dieser Vorschrift beruhende Krankengeldzahlung sollte die Mitgliedschaft erhalten. Es ist aber kein Grund dafür ersichtlich, daß jede tatsächliche Krankengeldzahlung die Mitgliedschaft erhalten und damit auch Krankenpflegeansprüche begründen sollte.

Da der Kranke in der streitigen Zeit keinen Krankenpflegeanspruch gegen einen Träger der sozialen Krankenversicherung hatte, waren die Voraussetzungen für das Ruhen des Anspruchs gegen den beklagten Rentenversicherungsträger (vgl § 1244a Abs 3 Satz 2 RVO) nicht gegeben. Da aber die Voraussetzungen für den Anspruch des Kranken auf Tbc-Hilfe gegen die Beklagte - unstreitig - gegeben sind, ist sie die verpflichtete Stelle im Sinne des § 59 Abs 2 Satz 2 BSHG. Sie war daher antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655022

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