Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente
Orientierungssatz
Zum Statut des letzten gemeinschaftlichen Wohnsitzes - Scheidungsfolgen bei einer in der DDR ausgesprochenen Ehescheidung - Unterhaltsanspruch gegen geschiedene Ehegatten
Normenkette
RVO § 1265 S. 2 Fassung: 1972-10-16, S. 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Februar 1977 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 22. April 1976 sowie der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1975 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen, am 19. April 1974 verstorbenen Ehemannes ab 1. August 1974 zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Klägerin als geschiedener Ehefrau eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes (Versicherter) zusteht.
Die Klägerin siedelte im Oktober 1955 aus der DDR nach Berlin-West über, während der Ehemann in der DDR verblieb. Die Ehe wurde am 12. Juni 1959 durch das Kreisgericht Schwerin-Stadt ohne Schuldausspruch geschieden. Zwischen den früheren Eheleuten bestand keine Unterhaltsregelung und die Klägerin erhielt auch nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann keine Unterhaltszahlungen. Der Versicherte ging in der DDR eine zweite Ehe ein. Er starb dort am 19. März 1974. Die Klägerin bezog zur Zeit des Todes des Versicherten Altersruhegeld in Höhe von 375,60 DM sowie eine Verletztenrente. Der Versicherte bezog in der DDR eine Altersrente, die ab 1. Juli 1968 158,60 DM-Ost betrug.
Die Beklagte lehnte den am 1. Juli 1974 gestellten Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 10. Februar 1975 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Urteil vom 22. April 1976 abgewiesen. Die von der Klägerin eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 24. Februar 1977 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Wartezeit von 60 Monaten sei zwar erfüllt, aber die Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 und 2 RVO seien nicht gegeben. Die Klägerin habe zur Zeit des Todes des Versicherten keinen Unterhaltsanspruch nach den Vorschriften des Ehegesetzes 1946 gehabt, weil dieses Gesetz für die Unterhaltsregelung zwischen den beiden früheren Eheleuten nicht zur Anwendung kommen könne. In Fällen der vorliegenden Art sei das Statut des letzten gemeinsamen Aufenthalts der früheren Eheleute, das für einen der Beteiligten fortgelte, maßgebend. Das bedeute hier zwar, daß von der Geltung des Ehegesetzes 1946 auszugehen sei, weil die Klägerin die DDR im Oktober 1955 verlassen habe und das Ehegesetz 1946 dort erst am 24. November 1955 durch die Eheverordnung 1955 ersetzt worden sei. Das Ehegesetz könne aber nicht angewendet werden, weil die spätere Aufhebung dieses Gesetzes zu berücksichtigen sei. Ein zwingender Grund dafür, das im Zeitpunkt der Trennung am gemeinsamen Wohnsitz der Eheleute geltende Recht für den Geschiedenen-Unterhalt festzuschreiben, sei nicht ersichtlich, zumal der Anspruch der Klägerin davon abhänge, ob sie gegen den Versicherten zur Zeit seines Todes - dh während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes - einen Unterhaltsanspruch gehabt habe. Beim Tod des Ehemannes, im Jahre 1974, habe als Statut des letzten gemeinsamen Wohnsitzes das Familiengesetzbuch der DDR gegolten. Der Rechtsprechung des 4., 5. und 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), die zu einer Anwendung des Ehegesetzes 1946 kommen würde, sei nicht zu folgen.
Ein Unterhaltsanspruch nach § 29 des Familiengesetzbuches der DDR, der möglicherweise als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 Satz 1 RVO in Betracht komme, sei nicht gegeben. Eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nach dieser Bestimmung wäre auf Dauer nur dann gegeben, wenn im Jahre 1974 voraussehbar gewesen wäre, daß die Klägerin sich keinen eigenen Erwerb hätte schaffen können und dem Versicherten eine unbefristete Zahlung unter Berücksichtigung aller Umstände zumutbar gewesen wäre. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Die Klägerin habe zur Zeit des Todes 375,60 DM Altersruhegeld sowie eine Verletztenrente bezogen, ihr notwendiger Lebensbedarf sei damit aus eigenem Erwerb gesichert gewesen.
Auch die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO seien nicht erfüllt. Ein Rentenanspruch sei nur gegeben, wenn die Unterhaltspflicht des Versicherten aus bestimmten Gründen, nämlich wegen seiner Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse oder wegen der Erwerbsverhältnisse der Klägerin nicht bestanden hätte. Sei die Unterhaltspflicht aber aus anderen Gründen zu verneinen, sei § 1265 Satz 2 RVO nicht anzuwenden. Ob der Unterhaltsanspruch nach der Eheverordnung 1955 oder nach dem Familiengesetzbuch der DDR dem Unterhaltsanspruch nach dem Ehegesetz 1946 gleichzustellen sei, sei bisher noch nicht entschieden worden. Sei diese Frage zu verneinen, so käme ein Rentenanspruch deshalb nicht in Betracht, weil keine Rechtsgrundlage für einen Unterhaltsanspruch im Sinne des § 1265 Satz 1 RVO vorhanden sei. Seien Unterhaltsansprüche nach dem Recht der DDR denen des Ehegesetzes gleichzusetzen, scheitere der Rentenanspruch daran, daß nach § 29 des Familiengesetzbuches der DDR Unterhalt nur unter bestimmten Voraussetzungen unbefristet ausgesprochen werden könne, aber nicht müsse. Die Anwendung des § 29 des Familiengesetzbuches der DDR verstoße auch nicht gegen den "ordre public" (Art 30 EGBGB).
Sei der Unterhaltsanspruch der Klägerin allerdings nach dem Ehegesetz 1946 zu beurteilen, dann sei der Rentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO begründet. Die Klägerin habe zur Zeit der Ehescheidung das 45. und zur Zeit des Todes des Versicherten das 60. Lebensjahr vollendet gehabt. Der fiktive Unterhaltsanspruch des Satzes 1 der genannten Vorschriften würde sich dann nach § 58 Ehegesetz (EheG) richten. Das Scheidungsurteil enthalte zwar keinen Schuldausspruch, aber nach den Feststellungen des Kreisgerichts treffe den Versicherten nach den Vorschriften des Ehegesetzes 1946 zumindest das überwiegende Verschulden an der Scheidung, weil er sich schon vor der Trennung der Eheleute einer anderen Frau zugewandt habe. Wegen dieser ehewidrigen Beziehungen hätte die Abwanderung der Klägerin nicht berücksichtigt werden dürfen. Auch eine Vernachlässigung des Versicherten durch die Klägerin sei angesichts seines Verschuldens von geringerer Bedeutung.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 1265 RVO. Das LSG setze sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des 1., 4., 5. und 11. Senats des BSG.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 22. April 1976, den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1975 und das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Februar 1977 aufzuheben, |
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2) |
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die Beklagte zu verurteilen, Geschiedenenrente aus der Versicherung des ... F in gesetzlicher Höhe ab 1. August 1974 zu zahlen, |
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Februar 1977 aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO iVm Satz 1 dieser Vorschrift gegen die Beklagte zu. Einer früheren Ehefrau eines Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, wird nach § 1265 Satz 1 RVO nach dem Tod des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Nach § 1265 Satz 2 RVO in der am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen Fassung findet dann, wenn eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, Satz 1 auch dann Anwendung,
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1) |
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wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat und |
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2) |
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wenn die frühere Ehefrau im Zeitpunkt der Scheidung, Nichtigkeitserklärung oder Aufhebung der Ehe mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen oder das 45. Lebensjahr vollendet hatte und |
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3) |
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solange sie berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist oder mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht oder wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet hat. |
Das LSG hat richtig erkannt, daß nach dieser Regelung eine Hinterbliebenenrente zu zahlen ist, wenn sich die Unterhaltsansprüche der Klägerin nach dem EheG richten. Das ist aber der Fall.
Die geschiedenen Eheleute gehörten bezüglich der Scheidungsfolgen zur Zeit des Todes des Versicherten unterschiedlichen Rechtskreisen an. Entscheidend für die Frage der Unterhaltspflicht ist daher, welche Rechtsordnung anzuwenden ist. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte ist in dieser Frage unterschiedlich (vgl hierzu die näheren Ausführungen in SozR 2200 § 1265 Nr 15). Das BSG knüpft in diesen Fällen für das Recht der Scheidungsfolgen an das Statut des letzten gemeinschaftlichen Wohnsitzes der geschiedenen Eheleute an, das für einen der geschiedenen Eheleute fortgilt (vgl BSG in SozR Nr 59 zu § 1265 RVO und SozR 2200 § 1265 Nr 13, Nr 15, Nr 20 und Urteil vom 29. April 1976 - 4 RJ 341/74 - in FamRZ 1977, 248, 249). Den letzten gemeinsamen Wohnsitz hatten die Eheleute bis zum Oktober 1955 in der DDR; dort galt bis zum Erlaß der Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung (Eheverordnung 1955) vom 24. November 1955 (Gesetzblatt DDR I 849), in Kraft getreten am 29. November 1955, formal das Ehegesetz 1946. Von dieser formalen Geltung des Ehegesetzes ist auch dann auszugehen, wenn dieses Gesetz bereits vorher in der DDR nicht mehr in der gleichen Weise wie in der Bundesrepublik angewendet worden sein sollte (vgl hierzu BSG in SozR Nr 59 zu § 1265 RVO). Das Ehegesetz 1946 galt für die Klägerin in Berlin-West bis zur Zeit des Todes des Versicherten, am 19. März 1974, fort. Die Tatsache, daß das EheG bereits einen Monat nach der Abwanderung der Klägerin in der DDR außer Kraft gesetzt worden ist, kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Wenn als Anknüpfungspunkt für das Recht der Scheidungsfolgen vom Statut des letzten gemeinsamen Wohnsitzes der geschiedenen Eheleute auszugehen ist, dann kann es nicht darauf ankommen, daß sich dieses Statut kurz nach Aufgabe des letzten gemeinschaftlichen Wohnsitzes geändert hat.
Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, die gefestigte Rechtsprechung des BSG aufzugeben. Sie ist vom erkennenden Senat begründet worden (SozR Nr 59 zu § 1265 RVO) und ihr haben sich der 11. Senat (SozR 2200 § 1265 Nr 15), der 1. Senat (SozR 2200 § 1265 Nr 20) sowie der 4. Senat des BSG in dem genannten Urteil vom 29. April 1976 - 4 RJ 341/74 - angeschlossen. Auch im Schrifttum ist ihr zugestimmt worden (vgl zB Beitzke, Anmerkung zu dem im SozR 2200 § 1265 Nr 15 abgedruckten Urteil des 11. Senats in Sozialgerichtsbarkeit 1976 S 452, 453). Das LSG hat sich mit den in den Entscheidungen des BSG für diese Rechtsprechung angegebenen Gründen nicht eingehend auseinandergesetzt. Auch die Rechtsprechung des BGH hält in derartigen Fällen einen Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann nach dem in der Bundesrepublik geltenden Recht jedenfalls insoweit für gegeben, als dieser den nach dem Recht der DDR bestehenden Unterhaltsanspruch übersteigt (BGHZ 34, 134, 151). Es gibt also keine überzeugenden Gründe dafür, von der einheitlichen Rechtsprechung des BSG abzugehen, zumal sie nur noch auslaufendes Recht betrifft; denn nach § 1265 RVO idF des 1. Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421) kommen Rentenansprüche nach dieser Vorschrift nur noch bei Eheauflösungen vor dem 1. Juli 1977 in Betracht.
Mit Recht ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, aus dem Ehescheidungsurteil sei zu entnehmen, daß der Versicherte die Ehescheidung überwiegend verschuldet habe. Dem steht nicht entgegen, daß das Scheidungsurteil des Kreisgerichts Schwerin-Stadt keinen Schuldausspruch enthält. In einem solchen Fall besteht zwar die Möglichkeit, ein Schuldfeststellungsverfahren (§ 606 f Zivilprozeßordnung - ZPO -) durchzuführen. Fehlt es - wie hier - aber an einem solchen Verfahren, so haben die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in dem Rechtsstreit über die Gewährung einer Hinterbliebenenrente als Vorfrage selbst zu entscheiden, ob und welches Verschulden den Versicherten an der Scheidung trifft (BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 13). Da sich aus dem Scheidungsurteil ergibt, daß sich der Versicherte ab Ende 1954 einer anderen Frau zugewandt hatte und nur noch selten zu Hause übernachtete, sind die im Urteil angegebenen Eheverfehlungen der Klägerin (Vernachlässigung des Versicherten und Abwanderung nach Berlin-West) von geringerer Bedeutung. Demnach bestimmen sich die Unterhaltsansprüche der Klägerin gegen den Versicherten nach § 58 EheG.
Eine Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes hat wegen der Erträgnisse der Klägerin aus Erwerbstätigkeit nicht bestanden. Unterhaltsberechtigt im Sinne des § 58 EheG ist nur, wer unterhaltsbedürftig ist, dh wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (vgl BSG 40, 225, 226). Das LSG hat unangegriffen und damit bindend festgestellt, daß der notwendige Lebensbedarf der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten aus eigenem Erwerb gesichert war. Es ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß das Altersruhegeld und die Verletztenrente als Einkünfte aus Erwerbstätigkeit anzusehen sind (vgl BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 9). Damit sind die Voraussetzungen der Nr 1 des Satzes 2 des § 1265 RVO für die Anwendung von Satz 1 dieser Vorschrift gegeben. Die Klägerin erfüllt auch die altersmäßigen Voraussetzungen der Nrn 2 und 3 des Satzes 2 des § 1265 RVO. Sie hatte im Zeitpunkt der Scheidung das 45. Lebensjahr und von dem Zeitpunkt an, von welchem sie die Hinterbliebenenrente begehrt, das 60. Lebensjahr vollendet.
Schließlich steht dem Hinterbliebenenanspruch der Klägerin auch nicht entgegen, daß der Versicherte eine Witwe in der DDR hinterlassen hat. Die Hinterbliebenenrente der Witwe ruht, weil sich die Witwe in der DDR aufhält (vgl BSG in SozR § 1265 RVO Nr 60).
Demnach waren auf die Revision der Klägerin die vorinstanzlichen Urteile sowie der Bescheid vom 10. Februar 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu zahlen, wobei für den Beginn der Rente § 1290 Abs 4 RVO zu beachten war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen