Leitsatz (amtlich)

Zur Anwendung des BVG § 5 Abs 1 Buchst e:

a) Beurteilung der Verantwortungsreife eines 14 1/2jährigen beim Hantieren mit Kriegsmunition verletzten Schülers;

b) kausale Bedeutung einer Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. April 1970 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der im Mai 1952 geborene Kläger erlitt am 7. Oktober 1966 beim Hantieren mit einem Granatzünder durch Detonation Verletzungen u.a. an der linken Hand mit Teilverlust der Finger 1 bis 3. Den Zünder hatte der Kläger, der damals die 7. Volksschulklasse besuchte und sich schon seit längerem für Munition und Waffen interessierte, einige Tage zuvor an einem Bach gefunden und seiner im Elternhaus heimlich aufbewahrten Sammlung von alten Patronen und Granaten einverleibt; er holte diesen Sprengkörper am Abend des 7. Oktober 1966 in die Küche, wo sich seine Eltern und weitere Familienangehörige aufhielten; diese Personen erkannten nicht, daß es sich bei dem Metallgegenstand, in dessen Öffnung der Kläger mit einer Nadel herumstocherte, um einen Geschoßzünder handelte. Nach polizeilichen Ermittlungen war gegen Kriegsende von zurückgehenden Truppen Munition in die Flüsse und Bäche der Umgebung geworfen und in den letzten Jahren auch wiederholt aufgefunden worden. Der Vater des Klägers, der dessen Liebhaberei kannte, hatte diesen wiederholt vor den Gefahren beim Umgang mit Munition gewarnt und ihn aufgefordert, solche Fundstücke zur Polizei zu bringen. Der Kläger gab bei seiner polizeilichen Vernehmung an, er habe von der Gefährlichkeit seines Spielens gewußt, sei jedoch der Meinung gewesen, es könne nichts passieren, weil das Pulver feucht gewesen wäre. Die Folgen der Handverletzung haben zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. geführt.

Das Versorgungsamt D lehnte durch Bescheid vom 18. Dezember 1967 die Gewährung von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit der Begründung ab, der Kläger sei imstande gewesen, die Tragweite seines gefährlichen Tuns zu überschauen. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 4. Juni 1968 zurückgewiesen.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund durch Urteil vom 17. Dezember 1968 unter Änderung des angefochtenen Bescheids in der Fassung des Widerspruchsbescheids festgestellt, daß die am 7. Oktober 1966 erlittene Körperschädigung eine Schädigung im Sinne des BVG ist: Der Beklagte habe gegen § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG verstoßen, dessen Voraussetzungen hier erfüllt seien. Zwar habe der Kläger durch sein Verhalten dazu beigetragen, daß die kriegseigentümliche Gefahr verwirklicht wurde und seine Verletzung herbeiführte; jedoch habe er im Unfallzeitpunkt noch nicht die nötige Reife und Einsicht in die Gefährlichkeit seines Verhaltens besessen. Er habe noch durchaus in einer kindlichen, zur Unterschätzung der Risiken verleitenden Sphäre gelebt, wie sich aus seinem durch die Schulzeugnisse belegten unterdurchschnittlichen Bildungs- und Reifegrad ergebe (ständig mangelhafte Noten in mehreren Fächern, darunter zumal Rechnen; im März 1963 Ziel der 5. Klasse nicht erreicht; im März 1965 nur altershalber in die 7. Klasse versetzt). Die Einsichts- und Willensfähigkeit des Klägers sei noch eindeutiger zu verneinen, als dies das Bundessozialgericht (BSG) im Falle eines "normalentwickelten 14 1/2jährigen" (SozR Nr. 29 zu § 5 BVG) entschieden habe. Das durch kindliche Neugier geprägte Verhalten des Klägers trete hiernach an Bedeutung hinter den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zurück.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 8. April 1970 (Breithaupt 1970, 955) die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

Gegen das am 22. Mai 1970 zugestellte Urteil hat der Kläger am 3. Juni 1970 Revision eingelegt und sie innerhalb der nach § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verlängerten Frist folgendermaßen begründet: Zu Unrecht habe das LSG angenommen, daß der Kläger zur Zeit des Unfalls schon die nötige Einsichtsfähigkeit und Sachkenntnis besessen habe, um das Gefährliche seines Tuns zu erkennen, und daß deshalb das eigene Verhalten des Klägers die wesentliche Ursache des schädigenden Ereignisses gewesen sei. Bei zutreffender Abwägung der für den eingetretenen Erfolg ursächlichen Bedingungen hätte das LSG vielmehr zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß der kriegseigentümliche Gefahrenbereich die Schädigung wesentlich verursacht habe. Aus der Kenntnis des Klägers von der Gefährlichkeit und Unerlaubtheit des Munitionsammelns sei nicht schlüssig zu folgern, daß er deshalb auch schon die nötige Einsicht in die Gefährlichkeit seiner Manipulationen besessen habe; hierbei handele es sich um zwei völlig verschiedene Vorgänge; auch die Kenntnis einer besonderen Gefahr schließe nicht aus, sich ihr gegenüber uneinsichtig zu verhalten. Die Angaben des Klägers, er habe geglaubt, daß bei seinen Hantierungen am Zünder nichts passieren würde, offenbarten eindeutig seine noch kindliche Psyche und seien typisch für ein seinem damaligen Lebensalter entsprechendes Verhalten. Dies gelte um so mehr, wenn der Entwicklungsgang des Kindes unterdurchschnittlich gewesen sei, was das LSG beim Kläger nicht hinreichend berücksichtigt habe. Die erst im Abschlußzeugnis vom 31. Juli 1967 enthaltene Note "gut" für Physik/Chemie rechtfertige keine andere Beurteilung. Im übrigen habe der vom Kläger auf diesem Gebiet erreichte Bildungsstand sich zweifellos nur auf den Unterrichtsstoff erstreckt, wozu nähere Kenntnisse über Waffen, Munition und Sprengkörper nicht gehörten. Falls das LSG trotz des kindlichen Alters und der verlangsamten Entwicklung des Klägers dessen Einsichtsfähigkeit bejahen wollte, hätte es sich gedrängt fühlen müssen, über den Reifegrad des Klägers zur Zeit des Unfalls einen Psychologen als Sachverständigen zu hören; ein solcher Gutachter hätte wahrscheinlich die Frage der Einsichtsfähigkeit verneint. Für die Beurteilung dieser Frage habe die eigene Sachkunde des LSG nicht ausgereicht.

Der Kläger beantragt

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.

Der Kläger stützt seinen Versorgungsanspruch auf § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Nach dieser Vorschrift gelten als eine - den Anspruch auf Versorgung nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG begründende - unmittelbare Kriegseinwirkung auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, wenn sie mit einem der beiden Weltkriege zusammenhängen. Bei Anwendung dieser Vorschrift auf den hier gegebenen Sachverhalt ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß das Herumliegen von Munition in der Umgebung des Wohnorts des Klägers einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich darstellte, weil nach den polizeilichen Ermittlungen diese Munition in den letzten Kriegstagen von zurückgehenden deutschen Soldaten weggeworfen worden und der Fundort für jedermann zugänglich war; wie das LSG ferner festgestellt hat, stammte aus diesem Munitionsfund aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Sprengkörper, den der Kläger zunächst in die elterliche Wohnung mitgenommen und dort am 7. Oktober 1966 durch leichtsinniges Hantieren zur Explosion gebracht hat.

Hinsichtlich des Wegbringens aufgefundener Munition vom Fundort meint das LSG, dieser Umstand beseitige den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich nicht. Diese Ansicht steht in Einklang mit der Rechtsprechung des BSG, wonach das Tatbestandsmerkmal "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" keine örtliche Verbindung der Gefahrenquelle mit dem früheren Kriegsgeschehen erfordert, so daß auch bei einer Verlagerung des Sprengkörpers von dem Ort, wo er ursprünglich den kriegsbedingten Gefahrenzustand hervorrief, dieser Zustand weiter bestehen bleiben kann (vgl. BSG 6, 102; BSG Urteil vom 18.3.1964, BVBl 1964, 114). Für die versorgungsrechtliche Beurteilung ist es demnach unerheblich, daß der Kläger mit dem Geschoßzünder nicht sogleich am Bachufer, wo er ihn gefunden hatte, sondern erst zu Hause gespielt hat. Daß der kriegseigentümliche Gefahrenbereich bis zum Unfallzeitpunkt fortbestanden hat - das LSG hat die Frage offen gelassen -, wäre entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Kläger trotz der Warnung seiner Eltern aus Liebhaberei Kriegsmunition und Waffen heimlich zu Hause gesammelt hat; auf diese Begleitumstände kommt es vielmehr erst an bei der Prüfung der Frage, ob der kriegseigentümliche Gefahrenbereich oder aber das eigene Verhalten des Klägers die wesentliche Ursache für den Eintritt des Unfalls gebildet hat (vgl. SozR Nr. 29 zu § 5 BVG; BSG Urteil vom 18.3.1964 aaO).

Diese Prüfung hat das LSG vorgenommen und ist dabei - im Gegensatz zum SG - zu dem Ergebnis gelangt, wesentliche Bedingung für das schädigende Ereignis vom 7. Oktober 1966 sei das eigene Verhalten des Klägers gewesen. Den hierzu führenden Erwägungen des LSG kann der Senat jedoch nicht beipflichten.

Daraus, daß der Kläger - obschon im allgemeinen ein "schlechter Schüler" - im Abschlußzeugnis vom 31. Juli 1967 für die Unterrichtsfächer Naturkunde und Physik/Chemie die Noten befriedigend und gut erzielt hat, folgert das LSG, er sei "auf technisch-naturwissenschaftlichem Gebiet durchaus versiert" gewesen. Die hiergegen gerichteten Revisionsangriffe sind im Ergebnis unbegründet. Denn auch wenn man berücksichtigt, daß dieser Unterrichtsstoff dem Kläger erst im letzten Schuljahr geboten worden ist und nicht geeignet gewesen sein mag, nähere Kenntnisse über Waffen, Munition und Sprengkörper zu vermitteln, erscheint die vom LSG gezogene Schlußfolgerung doch immerhin insoweit vertretbar, daß beim Kläger schon im Unfallzeitpunkt eine gewisse Begabung für technisch-naturwissenschaftliche Dinge anzunehmen ist.

In den Gründen des angefochtenen Urteils hat sich das LSG ausschließlich mit der Einsichtsfähigkeit des damals 14 1/2 Jahre alten Klägers auseinandergesetzt; es hätte aber ebenso eingehend die Frage erörtern müssen, ob der Kläger nach seiner damaligen psychischen und charakterlichen Entwicklung in der Lage gewesen ist, sich entsprechend seiner aus Belehrungen und Erfahrungen gewonnenen Einsicht zu verhalten.

Mit der - hilfsweise angestellten - Erwägung des LSG, Jugendliche über 14 Jahre seien in gewissem Umfang strafrechtlich verantwortlich, wird kein brauchbares Kriterium zur Entscheidung über das Klagbegehren gewonnen; denn auch ein strafbares Handeln des Verletzten oder eines Dritten schließt nicht aus, daß bei Abwägung der Erfolgsbedingungen im Einzelfall der kriegseigentümliche Gefahrenbereich die versorgungsrechtlich wesentliche Ursache darstellt (vgl. BSG 6, 188, 191; 16, 216, 220; SozR Nr. 29 zu § 5 BVG). Im übrigen hätte das LSG gerade aufgrund dieser Erwägung beachten müssen, daß der von ihm angeführte § 3 Satz 1 des Jugendgerichtsgesetzes die Verantwortlichkeit des Jugendlichen davon abhängig macht, daß dieser nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. hierzu Peters in Handbuch der Psychologie, 11. Band, Forensische Psychologie 1967, S. 269 ff). Solche Maßstäbe, welche den Besonderheiten der kindlichen und jugendlichen Psyche gerecht werden könnten, hat das LSG nicht hinreichend berücksichtigt. Bei seiner Betrachtungsweise werden vielmehr die Umstände überbetont, welche die dem Kläger zuteil gewordenen Informationen - insbesondere Warnungen durch die Eltern - und sein dadurch erworbenes "Bescheidwissen" um die Gefährlichkeit von Explosionsgeschossen betreffen, während die Frage, ob der Kläger nach seiner damaligen geistigen und sittlichen Reife imstande war, gemäß diesen - abstrakten - Einsichten sein Verhalten im täglichen Leben zu steuern, erheblich zu kurz gekommen ist. Diese Frage, die einer genauen Würdigung der Umstände des Einzelfalles bedarf - sie braucht sogar bei einem "normal entwickelten" 14 1/2jährigen Schüler nicht unbedingt bejaht zu werden (SozR Nr. 29 zu § 5 BVG) -, muß hier um so eingehender geprüft werden, als es durchaus zweifelhaft erscheint, ob der Kläger angesichts seiner schulischen Leistungen bis Oktober 1966 als normal entwickelt bezeichnet werden durfte.

Wie die Revision mit Recht vorträgt, hätten sich die Vorinstanzen gedrängt fühlen müssen, zur Klärung dieser Fragen das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Hierfür käme im vorliegenden Fall, bei dem es auf Fragen allgemein psychischer Art, nicht hingegen auf eine Beurteilung krankhafter Befunde ankommen dürfte, in erster Linie ein Psychologe in Betracht (vgl. Peters, aaO, S. 780), worauf auch schon der Nervenarzt Dr. S in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 1. Dezember 1967 hingewiesen hat. Das Urteil des LSG läßt nicht erkennen, inwiefern es selbst die erforderliche Sachkunde besessen habe, um sich in einer so weitgehend das Spezialgebiet der Jugendpsychologie betreffenden Frage allein aufgrund der verfügbaren Unterlagen - Schulzeugnisse und polizeiliche Vernehmungsprotokolle - ohne Anhörung eines Sachverständigen ein richtiges Urteil zu bilden.

Auf die hiernach begründete Revision muß das Berufungsurteil aufgehoben werden. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden; die Sache muß daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird hierbei beachten müssen, daß es unter Umständen auf eine Prüfung der Frage ankommen kann, ob das Verhalten der Eltern des Klägers etwa als überwiegende Mitursache der Explosion und damit die wesentliche Bedingung für den Eintritt des schädigenden Ereignisses zu werten ist. Sofern nämlich der Kläger selbst nicht voll verantwortlich für sein Handeln, sein eigenes Verhalten also nicht die wesentliche Bedingung für den Erfolg gewesen sein sollte, wäre abzuwägen, ob nicht vielleicht das - dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich nicht zuzurechnende - Verhalten der für seine Beaufsichtigung verantwortlichen Eltern als die wesentliche Bedingung des schädigenden Ereignisses anzusehen ist. Auch insoweit bedarf es noch tatsächlicher Feststellungen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669343

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