Leitsatz (redaktionell)
1. Sowohl nach dem Wortlaut des BVG § 35 in der jetzt geltenden Fassung als auch nach der Auslegung der früheren Fassung durch die Rechtsprechung (vergleiche BSG 1960-02-23 10 RV 1371/58 = BSGE 12, 20 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung) wird eine Pflegezulage nur gewährt, wenn der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist, dh wenn er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremde Hilfe dauernd bedarf.
Der Senat hatte keine Veranlassung von dieser Auffassung abzuweichen, zumal diese Auffassung in dem Wortlaut des BVG § 35 durch das 1. NOG KOV vom 1960-06-27 (BGBl 1 1960, 453) Ausdruck gefunden hat und damit zugleich die Auslegung des früheren Wortlauts dieser Vorschrift durch die Rechtsprechung des BSG durch das Gesetz bestätigt worden ist.
Der Auffassung, daß schon dann Anspruch auf Pflegezulage besteht, wenn der Beschädigte zu einzelnen lebensnotwendigen, im täglichen Lebensablauf wiederholt vorzunehmenden Handlungen dauernd nicht imstande ist, kann nicht gefolgt werden.
Der Auffassung des erkennenden Senats steht nicht das Urteil des 8. Senats des BSG (vergleiche BSG 1959-10-29 8 RV 1019/57 = BVBl 1960, 45) entgegen. In dieser Entscheidung hat der 8. Senat den Begriff der Hilflosigkeit iS des BVG § 35 ebenso wie der erkennende Senat und in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BSG definiert und angewendet. Nach der Mitteilung des 8. Senats ist er in der erwähnten Entscheidung nicht von dieser Auslegung des BVG § 35 abgewichen.
2. Hilflosigkeit iS des BVG § 35 liegt nicht vor, wenn der Beschädigte nur für einzelne Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens und daher nur zeitweise fremder Hilfe bedarf
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01, Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 8. Januar 1959 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 18. April 1956 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Bei dem Kläger sind als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 v.H. anerkannt:
1.) Leichte Bewegungsbeschränkung im rechten Schultergelenk nach mehrfacher Verwundung am rechten Arm, Versteifung des linken Hüftgelenks in Beugestellung mit praktischer Verkürzung des Beines um 7 cm, Versteifung des rechten Sprunggelenks. Zahlreiche Narben am ganzen Körper nach Splitterverletzung und Abszesseröffnung.
2.) Chronische Mittelohrvereiterung und Zustand nach Warzenfortsatzoperation links nach Granatsplitterverletzung. Zustand nach Nasendurchschuß mit mäßiger Narbenbildung. Folgezustand einer Gehirnhautentzündung,
und zwar zu 1) und 2) hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Im Oktober 1953 beantragte der Kläger Rentenerhöhung wegen Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen und eine Pflegezulage, weil er infolge der Gelenkversteifungen nicht in der Lage sei, sich selbst anzuziehen und für die meisten Verrichtungen fremde Hilfe benötige. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, hinsichtlich der anerkannten Schädigungsfolgen sei keine wesentliche Änderung, insbesondere keine Verschlimmerung eingetreten; auch seien die Voraussetzungen für eine Pflegezulage nicht gegeben, weil der Kläger nur für einzelne Verrichtungen einer Hilfe bedürfe und damit nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG sei. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch half das Landesversorgungsamt (LVersorgA) nicht ab.
Auf die erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide den Beklagten verurteilt, dem Kläger Rente nach einer MdE um 100 v.H. ab 1. April 1954 zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG aufgehoben, soweit es die Klage abgewiesen hat. Es hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. April 1954 ab die einfache Pflegezulage zu gewähren. Das Berufungsgericht hat den Kläger als hilflos angesehen und dazu ausgeführt, daß die Voraussetzungen der Pflegezulage schon dann erfüllt seien, wenn der Beschädigte auch zu einzelnen, aber lebensnotwendigen, im täglichen Lebensablauf wiederholt vorzunehmenden Handlungen dauernd nicht imstande ist. Hierzu gehöre insbesondere das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, Essen und Trinken sowie ein Mindestmaß von körperlicher Bewegung. Zwar könne der Kläger ungehindert essen und trinken; er könne sich auch - wenn auch mühsam - fortbewegen, sei aber nicht in der Lage, wie unstreitig feststehe, sich ohne fremde Hilfe vollständig an- und auszukleiden und die für ihn besonders wichtige tägliche Fußpflege vorzunehmen. Schließlich könne er sich infolge seiner starken Steh- und Gehbehinderung im Straßenverkehr nicht bewegen, ohne sich und andere zu gefährden, so daß selbst der Versorgungsarzt Dr. G... die Notwendigkeit einer ständigen Begleitperson anerkannt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision hat der Beklagte beantragt,
das Urteil des 17. Senats des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Januar 1959 - Nr. V 994/56 f - aufzuheben und die Berufung des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte rügt die Verletzung des § 35 BVG. Er trägt vor, das LSG habe im angefochtenen Urteil u.a. festgestellt, der Kläger könne sich im Straßenverkehr nicht bewegen, ohne sich und andere zu gefährden. Weder aus dem Sachverhalt noch aus den Urteilsgründen sei ersichtlich, worauf diese Feststellung des Berufungsgerichts gestützt werde. Selbst der Kläger habe im bisherigen Verfahren keine dahingehenden Behauptungen vorgebracht. Auch nach dem Akteninhalt sei diese Feststellung nicht das Ergebnis der vom Gericht durchgeführten Erhebungen. Ferner sei aus dem angefochtenen Urteil nicht ersichtlich, in welcher Form und in welchem Ausmaß der Kläger im Straßenverkehr sich und andere gefährde. Das Berufungsgericht habe deshalb seine Amtsermittlungspflicht durch ungenügende Sachaufklärung verletzt. Selbst wenn man jedoch als richtig unterstelle, daß der Kläger nicht nur beim An- und Auskleiden fremder Hilfe bedürfe, sondern auch im Straßenverkehr sich nicht ohne gewisse Gefährdung bewegen könne, so könne darin noch keine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG gesehen werden. Eine solche liege nur dann vor, wenn der Beschädigte für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedürfe. Da der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nur für einzelne Verrichtungen des täglichen Lebens fremder Hilfe bedürfe, habe er keinen Anspruch auf Pflegezulage.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen und die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren dem Beklagten aufzuerlegen.
Er hält das Urteil insbesondere deshalb für zutreffend, weil der Kläger nach der verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellung des Berufungsgerichts an der Teilnahme am Straßenverkehr ohne eine ständige Begleitperson gehindert und damit einer der wichtigsten Lebensfunktionen beraubt sei. Die Feststellung des Berufungsgerichts, daß der Kläger sich infolge seiner starken Steh- und Gehbehinderung im Straßenverkehr nicht bewegen könne, ohne sich und andere zu gefährden, beruhe offensichtlich auf der von dem Versorgungsarzt Dr. G... anerkannten Notwendigkeit einer ständigen Begleitperson.
Die Auffassung des LSG werde im übrigen durch das Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Oktober 1959 gestützt (8 RV 1019/57).
Die vom LSG gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1, § 166 SGG). Sie mußte Erfolg haben.
Das LSG hat § 35 BVG verkannt. Sowohl nach dem Wortlaut dieser Vorschrift in der jetzt geltenden Fassung als auch nach der Auslegung der früheren Fassung durch die Rechtsprechung (vgl. Urt. des erkennenden Senats vom 23. Februar 1960 - 10 RV 1371/58 - in BSG 12, 20 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung) wird eine Pflegezulage nur gewährt, wenn der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist, d.h. wenn er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Es genügt also für eine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht, daß der Beschädigte für einzelne Verrichtungen und auch nur zeitweise fremder Hilfe bedarf. Zwar ist es nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, jedoch muß der Zustand des Beschädigten es erfordern, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft ist (BSG 8, 97; BSG in SozR BVG § 35 Bl. Ca 3 Nr. 7; BSG Urt. vom 29. Oktober 1959 - 8 RV 1019/57 - im Anschluß an die Rechtspr. des Reichsversorgungsgerichts -RVG- zu dem mit § 35 BVG weitgehend übereinstimmenden § 31 des Reichsversorgungsgesetzes -RVG-; RVG 2, 188 und 207; 6, 43; 7, 218).
Der Senat hatte keine Veranlassung von dieser Auffassung abzuweichen, zumal diese Auffassung in dem Wortlaut des § 35 BVG durch das 1. Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) Ausdruck gefunden hat und damit zugleich die Auslegung des früheren Wortlauts dieser Vorschrift durch die Rechtsprechung des BSG nunmehr durch das Gesetz bestätigt worden ist.
Der Auffassung des Berufungsgerichts, daß schon dann Anspruch auf Pflegezulage bestehe, wenn der Beschädigte zu einzelnen lebensnotwendigen, im täglichen Lebensablauf wiederholt vorzunehmenden Handlungen dauernd nicht imstande ist, konnte daher nicht gefolgt werden.
Der Auffassung des erkennenden Senats steht auch nicht die vom Kläger angezogene Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 29. Oktober 1959 (8 RV 1019/57) entgegen. In dieser Entscheidung hat der 8. Senat des BSG den Begriff der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG ebenso wie der erkennende Senat und in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BSG definiert und angewendet. Nach der Mitteilung des 8. Senats ist er in der erwähnten Entscheidung nicht von dieser Auslegung des § 35 BVG abgewichen; es waren noch weitere Umstände maßgebend, die im Urteil nicht ausdrücklich hervorgehoben worden sind und die Anlaß gegeben haben, den Begriff der Hilflosigkeit als erfüllt anzusehen. Das Berufungsgericht hat somit den Begriff der Hilflosigkeit verkannt und damit § 35 BVG verletzt. Sein Urteil war deshalb aufzuheben.
Der Senat konnte in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG), da die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, soweit sie mit der Revision nicht angegriffen und daher für das BSG bindend sind (§ 163 SGG), für die Entscheidung über den Anspruch des Klägers ausreichten. Nach diesen Feststellungen bedarf der Kläger nur zum vollständigen An- und Auskleiden sowie bei der Teilnahme am Straßenverkehr fremder Hilfe. Dagegen kann er ohne fremde Hilfe essen und trinken, und er kann sich - wenn auch mühsam - fortbewegen. Er bedarf somit zu diesen lebensnotwendigen, in täglichen Lebensablauf wiederholt vorzunehmenden Handlungen nicht dauernder Hilfe. Dahingestellt bleiben kann, ob - wie der Beklagte rügt - die Feststellung des Berufungsgerichts über die Teilnahme des Klägers am Straßenverkehr verfahrensrechtlich nicht einwandfrei getroffen worden ist, denn eine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG ist selbst dann beim Kläger nicht vorhanden, wenn für ihn eine Hilfe im Straßenverkehr erforderlich ist. Nach allem bedarf der Kläger nicht dauernd und in erheblichem Umfange fremder Hilfe, sondern nur zeitweilig. Der durch die Schädigung bedingte Leidenszustand des Klägers macht es weder erforderlich, daß die Hilfe fortwährend geleistet wird, noch daß eine Hilfskraft jederzeit bereit sein muß. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage sind somit bei dem Kläger nicht erfüllt. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war deshalb die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen